Ukrainischer Arzt: Sogar die „einfachsten Medikamente“ werden gebraucht

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Medizinische Nachrichten
Der Zugang zum gesamten Inhalt dieser Seite ist nur Angehörigen medizinischer Fachkreise vorbehalten. Der Zugang zum gesamten Inhalt dieser Seite ist nur Angehörigen medizinischer Fachkreise vorbehalten.

Roman Tielitsyn ist Oberarzt an der LWL-Klinik in Paderborn und pendelt gemeinsam mit Arztkollegen aus Deutschland zur polnisch-ukrainischen Grenze, um seinen Landsleuten Medikamente zu bringen. Im Gespräch mit coliquio berichtet der gebürtige Ukrainer von einer dramatischen Lage im Kriegsgebiet, lebensrettenden Plastikbeuteln und einer versagenden Weltpolitik. Das Interview mit Roman Tielitsyn hat  Marie Fahrenhold geführt (4.3.2022).

 

Ich habe gehört, dass Sie sich freigenommen haben, um gemeinsam mit Arztkollegen Hilfsgüter an die ukrainische Grenze zu fahren?

Tielitsyn: Genau, wir sind letztes Wochenende von Paderborn an die polnisch-ukrainische Grenze und wieder zurückgefahren. Direkt in die Ukraine zu fahren ist im Moment nicht möglich. Ein Mitarbeiter einer ukrainischen Klinik kommt über die Grenze nach Polen, bringt seinen eigenen Bulli mit, dann wird umgeladen und er fährt wieder zurück. Kollegen aus der Klinik haben geholfen, Medikamente zu sammeln und einen Kleintransporter zu organisieren. Auf dem Hinweg liefern wir die Arzneimittel ab, auf dem Rückweg nehmen wir Menschen von der Grenze mit nach Deutschland. Viele ärztliche Kolleginnen und Kollegen in Paderborn und Mitarbeiter der Klinik haben sich bereit erklärt, Leute bei sich aufzunehmen. Gestern (3.3.) konnten wir elf Menschen unterbringen. Das ist natürlich nur das, was ich aus meinem engeren Bekanntenkreis kenne, keine offiziellen Zahlen.  

Wie ist denn die aktuelle Situation an der Grenze? Wie hat sie sich in den vergangenen Tagen entwickelt?

Tielitsyn: Die Situation ändert sich von Tag zu Tag. Noch vor kurzem, bis Dienstag (1.3.2022), mussten die Menschen an bestimmten Grenzpunkten mehrere Tage warten, bis sie über die Grenze kamen. Ich habe gehört, dass einzelne Personen bis zu fünf Tagen gewartet haben sollen –  das könnte aber auch nicht stimmen. Die Menschen, die wir letztes Wochenende geholt haben, hatten so sechs bis zehn Stunden gewartet. Heute habe ich in der Kirche mit einem Mann aus der Ukraine gesprochen, der vor ein paar Tagen nach Deutschland gekommen ist. Er sagte, die Grenze sei nun offen und alle Menschen können kommen, es gebe keine Warteschlange mehr. Sie können nach Deutschland, unabhängig vom Zustand ihrer Unterlagen. Sie werden in Polen einfach nur registriert und dann weitergeleitet.

Viele Ärztinnen und Ärzte fragen sich, wie sie helfen können. Was wird konkret benötigt?

Tielitsyn: Das ist eine sehr große Frage! Im Grunde kann man sie in drei Kategorien einteilen.

In erster Linie gibt es die Leute im humanitären Katastrophengebiet, also im Kriegsgebiet, wo die Städte von den Russen okkupiert werden. Dort gibt es keinen Zugang mehr zu frischem Wasser, das Deutsche Rote Kreuz wird nicht durchgelassen, Bewohner dürfen nicht evakuiert werden. Die Situation ist wirklich krass! Den Menschen dort können wir leider nicht helfen – bislang. Das Rote Kreuz kümmert sich aktuell darum, Korridore zu bauen. So könnte man den Menschen dort zumindest das Nötigste zum Leben liefern.

Als Zweites gibt es noch die Menschen hinter der Kriegslinie, zum Beispiel in Charkiw oder Kiew, mit einem sehr eingeschränkten Zugang zu Lebensmitteln und Medikamenten. Dorthin können Hilfsgüter aktuell noch geliefert werden. Die Krankenhäuser dort sind völlig überlastet mit Verletzten – nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten. Dort werden dringend OP-Sachen benötigt: Nähmaterial, chirurgisches Besteck, Verbandsmaterial.

