Zu viele Klicks und Abstürze nerven

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Dr. Dirk Heinrich ist niedergelassener HNO-Arzt und ein standespolitischer Tausendsassa. Pech und Pannen im digitalen Transformationsprozess kennt er aus Diskussionen nicht nur als Vorstandsvorsitzender des Virchowbundes. Die Digitalisierung hat das Potenzial, die Medizin und die medizinische Versorgung zu revolutionieren. Doch Ärzte spielen kaum eine gestaltende Rolle in dem Prozess. Wo hakt es?

Univadis: Was müssen Praxisinhaber bei der digitalen Transformation beachten?

Heinrich: Die Ärzteschaft muss die digitale Transformation im Gesundheitswesen proaktiv steuern und sich den Ansprüchen der Patienten stellen. Digitale Technologien müssen aber auch Nutzen für Ärzte und Patienten bringen. Das gilt unter Wahrung der ärztlichen Sorgfalts- und Schweigepflicht. Bei der Entwicklung neuer Technologien sollte auch die ärztliche Perspektive einfließen. Wenn die Datenhoheit beim Patienten liegt, muss es eine rechtliche Absicherung für Ärzte bei unvollständigen Daten geben. Jede Anwendung, die Daten erzeugt oder verarbeitet, muss höchste Ansprüche an Datenschutz, Vertraulichkeit und Schweigepflicht erfüllen.

Univadis: Vertragsärzte kämpfen mit den Vorgaben der gematik. Sie beklagen häufig, dass ihnen etwas übergestülpt wird. Fehlt es an Input von Ärzten, werden sie nicht ausreichend gehört?

Heinrich: Es wäre sinnvoll und wünschenswert gewesen, wenn Politik und Selbstverwaltung gerade in Pandemie-Zeiten angesichts der Mehrbelastungen der Praxen das strikte TI-Zeit- und Sanktions-Regime gelockert hätten. Der neue Gesundheitsminister nimmt aktuell ein wenig Druck heraus, aber sein Vorgänger hat viele Baustellen hinterlassen. Besonders ärgert mich, dass ein dreistelliger Millionenbetrag für einen neuerlichen Austausch der Konnektoren hinausgeworfen wird, aber dass für einen Corona-Bonus an unsere MFA dann kein Geld da sein soll. Ich würde mir wünschen, dass Ärzte künftig stärker in die laufende Entwicklung einbezogen werden und nicht erst dann, wenn eine Anwendung bereits fertig ist. Tests müssen viel früher starten, zu einem Zeitpunkt, an dem noch Spielraum besteht, das Projekt noch einmal umzukrempeln, wenn es sich als praxisuntauglich erweist. Die praktische Erfahrung aus dem Anwendungsalltag muss ganz unmittelbar in die Entwicklung einfließen.

Ich fände auch eine Aufwandsentschädigung für Testpraxen angebracht. Dass nur wenige Praxen die Zeit und Lust haben, solche aufwändigen Tests zu unterstützen, zeigt ja das Beispiel E-Rezept. Wenn es im aktuellen Tempo weitergeht, werden bis Spätsommer tatsächlich 30.000 E-Rezepte ausgestellt worden sein, aber leider von einer sehr kleinen Zahl an Praxen. Man sollte sich zumindest bemühen, die gängigen PVS-Systeme abzubilden, genauso wie Praxen unterschiedlicher Größen, Praxisnetze, BAGs und MVZ, und möglichst viele Fachrichtungen. Eben ein repräsentativer Querschnitt.

Univadis: Die Usability spielt bei allen Anwendern eine große Rolle und sie ist kaufentscheidend. Wie sieht dies im Praxisalltag aus?

Heinrich: Natürlich kann man die Praxisverwaltungssoftware oder das Tool für die Online-Terminvergabe im Vorfeld testen, um ein Gefühl für die Benutzerführung und die Oberfläche zu erhalten. Aber je komplexer so ein Programm ist, desto weniger aussagekräftig sind diese Testversionen. Was das PVS leistet und wo es scheitert, das merke ich erst unter Volllast im Praxisalltag, wenn z. B. ein Update plötzlich zu Abstürzen führt, wenn eine Schnittstelle nicht funktioniert, wenn ich für eine Aufgabe zu viele Klicks benötige oder Hinweise auf dem Bildschirm nicht übersichtlich dargestellt werden. Ob man dann, während man in der Praxis ohnehin alle Hände voll zu tun hat, noch einmal das gesamte System tauschen möchte, wage ich zu bezweifeln. Und das betrifft nur die Anwendungen, bei denen Praxisinhaber eine Wahl haben. Beim Konnektor, bei der TI und den damit verbundenen Anwendungen existiert diese Wahl kaum oder gar nicht. Systematisches Versagen führt dort – zumindest derzeit – nicht zu deutlichen Konsequenzen.

