Was (Es-)ketamin und Psilocybin bei schwerer Depression können und was nicht

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Konferenzberichte by Medscape
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Von Bettina Micka

Neuere Studien mit Halluzinogenen haben die Hoffnung auf eine effektive medikamentöse Therapie chronischer Depressionen geweckt. Auf dem Deutschen Kongress für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie stellte Prof. Dr. Torsten Passie den aktuellen Stand der Forschung zu Psilocybin und Ketamin/Esketamin vor [1]. Der außerplanmäßige Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover und leitende Arzt der Fachstelle für Sucht und Suchtprävention der Diakonie Hannover beschäftigt sich schon seit Jahrzehnten mit halluzinogenen Substanzen und ihrer Verwendung in der Psychotherapie.

Neue Therapien dringend gesucht

Nicht nur die Stimmung depressiver Menschen ist düster. Auch die Situation in der Therapie chronischer Depressionen bot lange wenig Anlass zur Euphorie: Etablierte medikamentöse Therapien schneiden in Metaanalysen kaum besser ab als Placebo, wie erst kürzlich eine Studie wieder bestätigte. Die Pharmaindustrie winkte bereits ab und ist schon seit mehr als 10 Jahren aus der Psychopharmaka-Entwicklung ausgestiegen. Hinzu kommen steigende Fallzahlen, insbesondere bei jungen Menschen, und lange Wartezeiten auf Psychotherapieplätze. So verwundert es nicht, dass neue medikamentöse Ansätze mit LSD-artigen Halluzinogenen teils enthusiastisch begrüßt werden. 2016 schaffte es eine Studie zu Psilocybin – obwohl unverblindet und mit nur 24 Patienten – sogar in "Lancet Psychiatry".

Halluzinogene: Gefühlsevokation statt Gefühlsdämpfung

Zu den Halluzinogenen zählen Substanzen wie Psilocybin, Meskalin, LSD, MDMA (Ecstasy) und Ketamin.

Unter Halluzinogenen kommt es zu einer:

  • Serotonin- und Dopamin-Aktivierung,
  • Erhöhung des Erregungsniveaus im Gehirn,
  • Verstellung der Reizfilterung,
  • Erhöhung der inneren Reizproduktion (innere Erlebnisse),
  • Änderung der sensorischen Integration (z.B. Synästhesien).

Außer der traumartigen Versunkenheit ist eine Bewusstseinserweiterung oder auch Verengung möglich, wenn sich die Patienten auf ein inneres Erleben fokussieren. Die Innenwahrnehmung verstärkt sich. Wahrnehmungsroutinen werden aufgebrochen. Das Denken geschieht eher in Bildern und ist assoziativer – außerhalb des normalen Rahmens. Dadurch sind die Patienten eher in der Lage, neue und ungewohnte Verbindungen zwischen verschiedenen biografischen und/oder aktuellen Situationen herzustellen. Zuvor unbewusste Inhalte können bewusst werden. Bei höheren Dosierungen kommt es zu einer Art Ich-Auflösung, verbunden mit einem mystischen Verbundenheitserleben.

Halluzinogene führen primär dazu, dass Gefühle aktiviert und stärker ausgedrückt werden, sei es in inneren Visionen oder im Ausdruck (Weinen, Lachen u.a.). Herkömmliche Antidepressiva bewirken dagegen eher eine Gefühlsunterdrückung (emotional blunting).

Diese unterschiedlichen Mechanismen resultieren in zwei gegensätzlichen Bewältigungsstrategien. So empfindet beispielsweise ein Patient durch SSRI-Antidepressiva (selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) das Mobbing auf der Arbeit als weniger schlimm und ändert eher nichts an der Situation, bleibt also passiv. Eine therapeutisch moderierte gefühlsaktivierende Erfahrung unter Halluzinogenen könnte dagegen viel eher dazu führen, dass der Patient aktiv eine Veränderung der belastenden Situation anstrebt.

Ketamin nimmt allerdings unter den Halluzinogenen eine Sonderposition ein. Anders als andere Halluzinogene verursacht es etwa eine starke Bewusstseinstrübung, eine Verminderung der sensorischen Wahrnehmung des Körpererlebens und erhebliche Denk- und Gedächtnisstörungen. Es eignet sich daher nur für eine kurzfristige Intervention, ist aber langfristig therapeutisch unbrauchbar.

Was Ketamin kann – und was nicht

Ketamin, ein Racemat aus den Enantiomeren S- und R-Ketamin, war ursprünglich ein Schmerz- und Narkosemittel. Aufgrund seiner raschen antidepressiven Wirkung wird es mittlerweile auch als eine Art Notfall-Medikament bei schweren Depressionen, und wird manchmal zusammen mit SSRI oder SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) eingesetzt.

