Vincent van Gogh - Folge 2: Eine Psychose überschattet die letzten beiden Lebensjahre

  • Dr. Angela Speth
  • Medizinische Nachrichten
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„Schmeißt seine Sonnenblumen auf den Biomüll ... Wenn wir ehrlich sind, haben wir uns an Vincent van Gogh längst sattgesehen“, lästert der Autor eines Artikels unter der Rubrik „Denkmalsturz“. Einfach nervig, die Allgegenwart der Reproduktionen, ob an den Wänden drittklassiger Hotels, ob auf Tassen, Krawatten oder Schlüsselanhängern. Auch das abgeschnittene Ohr solle man dem Schmerzensmann doch bitte schön wieder annähen - die Selbstverstümmelung sei allzu legendär geworden. Gleichwohl ist van Gogh unschuldig an der übermäßigen Popularität, die ihm heute in krassem Gegensatz zur damaligen Missachtung zuteil wird. Die Verzweiflungstat markiert eine neue Wende seiner umstrittenen Geisteskrankheit, wie ein US-Neurologe darlegt.[1] Ein niederländischer Kollege spiegelt die Störung in den Briefen des Malers an seinen Bruder Theo.[2] [3]

Kurz vor Weihnachten 1889 setzen in Arles jene Symptome ein, die van Gogh fast anderthalb Jahre quälen werden, erläutert Dr. Dietrich Blumer von der Universität Tennessee. Viele Spekulationen ranken sich  sie, fast 30 verschiedene Diagnosen wurden posthum gestellt: Sie reichen von Schizophrenie oder Angst-Glücks-Psychose über Bleivergiftung oder Syphilis bis hin zu Absinth-Missbrauch oder Mangelernährung.

Nach Blumers Theorie handelt es sich um eine Psychose, deren Besonderheit darin besteht, dass die Halluzinationen mit Gedächtnisverlust und Verwirrtheit nur phasenweise auftreten. Die Prävalenz von Psychosen bei Epilepsie beträgt bis zu 8%. Wie die Dysphorie können sie begleitend vorkommen, aber auch durch anfallshemmende, aber psychotoxisch wirkende Mechanismen ausgelöst werden, die man als „erzwungene Normalisierung“ bezeichnet. Bei van Gogh habe offenbar eine Mischform vorgelegen.

Über den Ablauf kursieren wilde Gerüchte

Ob innere Stimmen den Künstler erst zu der mörderischen Geste gegen Paul Gauguin, der doch als Freund gekommen ist, und dann zur Selbstbestrafung getrieben haben? Jedenfalls schneidet er sich (oder Gauguin ihm?) anschließend das linke Ohr (ganz oder teilweise?) ab, geht damit zum Bordell, um es seinem Lieblingsmädchen (Rachel? Gabrielle?) zu überbringen, angeblich mit den Worten „Du wirst dich meiner erinnern, das sag‘ ich dir“, woraufhin sie angeblich in Ohnmacht fällt. Stand ihm dabei jenes Stierkampfritual vor Augen, wonach der Matador einer schönen Dame das abgeschnittene Ohr des getöteten Stiers offeriert?

Am nächsten Morgen bringt die Polizei den vom Blutverlust geschwächten Künstler, der sich an nichts erinnert, ins örtliche Krankenhaus Hôtel Dieu. Dort verfällt er in derartige Erregung und Wahnvorstellungen, dass man ihn drei Tage in einer Gummizelle isoliert.

Wie fest die Krankheit ihn im Griff hat, verdeutlicht Dr. Piet H.A. Voskuil von der Hans Berger Clinic for Epilepsy in Oosterhout mit Briefen, die der junge Arzt Dr. Felix Rey an Theo richtet: „Vorgestern hat er sich in das Bett eines anderen Patienten gelegt und wollte es trotz meiner Aufforderungen nicht verlassen. Im Nachthemd verfolgte er die diensthabende Schwester und verbot es absolut jedem, sich seinem Bett zu nähern. Gestern stand er auf, um sich im Kohlenkasten zu waschen.“

Am 30. Dezember: „Als ich ihn fragte, warum er sich das Ohr abgeschnitten habe, antwortete er, das sei eine rein persönliche Angelegenheit.“

Besserung mit Kaliumbromid, dem ältesten Antiepileptikum

Rey stellt die Diagnose Epilepsie und verordnet Kaliumbromid. Innerhalb weniger Tage erholt sich sein Patient. Ein Selbstporträt mit verbundenem Ohr und Pfeife strahlt regelrecht eine gewisse heitere Gelassenheit aus. Auch seiner Familie gegenüber spielt er den Vorfall herunter. Nach zwei Wochen wird er aus dem Hospital entlassen.