Univadis: Die fachlichen Voraussetzungen für den Umgang mit der Digitalisierung sind sehr anspruchsvoll und weitgefächert: Sie umfassen nicht nur das Handling von Videosprechstunden, das Ausstellen von E-Rezepten oder das Nutzen von Daten aus Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA). Wie gut sind Ärzte darauf vorbereitet? 

Heinrich: Auf der einen Seite zählt die Ärzteschaft unbestreitbar zu den Technik-affinen Berufsgruppen. Wo wäre die Medizin, wenn Ärztinnen und Ärzte nicht seit Jahrhunderten technische Neuerungen entwickeln und vorantreiben würden?

Allerdings war der technische Fortschritt und damit auch der Druck, sich anzupassen, noch nie so immens wie heute. Anforderungen werden immer komplexer. Ich muss nicht nur Systeme bedienen können, ich brauche auch Wissen zu Hardware, Netzwerken, rechtlichen Fragen und vielem mehr.

Mein Eindruck ist: Es gibt einige wenige wirkliche Enthusiasten, die ihre Praxis von Grund auf neu organisieren. Die breite Masse steht der Digitalisierung grundsätzlich positiv, aber eher abwartend gegenüber. Wir sehen das in unseren Webinaren zum Thema Cybercrime. Immer noch glauben viele Kolleginnen und Kollegen, ein IT-Angriff könne sie nicht treffen, ihre Praxis sei ja klein und uninteressant. Das ist eine absolute Fehlannahme. Hier sind wir als Verband gefordert, immer und immer wieder zu informieren und aufzuklären.

Univadis: Brauchen wir eine Zusatzweiterbildung Digitale Medizin, wie sie von Internisten angeregt wird?

Heinrich: Es wäre auf jeden Fall sinnvoll, wenn Digital Health in den Lehrplänen des Medizinstudiums verankert würde. Dort sollte z. B. über die Nutzung von Gesundheitsdaten in Forschung und Praxis gesprochen werden, und darüber, wie man Daten verknüpft und auswertet. Besonders, wenn der angedachte europäische Gesundheitsdatenraum kommt. Eine Zusatzweiterbildung in Digitaler Medizin ist aus meiner Sicht vorerst nicht mehr als ein Gedankenexperiment. Ob sie gebraucht wird und was darin vermittelt werden soll, das muss sich erst noch zeigen.

Univadis: Wie beurteilen Sie das Handling von ePA und E-Rezept in der Arztpraxis? Was muss besser werden?

Heinrich: Das E-Rezept und die ePA kranken an ähnlicher Stelle. Viele Patienten haben schlicht nicht die technischen Möglichkeiten oder das nötige Anwender-Wissen. Erste Anlaufstelle für Fragen sind dann natürlich MFA und Ärzte. Diese Beratung können wir aber schon rein zeitlich gar nicht leisten. Eine aktuelle Umfrage hat gezeigt, dass neun von zehn Praxen, die E-Rezepte ausstellen, dabei auf Probleme stoßen.

Univadis: Welche sind das?

Heinrich: Entweder hapert es beim Versand, oder es gibt Probleme beim Einlösen in der Apotheke, oder der Prozess ist umständlich und zeitaufwändig. Wozu soll ich mir die Mühe machen, einen Prozess, der bislang schnell und reibungslos verlief, durch etwas Langsameres, Störungsanfälliges zu ersetzen?

Noch ein Punkt zur ePA: Die ePA schafft für Patienten mehr Transparenz. Das ist gut und wichtig. Sie ersetzt aber keine dringend notwendige elektronische Fallakte. Nur eine eFallakte kann eine lückenlose Dokumentation sicherstellen, auf die alle beteiligten Ärzte sich auch verlassen können. Eine ePA, in der Patienten Daten verändern, ausblenden und löschen können, erfüllt diesen Zweck nicht.

Was mich ärgert ist, dass ich als Arzt diese Akte nicht nur fortlaufend, sondern auch rückwirkend und vollumfänglich füllen soll, obwohl das keinen primären Nutzen für das vertragsärztliche Behandlungsgeschehen bringt. Kein Nutzen aber viel Aufwand beim Pflegen – dagegen wehren wir uns. Die ePA zu befüllen ist Aufgabe der Kassen.