Warnung vor „Mental-Health-Pandemie“ bei Kindern und Jugendlichen
- Dr. med.Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Kernbotschaften
Kinder und Jugendliche in Deutschland sind durch anhaltende Krisen weiter stark psychisch belastet. Vor allem Mädchen sind betroffen. So wurden 2022 ein Drittel mehr Teenagerinnen zwischen 15 und 17 Jahren mit einer Angststörung in Kliniken versorgt als im Vor-Corona-Jahr 2019. Das war ein neuer Höchststand. Auch die Behandlungszahlen bei Essstörungen und Depressionen nahmen deutlich zu. Das zeigt eine Sonderanalyse zur stationären Behandlung psychisch Kranker im DAK-Kinder- und Jugendreport.
Für die Sonderanalyse untersuchten Wissenschaftler von Vandage und der Universität Bielefeld Abrechnungsdaten von rund 786.000 Kindern und Jugendlichen bis einschließlich 17 Jahren, die bei der DAK-Gesundheit versichert sind. Analysiert wurden Krankenhausdaten aus den Jahren 2018 bis 2022. Es sei die erste umfassende Analyse von Klinikbehandlungen für das vergangene Jahr, so die DAK-Gesundheit.
„Die massive Zunahme von schweren Ängsten und Depressionen bei Mädchen ist ein stiller Hilfeschrei, der uns wachrütteln muss“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit. Die Politik habe mit übergreifenden Fachtagungen bereits wichtige Impulse gesetzt. Die sogenannten „Mental Health Coaches“ an Schulen seien aber nur ein erster Schritt. Zur Unterstützung besonders belasteter Schulen sollen Mental Health Coaches präventiv um die Stärkung der Resilienz und weiterer Gesundheitsaspekte kümmern. Bei den Mental Health Coaches soll es sich um Fachkräfte (Sozialpädagoginnen/-pädagogen oder vergleichbare pädagogische oder psychologische Ausbildung) handeln, die entsprechend fortgebildet werden.
Zunahme bei psychischen Störungen
2018 bis 2020 lagen die Fallzahlen stationär behandelter Angststörungen auf konstantem Niveau. 2021 und 2022 stiegen die Klinikbehandlungen hingegen deutlich und kontinuierlich an. So wurde 2022 bei jugendlichen Mädchen ein neuer Höchstwert erreicht: Hochgerechnet auf alle Jugendlichen in der Altersgruppe 15 bis 17 kamen 2022 bundesweit rund 6900 Mädchen mit einer Angststörung ins Krankenhaus. Das entspricht einem Anstieg von 35 Prozent im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019. Auch bei Essstörungen und Depressionen nahmen die Krankenhausbehandlungen jugendlicher Mädchen zu: So stieg die Zahl der Klinikaufenthalte 2022 im Vergleich zu 2019 bei Essstörungen um über die Hälfte an, bei Depressionen nahmen die Behandlungszahlen um gut ein Viertel zu.
„Wir befinden uns mitten in einer Mental-Health-Pandemie, deren Auswirkungen erst nach und nach sichtbar werden. Das zeigt sich bereits jetzt besonders im Bereich der Angststörungen und der Essstörungen“, sagt Prof. Dr. med. Christoph U. Correll, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité als Bewertung der neuen DAK-Sonderanalyse.
„Die Pandemiesituation hat nachhaltig negative Auswirkungen auf die Lebenszufriedenheit junger Menschen, die sich in Zukunftsangst manifestiert“, so Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). „Hier wirken jedoch sicherlich Faktoren zusammen. Neben der Pandemie sind dies der Ukrainekrieg sowie die Angst um die wirtschaftliche Zukunft und um unseren Planeten Erde. Das muss der Politik klar sein. Es ist Aufgabe der Politik, junge Menschen durch verantwortliches Handeln wieder zukunftssicherer zu machen.“
Jugendliche Mädchen besonders betroffen
Die DAK-Sonderanalyse zeigt, dass Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren häufiger aufgrund psychischer Erkrankungen in Kliniken sind als Jungen. Drei Beispiele verdeutlichen diesen Gender Gap: Von hochgerechnet bundesweit 8500 Jugendlichen, die mit einer Angststörung stationär behandelt wurden, waren 6900 Mädchen. 4300 Jugendliche kamen mit einer Essstörung ins Krankenhaus, davon waren 4200 weiblich. Von 19.500 Jugendlichen mit einer stationären Behandlung aufgrund von Depressionen waren drei Viertel Mädchen. Bei Schulkindern im Alter zwischen zehn und 14 Jahren zeigt sich ein ähnliches Bild.