Am 28. Januar berichtet er Theo, dass „es mit meiner Gesundheit und Arbeit einigermaßen gut steht. Was ich schon erstaunlich finde, wenn ich meinen heutigen Zustand mit dem vor einem Monat vergleiche. Früher wusste ich zwar, dass man sich Arme und Beine brechen kann und es danach wieder besser wird, aber ich wusste nicht, dass man sich das Gehirn brechen kann und es danach auch wieder besser wird.“

Vermutlich weil er wieder dem Absinth verfällt, erleidet er bis zum Mai 1889 zwei weitere psychotische Episoden, so schlimm, dass Kinder auf der Straße dem „Fou roux“, dem verrückten Rotschopf, hinterherjohlen und Nachbarn eine Zwangseinweisung ins Krankenhaus erwirken - demütigende Erfahrungen. Einmal macht er einen Suizidversuch, wie der Maler Paul Signac schildert, der ihn in sein Atelier mitnehmen durfte: Van Gogh sei völlig rational gewesen, bis er sich in einer Anwandlung eine Flasche Terpentin an den Mund gesetzt habe.

Wein, Brot, Käse und Tabak gegen dunkle Gedanken

Am 7. Februar 1889 untersucht ihn der Amtsarzt auf Anweisung des Polizeipräsidenten und notiert: „Ich fand diesen Mann in einem Zustand extremer Erregung vor, er litt an einem echten Delirium, sprach unzusammenhängende Worte und erkannte die Menschen in seiner Umgebung nur flüchtig. Er leidet insbesondere an akustischen Halluzinationen (er hört Stimmen, die ihm Vorwürfe machen) und an einer fixen Idee, wonach er Opfer eines Vergiftungsversuchs gewesen sein soll.“

Ende April 1889 schreibt van Gogh an seine Schwester Wil: „Insgesamt hatte ich vier große Krisen, in denen ich nicht die geringste Ahnung hatte, was ich sagte, wollte, tat. Nicht mitgerechnet, dass ich zuvor drei Mal ohne plausiblen Grund ohnmächtig geworden bin und mich nicht im Geringsten erinnern kann, was ich da empfunden habe ... Jeden Tag nehme ich das Mittel, das der unvergleichliche Dickens gegen Selbstmord verschreibt. Es besteht aus einem Glas Wein, einem Stück Brot und Käse und einer Tabakspfeife.“

Eine Diagnose, aber keine Therapie

Am 9. Mai 1889 lässt er sich im Bewusstsein seiner Unberechenbarkeit auf eigenen Wunsch in die Nervenheilanstalt Saint-Paul-de-Mausole aufnehmen, eine ehemalige Abtei beim Ort Saint-Rémy knapp 30 Kilometer südwestlich von Arles. Der Leiter Dr. Theophile Peyron notiert ins Aufnahmebuch: „Ich bin der Ansicht, dass Herr van Gogh epileptische Anfälle hat, die in größeren Abständen auftreten, und dass es ratsam ist, ihn in der Anstalt unter Dauerbeobachtung zu stellen.“ Trotzdem - Kaliumbromid verordnet er keines mehr.

Am selben Tag schreibt van Gogh an Theo: „... es war gut, hierher zu kommen, denn erstens verliere ich die ... die Angst vor dem Ganzen, weil ich die Realität des Lebens der verschiedenen verrückten oder gebrochenen Menschen in dieser Menagerie sehe. Und mehr und mehr komme ich dahin, den Wahnsinn als eine Krankheit wie jede andere zu betrachten. Dann, denke ich, tut mir der Ortswechsel gut.“

Die „Krise“ begann im Wind auf freiem Feld

Während des Jahres in Saint-Rémy erleidet er erneut psychotische Rückfälle, mindestens zweimal, als er in Gesellschaft alter Freunde wieder Absinth trinkt. Ende Juli zum Beispiel: „Diese neue Krise, mein lieber Bruder, überkam mich auf den Feldern, an einem windigen Tag, mitten als ich am Malen war. Ich schicke Dir die Leinwand, die ich trotzdem fertiggestellt habe.“