Etwa 60% der Patienten sprechen auf die Behandlung an. Während bei herkömmlichen Antidepressiva die Wirkung zumeist 10 bis 14 Tage auf sich warten lässt, setzt sie bei Ketamin innerhalb weniger Stunden ein. Doch der Rückfall kommt immer – und in der Regel recht rasch: Nach 2 bis 3 Tagen nähert sich in der Regel die Wirkung der eines Placebos an. Daher ist ein Abstand von etwa zwei Tagen für die Verabreichung optimal. Nach einiger Zeit treten allerdings nicht selten "Resistenzen" gegenüber der Wirkung auf, d.h. die antidepressive Wirkung verliert sich.

Ketamin hat zudem einige unangenehme Nebenwirkungen wie etwa Depersonalisation, Dissoziation, Denkstörungen, Nystagmus und psychotomimetische Wirkungen. Auch Übelkeit und Erbrechen treten auf. Interessanterweise mache Letzteres durch die psychischen Effekte bedingt den Patienten nicht viel aus und habe nicht zu Behandlungsabbrüchen geführt, berichtete Passie aus klinischen Erfahrungen mit Ketamin. Da eine deutliche Bewusstseinstrübung, sensorische Störungen und erhebliche Gedächtnisstörungen aufträten, eigne sich Ketamin im Unterscheid zu LSD oder Psilocybin nicht zur Flankierung einer Psychotherapie, betonte Passie.

Ketamin 2.0: Ist Esketamin wirklich ein „Upgrade“?

Seit 2019 ist das reine S-Enantiomer von Ketamin, Esketamin, in Form eines Nasensprays (Spravato®) auf dem Markt. Esketamin ist in Kombination mit einer oralen antidepressiven Therapie bei Erwachsenen mit einer mittelgradigen bis schweren Episode einer Major Depression zur Akutbehandlung eines psychiatrischen Notfalls zugelassen. Doch welchen Nutzen bringt der „Neuzugang“?

Eine Metaanalyse aus dem letzten Jahr kommt zu dem Schluss, dass das ursprüngliche razemische Ketamin dem neuen Esketamin bei der Reduktion depressiver Symptome überlegen ist.

Passie kam in einer umfangreichen eigenen Studie zu dem Schluss, dass sich die psychischen Beeinträchtigungen während der Therapie mit den Substanzen nicht signifikant unterschieden. Die Patienten empfänden die Nebenwirkungen der Therapie mit Esketamin sogar als psychisch deutlich unangenehmer, berichtete Passie. Er schließt daraus, dass das R-Enantiomer eine Art Schutzwirkung gegen einige der psychopathologischen Effekte des S-Enantiomers (Esketamin) haben könnte. Zudem liefern präklinische Studien Hinweise darauf, dass das (in Esketamin nicht enthaltene) R-Enantiomer eine länger anhaltende und stärkere antidepressive Wirkung hat.

Ein anderes Problem ist die Resorption. Die ist bei einem Nasenspray naturgemäß recht uneinheitlich – abhängig etwa davon, ob der Patient gerade einen Schnupfen hat oder wie hoch die Luftfeuchtigkeit ist. Zudem sei das Spray weitaus teurer als die Ketamin-Injektion, erläuterte der Psychiater. Und die Patienten müssen das Nasenspray (wie bei der intravenösen Anwendung) unter Aufsicht in einer Arztpraxis nehmen und dort nachbetreut werden. Hier ergibt sich also kein Vorteil gegenüber einer Ketamin-Injektion.

Laut Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) ist bei Erwachsenen mit einer mittelgradigen bis schweren depressiven Episode als akute Kurzzeitbehandlung zur schnellen Reduktion depressiver Symptome in einem psychiatrischen Notfall ein Zusatznutzen von Esketamin gegenüber Standardtherapien nicht belegt. Die Bundesärztekammer hat sich im Oktober 2021 dieser Bewertung angeschlossen. In Großbritannien wurde das Medikament gar nicht erst zugelassen. Begründung: zu teuer und keine Vergleichsstudien zur Psychotherapie.

Psilocybin als Add-on zur Psychotherapie?

Während sich Ketamin wegen der kurzen Wirkdauer in der Regel nur als Akut-Intervention eignet, hält die Wirkung nach Psilocybingabe – zumindest bei einigen, nicht wenigen Patienten – Wochen bis Monate an. Die Erlebnisse unter Psilocybin-Einfluss können zudem in einer Psychotherapie nachbereitet und genutzt werden. Die akute Wirkung von Psilocybin tritt nach etwa 40 Minuten ein und hält für etwa 4 bis 6 Stunden an. Der antidepressive Effekt setzt – wenn er zustande kommt – unmittelbar nach der Therapie ein. Anders als Ketamin/Esketamin hat Psilocybin kaum körperliche Nebenwirkungen.

Seit kurzem ist aus fMRT- und PET-Untersuchungen einiges zum neurologischen Wirkmechanismus bekannt. Demnach führt die Substanz dazu, dass sich einzelne Aktivitätsnetzwerke im Gehirn von Patienten wieder stärker untereinander verbinden, wie Passie erläutert. Auch sind der Thalamus, die Filterstation für die Sinnesinformationen sowie limbische und paralimbische Strukturen, welche Gefühle generieren, aber auch der Kortex stärker aktiviert.

