Vom Kampf der Krankenkassen gegen Abrechnungsbetrüger

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Medizinische Nachrichten
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Von Christian Beneker

Manche Dienstleister im Gesundheitswesen betrügen bekanntlich beim Abrechnen ihrer Leistungen mit den Krankenkassen. Allein die KKH kam in ihrer Auswertung des vergangenen Jahres auf 4,7 Millionen Euro. Aber die Dunkelziffer ist wohl extrem hoch. Dina Michels ist Leiterin der Stelle zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen bei der Kaufmännischen Krankenkasse in Hannover (KKH). Medscape sprach mit ihr über Betrüger, verlorene Millionenbeträge und überforderte Staatsanwälte.

Medscape: Seit 20 Jahren machen Sie Abrechnungsbetrüger dingfest. Haben Sie und Ihre Abteilung sich inzwischen zum Schrecken der Szene entwickelt, oder können Betrüger sich ziemlich sicher sein, dass sie nicht erwischt werden?

Das Massenabrechnungssystem im Gesundheitswesen bietet viele Schlupflöcher. Dina Michels

Michels: Leider ist das so. Das Massenabrechnungssystem im Gesundheitswesen bietet viele Schlupflöcher. Die Dunkelziffer ist denn auch enorm hoch.

Medscape: Wie hoch ist die Dunkelziffer?

Michels: Das ist schwer zu sagen. Wir orientieren uns bei der Schätzung an den Zahlen des Bundeskriminalamtes zur Wirtschaftskriminalität und zur Korruption. So gehen wir davon aus, dass 90% aller Taten des Abrechnungsbetruges und anderer Delikte unentdeckt bleiben, also zur Dunkelziffer gehören.

Medscape: Wie hoch ist der Schaden bei Ihrer letzten Berechnung?

Michels: Der Schaden, den wir allein bei der KKH im vergangenen Jahr feststellen konnten, betrug 4,7 Millionen Euro, 3,4 Millionen Euro entfallen auf Pflegedienste. Die Schadenermittlung dauert allerdings ziemlich lange. Deshalb resultieren die jetzt präsentierten Zahlen vor allem aus zurückliegenden Jahren. Wenn wir Strafanzeige erstatten mit sich anschließenden Ermittlungsverfahren, kann die Schadenermittlung und -geltendmachung noch länger dauern, oft mehrere Jahre.

Medscape: Warum gehen nicht alle Kassen mit dem Problem des Abrechnungsbetruges so offensiv an die Öffentlichkeit wie die KKH?

Michels: Das ist schwer zu sagen. Wir tun es, weil es der Prävention dient und damit potentielle Täter abschreckt. Jede Krankenkasse ist laut §197a SGB V verpflichtet, eine Stelle zur Fehlverhaltensbekämpfung zu unterhalten. Auch die Zusammenarbeit unter den Krankenkassen sowie mit den Kassenärztlichen Vereinigungen ist verpflichtend vorgeschrieben.

Deshalb gibt es in jedem Bundesland einen Arbeitsausschuss zur Abrechnungsmanipulation, in dem die Krankenkassen intensiv zusammenarbeiten, denn von einem Betrüger sind meist alle betroffen. In dem Ausschuss treffen sich die Experten der Krankenkassen und berichten über Hinweise zu neuen Fällen. Eine Krankenkasse übernimmt dann in der Regel den Fall federführend für alle anderen, erstattet Strafanzeige, konfrontiert den Leistungserbringer mit den Vorwürfen, verhandelt die Rückzahlungsbeträge und führt zur Not auch den Rechtsstreit.

Medscape: Wie werden Sie auf die Fälle aufmerksam?

Wir arbeiten hinweisbezogen, bekommen also Tipps. Dina Michels

Michels: Wir arbeiten hinweisbezogen, bekommen also Tipps, zum Beispiel über unser elektronisches Hinweisgebersystem (wahlweise anonym oder namensbezogen). Oft von Mitbewerbern oder Patienten, von anderen Krankenkassen oder den Medien, ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der betroffenen Leistungserbringer, die die Zustände nicht mehr ertragen. Wir haben zudem ein elektronisches Hinweisgebersystem, das eine Kommunikation erlaubt, bei der der Hinweisgeber anonym bleibt.

Diese Hinweisgeber sind für uns keine Nestbeschmutzer, sondern Gold wert. Denn sie können die Vorgehensweisen konkret beschreiben und haben Detailkenntnisse.

Medscape: Womit wird betrogen?