Vorausgegangen war ein epileptischen Anfall, bezeugt von einem Wärter, der van Gogh zum Malen eines Steinbruchs begleitet: „Es begann mit einem Zusammenziehen der Hand und einem leeren Blick, bevor er umkippte.“

Für sechs Wochen ist er danach außer Gefecht gesetzt, noch am 22. August schreibt der Maler: „Seit vielen Tagen bin ich völlig verstört, wie in Arles, nur noch viel schlimmer, und es ist anzunehmen, dass sich diese Krisen in Zukunft wiederholen werden, es ist abscheulich. Seit vier Tagen kann ich nicht mehr essen, weil mein Hals geschwollen ist ... Es scheint, dass ich schmutzige Dinge aufhebe und sie esse, obwohl meine Erinnerungen an diese schlimmen Momente vage sind, und es scheint mir, dass es etwas Zwielichtiges an sich hat, immer noch aus dem gleichen Grund, dass man hier - ich weiß nicht, welche - Vorurteile gegenüber Malern hat. Ich sehe keine Möglichkeit mehr für Mut oder gute Hoffnung, aber wir wissen ja auch nicht erst seit gestern, dass man in diesem Beruf nicht glücklich wird.“

Missbräuchliche Verwendung von Farben

Noch ein zweites Mal registriert ein Wärter einen Krampfanfall, und zwar Anfang 1890, als er ihn zum Abendessen abholen will: „Er hatte starre Augen und Schaum auf den Lippen, er hatte versucht, seine Farben zu essen, drei Tuben.“ Terpentin, Farbe oder Lampenöl hatte van Gogh bereits mehrfach geschluckt, wohl um sich zu vergiften.

Er klagt über das schimmlige Essen und die unzulängliche Behandlung, doch die bewährte Selbsttherapie - das Malen in der Natur - beschert ihm seelische Erleichterung. Anfang September an Theo: „Ich arbeite auf Hochtouren, das tut mir gut und verjagt die abartigen Gedanken.“

Während des Jahres in dieser Anstalt vollendet er etwa 300 Bilder, darunter „Schwertlilien“, das er als „Blitzableiter für meine Krankheit“ bezeichnet, die eindrückliche Landschaftsvision „Weizenfeld mit Zypressen“ und das transzendentale Meisterwerk „Sternennacht“ mit dem spektakulären Himmel. Im Brief gesteht er Theo, „ein furchtbares Bedürfnis nach - ja, nach Religion zu haben. Dann gehe ich nachts hinaus, um die Sterne zu malen.“

Auch sonst ist van Goghs Situation in Saint-Rémy prekärer geworden: Theo, sein Rettungsanker, droht wegzufallen, denn er erwägt, eine eigene Kunsthandlung zu gründen, außerdem macht ihm seine Syphiliserkrankung mehr und mehr Beschwerden. Nicht zuletzt hat er inzwischen eine Familie zu ernähren: Ende 1888 hatte er sich verlobt und vier Monate später geheiratet, im Januar 1890 ist sein Sohn zur Welt gekommen. Bei jedem dieser Einschnitte sind van Goghs psychotische Symptome wieder aufgeflackert, möglicherweise weil er mehr trank, um seine Ängste zu betäuben. Schon früher hat er Theo anvertraut: „Ohne deine Freundschaft würde ich ohne Gewissensbisse in den Selbstmord getrieben - und so feige wie ich bin, würde ich es schließlich tun.“

Auvers-sur-Oise: die letzten 70 Tage

Nach seiner letzten und langwierigsten psychotischen Episode von Februar bis April 1890 wird van Gogh am 17. Mai 1890 aus Saint-Rémy als geheilt entlassen. Er reist zu seinem Bruder nach Paris, doch in der junger Familie herrscht angespannte Stimmung, Theo kränkelt und ist durch Konflikte mit seinem Chef zermürbt. Überstürzt fährt van Gogh schon drei Tage später ins zirka 30 km entfernte Auvers-sur-Oise, wo sich auf Theos Vermittlung der Kunstfreund und „Arzt“ Dr. Paul Gachet seiner annehmen will. Konkret heißt das: Van Gogh wohnt im Gasthof, ist aber einmal wöchentlich zum Essen eingeladen.