Dann ist da noch die Sache mit dem Blut: Mittlerweile sind sie sehr gut damit versorgt. Nach einem Spendenaufruf der ukrainischen Ärzte haben sich hundert Meter lange Schlangen von Menschen gebildet, die sich bereit erklärt haben, Blut zu spenden. Aber jetzt gibt es plötzlich ein ganz neues Problem: Es sind keine Blutkonservenbeutel mehr da! Heute ist vom Herzzentrum in Bad Oeynhausen ein großer LKW mit – unter anderem – zwei Paletten Blutkonservenbeuteln in Richtung Ukraine losgefahren. Die Klinik hat viel, viel gespendet, ich bin von Herzen dankbar!

Das Problem im Moment ist: Die Lieferketten sind unterbrochen. Es wurde zwar viel Geld gespendet, aber die Leute im und hinter dem Kriegsgebiet können vor Ort nichts davon kaufen. Benötigt werden also auch die einfachsten Medikamente: Schmerzmittel, Paracetamol, Vomex – also Mittel gegen Übelkeit … Das alles sammeln wir auch hier in Paderborn. Die Menschen sind sehr großzügig!  

Die dritte Kategorie ist die Fluchtlinie. Also Menschen, die an der Grenze stehen oder diese schon überschritten haben. Das sind vor allem Frauen und Kinder.

Die erste kleinste Welle, die hier in Deutschland Angehörigen hatten, wurde schon abgeholt und bei Bekannten untergebracht. Jetzt kommen die Menschen, die keine Angehörigen oder Freunde in Deutschland haben, die vor dem Krieg flüchten und ihr Zuhause verloren haben. Viele von ihnen sind schon seit Tagen unterwegs. Diese Menschen brauchen oft alles – Socken, Unterwäsche, Binden und andere Hygieneartikel, Babynahrung, Schlafsäcke und Schlafmatten. Eine Unterlage zum Schlafen benötigen sie vor allem jetzt, wo sie, bis sie weitergeleitet werden, in großen Hallen untergebracht sind – damit sie nicht auf dem blanken Boden schlafen müssen.

Sie sprechen immer von Frauen und Kindern. Männer dürfen nicht ohne Weiteres über die Grenze?

Tielitsyn: Nein, Männer zwischen 18 und 60 Jahren sind militärpflichtig und dürfen nicht aus dem Land. So sind die Gesetze für den Kriegszustand – und der wurde letzte Woche ausgerufen. Jüngere und ältere Männer, aber auch die, die krank sind oder allein mit Kindern unterwegs sind, werden aber über die Grenze gelassen.

Die Männer, die ich in der Ukraine kenne, sind entschlossen zu kämpfen, ihre Familien haben sie hierher geschickt. Selbst wer nicht kämpfen kann, arbeitet als Freiwilliger oder leistet anderweitig seinen Dienst. Die ukrainischen Medien berichten auch über Partisanenverbände. Ich telefoniere außerdem jeden Tag mit meiner Schwester – sie ist noch in der Ukraine – und informiere mich.

Und Ihre Schwester möchte dort bleiben?

Tielitsyn: Ja. Sie hat zwei Kinder, eins ist ein und das andere sechs Jahre alt. Mit denen kann sie keine zwei Tage im Winter auf der Straße stehen, sagt sie. Das schafft sie nicht. Aber ja, ich telefoniere täglich mit ihr. Sie sind im Moment bei unserer Oma im Dorf, dort ist es relativ ruhig. Sie lässt lieber die Menschen flüchten, die kein Zuhause mehr haben. Sie gibt ihnen den Vortritt und steht nicht mit ihnen in der Warteschlange. Das Argument kann ich auch verstehen …

Gibt es denn noch irgendwas, was Sie persönlich noch sagen möchten?

Tielitsyn: Ja, es gibt da eine Sache. Ich spreche jetzt metaphorisch als Arzt über die Ukraine als Patient. Ich bin sehr dankbar für alle Helfer. Die Menschen hier vor Ort tun wirklich alles, was sie können – die Politiker leider nicht! Die Hilfe der Welt sieht nach einer Palliativbehandlung aus – hier ein paar Vitamine, da ein bisschen Homöopathie. Mit der Erwartung, dass der Körper das schon schafft, die Erkrankung zu bekämpfen – oder eben nicht. Ich finde, hier muss interveniert werden!

Das Interview ist im Original erschienen auf Coliquio.de.