Zwei Settings der Psilocybin-Therapie

Psilocybin wird – derzeit im Rahmen von Studien – in zwei verschiedenen Settings eingesetzt – der psycholytischen und der psychedelischen Therapie. Beide stammen schon aus den 1950er-Jahren und wurden auch mit LSD als Wirksubstanz angewendet.

Psycholytische Therapie:

Psychedelische Therapie:

Auf Euphorie folgte Ernüchterung

Ersten vielversprechenden Studien mit wenigen Patienten mit Depressionen folgten weitere, die die Euphorie wieder etwas abklingen ließen. Im ersten Direktvergleich war Psilocybin in einer methodisch hochwertigen Doppelblindstudie dem SSRI-Antidepressivum Escitalopram nicht überlegen. „Es gibt sehr starke individuelle Unterschiede beim Ansprechen“, erläuterte Passie. Zudem konstatierte er: „Je methodisch besser kontrolliert die Studien sind, desto schlechter sind die Resultate.“ Passie weiter: „Da die Methode bis zu 50-mal teuer in der Anwendung ist – im Vergleich zur Therapie mit einem SSRI über 6 bis 12 Wochen – muss man sich natürlich fragen, ob sie wirklich eine große Zukunft hat.“

Perspektiven für die Psilocybin-Therapie

Dennoch sieht der Halluzinogen-Experte noch Potenzial in Psilocybin. Er hält eine stärker in eine Psychotherapie eingebettete Psilocybin-Therapie für erfolgversprechender – mit etwa 4 bis 10 Therapiesitzungen jeweils vor und nach Verabreichung einer niedrigeren therapeutischen Dosis der Substanz. „Mit einer solchen intensiven Vor- und Nachbereitung sowie den wiederholten Psilocybin-Sitzungen kann der Patient erheblich mehr profitieren als dies bei 1 oder 2 hochdosierten Sitzungen möglich ist“, so Passie, der auch Vorsitzender der International Society for Substance-Assisted Psychotherapy (ISSP) ist. „Die stete ‚Kleinarbeit am Ich‘, wie sie für durchgreifende therapeutische Veränderungen erforderlich ist, kann eher greifen und zu dauerhaften Besserungen führen. Das steht für mich außer Frage.“

Optimal wäre nach Ansicht von Passie ein gediegenes stationäres Setting, wo eine längere Nachbetreuung und konsequente Nachbearbeitung, auch in Gruppentherapien, möglich ist. Entscheidend für die Formen einer zukünftigen Psilocybin-Therapie sei die Frage: „Ist die bei der hochdosierten psychedelischen Therapie recht abrupte Veränderung von Dauer oder nicht?“ Die Beantwortung dieser Frage werde für die Art und Weise der zukünftigen klinischen Anwendung entscheidend sein.

Angesichts der aktuellen weniger positiven Ergebnisse ziehen sich jedoch erste Investoren bereits zurück. Passie ist deshalb etwas skeptisch, ob die nötigen größeren Studien überhaupt noch stattfinden können und Psilocybin am Ende auf den Markt kommen wird. In der Schweiz, die nicht den in der EU geltenden Einschränkungen unterliegt, gibt es allerdings bereits mehr als 30 Ärzte, die eine Bewilligung haben, Psilocybin, LSD und MDMA in Psychotherapien anzuwenden. Doch das sei in verschiedener Hinsicht ein Sonderfall, der sich kaum auf andere Länder übertragen lasse, so Passie.

Lässt sich Psilocybin noch verbessern?

Inzwischen wird an verschiedenen chemischen Abkömmlingen psychoaktiver Substanzen geforscht, so auch an eine Psilocybin-Variante mit der Bezeichnung CYB003. Die akute psychedelische Erfahrung soll sich mit CYB003 von etwa 6 Stunden (bei Psilocybin) auf eine Stunde verkürzen. Auch die Plasma-Konzentration der Substanz soll zwischen verschiedenen Probanden weniger variabel sein. Daher wird vermutet, dass sich auch die Wirkung weniger stark interpersonell unterscheidet. 

Im Juli dieses Jahres soll eine Studie mit CYB003 zur Therapie einer Major Depression anlaufen. In der randomisierten, doppelblinden, Placebo-kontrollierten Studie mit 40 Probanden sollen mehrfach Dosen der Substanz verabreichtwerden. Passie zeigte sich auf Nachfrage von Medscape skeptisch. Er sieht in Ansätzen mit Psilocybin-Abkömmlingen eher die Folgen einer „Goldgräberstimmung“ und erwartet keinen wirklichen Zusatznutzen, insbesondere nicht von einer Verkürzung der Wirkzeiten.

 

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Medscape.de.