In dem psychisch labilen Mann sah er einen Seelenverwandten: „… seine Erfahrung als Arzt muss ihn ja schließlich im Gleichgewicht halten bei der Bekämpfung des Nervenübels, an dem er mir mindestens so ernstlich zu leiden scheint wie ich …“ Nebenbei bemerkt: Das 1990 für 82,5 Millionen Dollar ersteigerte „Porträt des Dr. Gachet“, ein Sitzender in melancholischer Pose, war seinerzeit das teuerste Kunstwerk der Welt.[4]

Ein Weinberg so rot wie Blut

Zunächst scheint es aufwärts zu gehen: Van Gogh trinkt nicht mehr und bleibt verschont von Anfällen, seine Kunst wird in Ausstellungen gezeigt, sogar ein Bild wird verkauft, der im Jahr zuvor an einem Regentag aus dem Gedächtnis gemalte „Rote Weinberg bei Arles“. Doch als er am 6. Juli 1890 Theo besucht - zum letzten Mal -, entbrennt zwischen den Brüdern ein erbitterter Streit. In den folgenden Monaten wechselt van Goghs Befinden stark, wie der Brief vom 8. Oktober bezeugt: „Was mich betrifft, geht es mir zurzeit sehr gut ... Aber während der Anfälle ist es schrecklich – dann verliere ich völlig das Bewusstsein. Aber das treibt mich an zu Arbeit und Ernsthaftigkeit, wie im Bergwerk ein Grubenarbeiter, der ständig in Gefahr und deshalb immer in Eile ist.“

In Auvers entstehen in den zehn Wochen vor seinem Tod noch 60 Zeichnungen und 75 Bilder. Die so leuchtenden Sterne fehlen aber nun an seinem Himmel. Stattdessen riesige Weizenfelder unter unheilschwangeren Wolken, er bemerkt dazu: „Es ist nicht schwer, hier meine ganze Traurigkeit und extreme Einsamkeit auszudrücken.“ Auf dem „Weizenfeld mit Krähen“ fliegt ein Schwarm der Todesvögel über drei Wege, die ins Nirgendwo führen, auf dem „Feld mit den Weizenstapeln“ scheint das geerntete und gehäckselte Getreide auszudrücken: Meine Arbeit ist getan.

Der Schuss auf den Feldern scheint ungeplant

Dennoch klingt sein letzter Brief an Theo zukunftsorientiert, dennoch kommt sein Selbstmord für seine Bekannten überraschend, so dass die Tat vermutlich - wie seine früheren Suizidversuche - einem Impuls tiefer Verzweiflung entsprang. Fürchtete er, seinem Bruder weiter zur Last zu fallen? War er todunglücklich, weil er sich in Gachets Tochter verliebt, der Vater aber eine Beziehung verboten hatte? Allgemein ist das Suizidrisiko bei Epilepsiepatienten um das 4- bis 25-fache erhöht, besonders bei chronischer Schläfenlappenepilepsie, merkt Blumer an.

Am 27. Juli 1890 schießt er sich auf einem Feld in die Brust und kann sich noch zum Gasthof zurückschleppen. Der herbeigerufene Gachet spielt in diesem Schlussakt keine rühmliche Rolle: Selbst nur ein Kurpfuscher, kann er die Verletzung weder behandeln, noch holt er professionelle Hilfe, sondern konzentriert seine Tätigkeit darauf, sich möglichst viele Gemälde unter den Nagel zu reißen.[5] Theo eilt ans Sterbebett. Zwei Tage später erliegt der große Künstler einer Sepsis.

Theo organisiert außer dem Begräbnis eine Gedächtnisausstellung und bemüht sich um ein Buchprojekt. Überanstrengung, die Erschütterung durch den Freitod des Bruders und die fortschreitende Syphilis münden im Oktober 1890 im geistigen Zusammenbruch. Seine Familie bringt ihn in eine Nervenheilanstalt nach Utrecht, wo er am 25. Januar 1891 im Delirium stirbt. Beide Brüder liegen Seite an Seite auf dem Friedhof von Auvers begraben.

Hier geht's zur Folge 1: Absinth löst in Paris und Arles den ersten Krankheitsschub aus