WONCA 2023 - Umgang mit einem aggressiven oder gewalttätigen Patienten

  • Daniela Ovadia
  • Konferenzberichte
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Wie man sich vor aggressiven Patienten schützen kann, ist kürzlich auf der Tagung der Weltorganisation der Hausärzte (The World Organization of Family Doctors, WONCA) in Brüssel in einem Workshop erläutert worden.

 

„Statistiken besagen, dass das Gesundheitspersonal einem hohen Gewaltrisiko ausgesetzt ist. Je nach Umfrage erleben zwischen 8 und 38 % der Befragten während ihrer beruflichen Laufbahn körperliche Gewalt. Viele weitere werden von Patienten oder deren Angehörigen verbal bedroht“, erklärt Rocio Garcia-Gutierrez Gómez, Notärztin am Universitätskrankenhaus Severo Ochoa in Leganés in Madrid. „Eine Umfrage unter 247 Befragten hat außerdem ergeben, dass sowohl Ärztinnen als auch Ärzte Körperkontakt und verbale Einschüchterung als Formen der Aggression ansehen und dass die Mehrheit der Befragten schon einmal verbal angegriffen wurde.“

„Der aggressive Patient ist", wie Elena Klusova Noguinà, Notärztin am Policlinico de Rosario (Ibiza) erklärt hat, "im Allgemeinen mit etwas unzufrieden, zum Beispiel damit, dass er warten muss oder mit dem Ergebnis einer Behandlung. Auch können Patienten, die täglich in die Praxis kommen, aggressiv werden, wenn sie das Gefühl haben, der Arzt habe das Interesse an ihnen verloren. Außerdem gibt es noch impulsive und hysterisch veranlagte Patienten, manchmal aus kulturellen Gründen. Schließlich können Patienten mit problematischen sozialen Beziehungen oder familiären Konflikten jemanden belästigen“.

In der Arzt-Patienten-Beziehung, wie in jeder anderen Beziehung auch, spielen beide Parteien eine Rolle bei der Gestaltung der Beziehungsdynamik. Der schwierige Patient kann intrinsische Eigenschaften haben, die ihn zu solchem Verhalten neigen lassen, aber auch die Persönlichkeit des Arztes spielt eine Rolle. „Ärztinnen und Ärzte müssen sich ihrer eigenen Präferenzen bewusst sein, aber auch über mögliche Situationen, die ihre Fähigkeit des Zuhörens einschränken können, z. B. Burnout oder familiäre Probleme“, so Klusova Noguinà weiter. „Darüber hinaus kann eine Reihe von logistischen Faktoren aggressives Verhalten hervorrufen, wie z. B. schlecht organisierte Einrichtungen, lange Wartezeiten ohne erkennbare Ordnung, häufige Unterbrechungen des Besuchs oder eine übermäßige Konzentration auf den Papierkram statt auf die Beziehung und Interaktion mit dem Patienten.“ 

Empathischer Umgang und Selbstschutz 

Wenn ein Patient beginnt, aggressiv zu werden, können Ärztinnen und Ärzte versuchen, einen empathischen Umgang zu pflegen. Dazu gehört, dass man trotz seiner inneren Reaktionen äußerlich einen emotional neutralen Ton beibehält, den Bedürfnissen des Patienten sofort und mitfühlend zuhört, andere Aufgaben zurückstellt und die Quelle der Verärgerung identifiziert. Es ist wichtig, dass sich der Arzt über das Ziel der Interaktion mit dem aggressiven Patienten im Klaren ist. „Bei jeder Verhandlung (und das Aggressionsmanagement ist gehört dazu) hängt der Erfolg von einer klaren Definition der Ziele ab“, so der Experte weiter. 

Diese nützlichen Empfehlungen können dazu beitragen, den frustrierten Patienten zu beschwichtigen, für den Sie vielleicht Mitgefühl zeigen können (vielleicht weil Sie einen triftigen Grund für dessen Ärgernis erkennen). Es gibt aber auch einschüchternde Patienten, für die kein Gefühl der Empathie aufkommt.“ In diesem Fall müssen sofort Grenzen gesetzt werden: Sie müssen ihnen sagen, dass Sie ihnen nicht zuhören werden und dass die Situation inakzeptabel ist. Sie sollten dann weggehen und den Patienten auffordern, wiederzukommen, wenn er sich beruhigt hat“, erklärt Klusova Noguinà. 