Michels: Im Bereich Physiotherapie und Pflege ist es oft der Einsatz nicht ausreichend qualifizierter Kräfte. Physiotherapeuten rechnen sogenannte Zertifikatsleistungen ab, wie manuelle Therapie, Lymphdrainage oder Krankengymnastik am Gerät, ohne dass die ausführenden Therapeuten die erforderliche Fortbildung absolviert haben.

Das betrifft auch die Pflege, wenn zum Beispiel die Behandlungspflege oder Intensivpflege bei Beatmungspatienten durch einfache Pflegekräfte oder sogar Pflegehilfskräfte erbracht und als ausreichend qualifizierte Pflege abgerechnet wird.

Aber auch andere Berufsgruppen wie Apotheker sind betroffen. Traurige Berühmtheit erlangte ja ein Bottroper Apotheker, der Zytostatika gepanscht und sie verkauft hatte. Er wurde zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt und erhielt ein Berufsverbot. Wir haben derzeit einen ähnlichen Fall in Sachsen.

Medscape: Was passiert, wenn die Täter erwischt werden?

Michels: In nicht nur geringfügigen Fällen erstatten wir Strafanzeige. In wenigen dieser Fälle kommt es zur Anklage oder zu Verurteilungen. Aber vorher sehen wir uns die Fälle genau an und prüfen, ob der Hinweis glaubwürdig ist. Kann das alles so gewesen sein? Wie viel Detailwissen hat der Hinweisgeber? Wir merken schnell, ob an einem Hinweis etwas dran ist oder nicht. Einzelne Fehler interessieren uns jedenfalls nicht. Wir kümmern uns um strafrechtlich relevante Fälle.

Medscape: Abrechnungsbetrug ist ein kompliziertes Feld. Finden sich normale Staatsanwälte da überhaupt noch zurecht?

Michels: Zum Teil ja, aber nicht alle. Wo keine spezialisierten Staatsanwaltschaften mit Kenntnissen aus dem Sozialrecht die Fälle prüfen, läuft Abrechnungsbetrug oft unter „ferner liefen“. Manche Staatsanwaltschaften arbeiten ungern mit uns zusammen, weil sie fürchten, sich angreifbar zu machen.

Schließlich lassen sich die Leistungserbringer zunehmend von Spitzenanwälten aus großen Medizinrechts-Kanzleien vertreten, insbesondere wenn es sich um bedeutende Leistungserbringer handelt und es um viel Geld geht. Diese Anwälte kennen sich bis ins Detail aus, so dass sie mit mancher Staatsanwaltschaft leichtes Spiel haben – und wir bekommen dann die Einstellung des Verfahrens auf den Tisch.

Medscape: Wie viel Geld der Betrugssummen können Sie wiederbeschaffen?

Das Massenabrechnungssystem für 70 Millionen gesetzliche Versicherte begünstigt wegen seiner zwangsweisen Intransparenz Straftaten zulasten des Systems. Dina Michels

Michels: Leider nur wenig. Vor allem, weil viele Leistungserbringer als GmbHs organisiert sind. Sie melden im Laufe des Verfahrens oft Insolvenz an. Da ist dann für uns oft fast nichts mehr zu holen.

Medscape: Wenn man vom nicht zu quantifizierenden Abschreckungseffekt absieht – wie rechtfertigt dann die KHH den Aufwand, den Sie gegen den Betrug im Gesundheitswesen leisten?

Michels: Da gibt es nichts zu rechtfertigen, da wir einer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen. Wir leisten auch nicht zwingend mehr als andere große Krankenkassen. Aber das tun wir mit Herzblut, weil wir das Solidarsystem vor rechtswidrigen Eingriffen schützen und ergaunerte Beträge zurückholen wollen. Vielleicht werden wir deshalb stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen.

Medscape: Ist das Gesundheitssystem besonders anfällig für Betrügereien?

Die Krankenkassen sind weder verpflichtet noch in der Lage, alle Rechnungen zu prüfen. Dina Michels

Michels: Ich würde sagen: ja. Das Massenabrechnungssystem für 70 Millionen gesetzliche Versicherte begünstigt wegen seiner zwangsweisen Intransparenz Straftaten zulasten des Systems. Allein wir erhalten monatlich etwa 3 Millionen Arzneimittelverordnungen. Die Abrechnungen laufen über Prüfroutinen. Danach erfolgen noch Sichtprüfungen, die aber nicht bis ins kleinste Detail gehen können. Nicht erbrachte Leistungen sind den Abrechnungen aber beispielsweise nicht anzusehen, durch Prüfungen also nicht zu erkennen. Nach dem Bundessozialgericht gilt im Gesundheitswesen der Vertrauensgrundsatz – die Krankenkassen sind weder verpflichtet noch in der Lage, alle Rechnungen zu prüfen. 

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Medscape.de.