Wissenschaftler widersprechen vielen Klischees auf dem Gebiet der Mikrobiomik

  • Michael Simm
  • Studien – kurz & knapp
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Kernbotschaften

Zahlreiche Behauptungen und Klischees auf dem Gebiet der Mikrobiomik halten einer näheren Überprüfung nicht stand. Überschätzt werden einem Übersichtsartikel zufolge sowohl die absolute Zahl der menschlichen „Mitbewohner“ als auch deren Anteil an der Gesamtzahl der Zellen und der Einfluss auf die Entstehung und den Verlauf von Krankheiten.

Hintergrund / Design

Die systematische Erforschung jener Organismen, die den menschlichen Körper besiedeln (Mikrobiom) hat in den letzten Jahren einen großen Aufschwung genommen und auch zu starkem Interesse in der Öffentlichkeit sowie bei vielen Heilberuflern geführt. Befragt man beispielsweise den Chat-Bot „OpenAI“, so spielt das Mikrobiom eine „entscheidende Rolle für die Gesundheit“, „hilft, das Immunsystem zu trainieren und zu regulieren“, „trägt zur Verhinderung von Infektionen und Krankheiten bei“, und „kann durch eine ausgewogene Ernährung, Probiotika und einen gesunden Lebensstil gefördert werden“. Alan W. Walker von der University of Aberdeen und Lesley Hoyles von der Nottingham Trent University, die zu diesem Thema zusammen mehr als hundert Publikationen in begutachteten Fachjournalen veröffentlicht haben, sahen sich nun genötigt, Mythen und Missverständnisse in einem Übersichtsartikel aufzulisten und zu korrigieren.

Ergebnisse

· Die Erforschung des Mikrobioms ist nicht neu, und das Gebiet steckt auch nicht in den Kinderschuhen. Die Forscher sehen zwar eine erhebliche Beschleunigung in den letzten 15 Jahren, verweisen aber darauf, dass das Darmbakterium E. coli bereits 1885 isoliert und Milchsäurebakterien 1899 beschrieben wurden. Konzepte wie die „Darm-Hirn-Achse“ würden seit hunderten von Jahren diskutiert, und die Bedeutung von Mikrobiom-assoziierten Stoffwechselprodukten seit mehr als 40 Jahren.

· Die Behauptung, menschliche Faeces enthielten 1012 Bakterienzellen / Gramm ist nicht korrekt. Mit direkten Zellzählungen, Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung, Durchflusszytometrie und quantitativer Polymerase-Kettenreaktion wurden vielmehr typischerweise zwischen 1010 und 1011 Zellen gezählt.

· Für die häufig in der Literatur wiederholte Behauptung, das menschliche Mikrobiom wiege zwischen 1 und 2 Kilogramm, fanden die Forscher keine Originalquelle. „Außer vielleicht bei einigen wenigen Individuen mit extremer Verstopfung ist das Gesamtgewicht sehr wahrscheinlich weniger als 500 Gramm“.

· Selbstkritisch räumen die Autoren ein, auch schon den Mythos verbreitet zu haben, das Verhältnis von fremden zu menschlichen Zellen im Körper sei 10:1. Die Zahl entstammt einer groben Überschlagsrechnung („Back of the envelope“) aus den 1970er Jahren, tatsächlich liegt das Verhältnis aber eher bei 1:1.

· Zwar werden einige Mikroorganismen direkt bei der Geburt von der Mutter auf das Baby übertragen, eine Vererbung im engeren Sinne findet aber nicht statt, sondern das Mikrobiom diversifiziert sich vorwiegend in den ersten Lebensjahren unter dem Einfluss von Ernährung, Genetik, Medikamenten und verschiedenen Umwelteinflüssen.

· Dass die meisten Krankheiten durch ein „Pathobiom“ charakterisiert seien, halten die Autoren für extrem vereinfachend und möglicherweise schädlich. Zwar könne eine „Dysbiose“ durchaus in einigen Fällen zur Krankheitsprogression beitragen, diese Abläufe seien aber individuell sehr verschieden. Als Beispiel nennen sie die aus Ratten-Studien abgeleitete „Erkenntnis“, dass bei Übergewicht das Verhältnis zwischen den Bakteriengattungen Firmicutes und Bacteroidetes verändert sei. Dabei hätten mittlerweile mindestens 3 Meta-Analysen beim Menschen keine reproduzierbaren Unterschiede bei mikrobiellen taxonomischen Signaturen Übergewichtiger Menschen gefunden.

Klinische Bedeutung / Kommentar

Auf vielen Gebieten wird die öffentliche Meinung durch Übertreibungen, Vereinfachungen und Halbwissen massiv beeinflusst. Alan W. Walker von der University of Aberdeen und Lesley Hoyles von der Nottingham Trent University belegen in ihrem Übersichtsartikel, dass dies auch für scheinbar wissenschaftliche Sachverhalte gilt, und dass auch Wissenschaftler bzw. Mediziner dafür anfällig sind, falsche und unbewiesene Darstellungen zu übernehmen und zu verbreiten. Dabei bekennen sie, selbst schon auf den „10:1-Mythos“ hereingefallen zu sein, und diesen weiterbreitet zu haben. Das kritische Denken – so lernen wir – beginnt bei sich selbst. Es zu fördern sollte im Interesse aller Beteiligten sein: Der Fachjournale sowie der Wissenschaftler und ihrer Institutionen, die sich um ihre Glaubwürdigkeit sorgen. Der Geldgeber und Investoren, die Fortschritte und Renditen erwarten. Und nicht zuletzt einer Politik, die sich in zunehmendem Maße durch die Berufung auf „die Wissenschaft“ zu legitimieren versucht.

Finanzierung: Keine.