Es gibt drei Reaktionen, die unbedingt vermieden werden sollten: Relativierung oder Verharmlosung des Problems des Patienten („Sie sind nicht der Einzige, es ist kein so dringendes Problem“); Ignorieren der Gefühle des Patienten („Entschuldigen Sie, aber ich habe viel zu tun“); oder Zurechtweisen des Patienten wegen der negativen Gefühle, die er beim Arzt weckt („Hören Sie auf, Sie belästigen mich“). „Es geht um einen einfühlsamen Umgang mit der eigenen Sicherheit, der auf aktivem Zuhören, dem Erklären der eigenen Position und Zeit für den Patienten beruht: Oftmals verschwindet der Ärger von selbst, wenn man dem Patienten die Möglichkeit gibt, Dampf abzulassen.“ 

Warnzeichen

Einfühlungsvermögen zu zeigen bedeutet nicht, Alarmsignale zu unterschätzen, was viel von der Fähigkeit abhängt, Körpersprache interpretieren zu können. Der Workshop konzentrierte sich auf die Entschlüsselung der primären Emotionen und lehrte die Ärzte, die Lippen, die Stirn und die Augen von Patienten genau zu betrachten, die Abscheu, Wut oder Traurigkeit ausdrücken – die drei Emotionen, die zu Aggression führen können. Es ist eine einfache Übung, die man auch an sich selbst vor einem Spiegel durchführen kann, um zu beobachten, welche Elemente des Gesichts sich in welcher Weise verändern, wenn eine dieser Emotionen simuliert wird. 

Die Körpersprache kann weitere wichtige Warnzeichen verraten. Geballte Fäuste, rhythmische oder kontinuierliche Bewegungen, Verringerung der zwischenmenschlichen Distanz, Zähneknirschen und plötzliche Veränderungen der Körperhaltung sollten den Arzt dazu veranlassen, sich in einen sicheren Bereich zu begeben, in dem sich andere Menschen befinden, oder auf andere Weise Hilfe zu rufen.

Auch die Körpersprache des Arztes ist wichtig: Ärzte sollten auf ihre Körperhaltung und Mimik achten. „Ohne es zu merken, kann unser Gesicht Angst oder Abscheu ausdrücken und eine aggressive Reaktion hervorrufen.“ Wenn der Patient dem Arzt zu nahe kommt, sollte man als erstes den Arm ausstrecken, um die Mindestdistanz anzuzeigen, die einzuhalten ist, und dabei in einem ernsten, aber versöhnlichen Ton sprechen.

Wenn jedoch körperliche Aggression einsetzt, muss man daran denken, sich zu schützen. In dem Workshop erklärten spanische Notärzte, dass Wangenknochen, Schläfen und Halsschlagadern die Schwachstellen sind, die bei einem Treffer zur Bewusstlosigkeit führen können. Bei einem Patienten, der seine Hände aggressiv anhebt, sollte man beide Arme mit geschlossenen Fäusten auf Gesichtshöhe bringen und Gesicht und Hals mit den Unterarmen schützen.

„Ein letzter wichtiger Tipp betrifft die Anordnung der Einrichtung in der Praxis“, so Klusova Noguinà abschließend. „Der Schreibtisch des Arztes sollte so angeordnet sein, dass ein schneller Zugang zur Ausgangstür gewährleistet ist. Allzu oft wird der Schreibtisch aus ästhetischen Gründen von der Tür entfernt aufgestellt, sodass ein aggressiver Patient den Fluchtweg versperren kann.“ 

Pharmakologische Ruhigstellung 

Abschließend erinnerten spanische Frauen, die in der Notfallversorgung tätig sind, an die Bedeutung der pharmakologischen Ruhigstellung mit Hilfe eines Nasenzerstäubers, einem Instrument, das in der Allgemeinmedizin nicht immer zur Verfügung steht und mit dem Midazolam (0,1-0,2 mg/kg), Ketamin (1 mg/kg) und Haloperidol (2,5 mg) verabreicht werden können. Allerdings gilt dabei, dass die pharmakologische Ruhigstellung erst erfolgen kann, nachdem der aggressive Patient physisch ruhig gestellt wurde; die Dosis beträgt 1 ml Lösung in jedes Nasenloch.

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf  Univadis Italy.

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