„Mädchen neigen eher zu internalisierenden psychischen Störungen als Jungen. Sie ziehen sich beispielsweise mit Depressionen und Ängsten eher in sich zurück. Bei Jungen sind externalisierende Störungen häufiger zu beobachten. Jungen zeigen tendenziell häufiger ein Verhalten, das nach außen gerichtet ist, also zum Beispiel aggressive Verhaltensmuster. Dass dies durch die Pandemiesituation nochmals verstärkt worden ist, ist unbestritten,“ sagt BVKJ-Präsident Fischbach. „Depressionen, Angst- und Essstörungen sind häufig in stationärer Behandlung, während gerade die Verhaltens- und emotionalen Störungen im ambulanten Bereich versorgt werden.“
„Wo sind die Jungen?“ fragt Correll beim Blick auf die Auswertung. „Wir müssen die Analyse der ambulanten Daten abwarten, um zu schauen, ob hier steigende Behandlungszahlen von Jungen zu finden sind und bei welchen Erkrankungen. Es liegt aktuell die Vermutung nahe, dass Jungen eventuell durch das Raster fallen und uns verloren gehen.“
Insgesamt wurden 2022 weniger Kinder und Jugendliche mit psychischen oder Verhaltensstörungen in Kliniken behandelt als vor der Corona-Pandemie. Werden alle sogenannten F-Diagnosen, also Diagnosen, die psychische und Verhaltensstörungen beschreiben, zusammengefasst, ergibt dies 2022 bei Jugendlichen ein Rückgang von 15 Prozent im Vergleich zu 2019. Bei Grundschul- und Schulkindern steht ein Minus von je 23 Prozent.
„Die Begründung für den Rückgang der Behandlungszahlen im Bereich psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ist wahrscheinlich auf die Covid-Pandemie zurückzuführen. Wir hatten in deutschen Kliniken schlicht weniger Kapazitäten zur Verfügung“, sagt Correll. „Während des Pandemie-Verlaufs mussten wir durch Covid-Infektionen Bettenkapazitäten reduzieren und auch mit weniger Personal aufgrund von Krankheitsausfällen agieren. Das führte auch dazu, dass vor allem schwerere Fälle stationär behandelt worden sind. Vor diesem Hintergrund ist der Anstieg von Angststörungen, Essstörungen und Depressionen als noch dramatischer zu bewerten.“
Die Sonderauswertung zeigt bei Klinikbehandlungen von Jugendlichen immer noch ein hohes Niveau im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie. Werden aber die Jahre 2022 und 2021 betrachtet, sind unterschiedliche Trends auffallend: Während die Behandlungen von Angststörungen 2022 im Vergleich zu 2021 insgesamt weiter zugenommen haben (plus 11 %), blieben sie bei Essstörungen nahezu konstant und sanken bei Depressionen (minus 7 %).
„Die Ergebnisse des Kinder- und Jugendreports zeigen sich im Klinikalltag. Auch wenn sinkende Trends bei einigen Erkrankungen zu erkennen sind: Es gibt keine Entwarnung“, sagt Correll. „Die sozio-psycho-emotionalen Störungen liegen immer noch auf hohem Niveau“, ergänzt Fischbach. „Das ist absolut beunruhigend.“
Die große Sorge: Suizidversuche und Suizide
Beunruhigend ist dies unter anderem, weil auch bei jungen Menschen psychische Erkrankungen mit Suiziden assoziiert sind. Bei rechtzeitiger Diagnose des erhöhten Suizid-Risikos könnten womöglich Suizide in diesen Altersgruppen jedoch verhindert werden, so die Forensiker Silke Falge und Jan Dreßler sowie der Psychosomatiker Daniel Radeloff im Fachmagazin „Rechtsmedizin“.
Suizide stellen den Autoren zufolge in Westeuropa nach Verkehrsunfällen den zweit- oder drittgrößten Anteil an Todesfällen von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden dar. Todesfälle durch Suizid im Kindes- oder Jugendalter seien eine extreme Belastung für Familie, Freunde und soziales Umfeld. Häufig werde eine bestehende Suizidalität durch Ärzte und Angehörige nicht erkannt oder unterschätzt . Außerdem, so Falge und ihre Kollegen, werde die Frage nach Suizidwünschen zu selten gestellt, da Suizid in der Gesellschaft noch immer ein Tabu-Thema seien.
In einer Studie haben Falge und ihre Kollegen 67 nicht-natürliche Todesfälle von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden im Einzugsgebiet des Instituts für Rechtsmedizin Leipzig im Zeitraum 1998–2017 analysiert. Als Hinweis auf eine behandlungsbedürftige psychische Störung fanden die Rechtsmediziner bei mehr als einem Drittel der 67 untersuchten Kinder und Jugendlichen (n = 24) Zeichen einer möglichen Suchterkrankungen oder selbstschädigenden Verhaltens (etwa typische Narben oder Injektionsstellen) sowie toxikologische Belege für die Einnahme von Psychopharmakon. Weitere wichtige Anhaltspunkte für psychische Störungen seien direkte Suizidäußerungen gewesen sowie bekannte Suizidversuche in der Vergangenheit (10 %, n = 7), bekannte depressive Episoden oder Berichte über anderweitige psychiatrische Erkrankungen (7%, n=5).
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