Ukraine: Die Prävalenz psychischer Störungen ist hoch, auch wegen der andauernden Konflikte

  • Dr. Nicola Siegmund-Schultze
  • Studien – kurz & knapp
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Kernbotschaften

Der Krieg in der Ukraine mit seinen extremen Belastungen für die körperliche und psychische Verfassung der Menschen trifft auf eine Bevölkerung, in der es schon vor der aktuellen Eskalation eine hohe Prävalenz an psychischen Krankheiten gab. Schätzungen zufolge manifestierte sich bei fast jedem Dritten vor 2020 im Verlauf des Lebens eine psychische Störung. Vor allem die Prävalenz von Depressionen lag über dem Durchschnitt anderer Länder der Region. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hatte die Ukraine wegen der hohen Krankheitslast durch seelische Störungen erst vor zwei Jahren in ein spezielles Programm zur Verbesserung der Versorgung von Patienten mit psychischen Krankheiten aufgenommen. WHO-General-Direktor Tedros Adhanom Ghebreyesus sagte, die WHO setze trotz Ausreise der WHO-Mitarbeiter alles daran, das Gesundheitssystem zu erhalten, auch mit Notfallprogrammen (1).

Hintergrund
Ständige Angst, Bedrohung, Enge in Schutzräumen und eventuell körperliche Traumata: die humanitäre Katastrophe, wie die WHO den jetzigen Krieg mit Russland nennt, trifft auf eine Bevölkerung, in der es schon zuvor eine gesundheitliche Unterversorgung gab, besonders auch bei der Behandlung von psychischen Krankheiten.

Hauptergebnisse

  • In einem umfassenden Bericht der Fachbereiche Public Health und Medizin der Yale University, New Haven (Connecticut), wird eine Lebenszeitprävalenz von 30 % für seelische Störungen in der Ukraine genannt.
  • Über dem internationalen Durchschnitt liegen die Häufigkeiten von Depressionen, missbräuchlichem Alkoholkonsum und Suizidgefährdung (2).
  • Die Prävalenz der schweren Depression (Major Depression) beträgt 3,4 % und unter den Älteren (70+) liegt sie bei 6,5 %. In der übrigen Region (Osteuropa) liegt sie < 3 % (2, 3).
  • Circa 6 % der Bevölkerung in der Ukraine sind schwer alkoholabhängig, bei den Männern beträgt die Prävalenz 11,5 %. Der globale Durchschnitt für die Prävalenz der Alkoholabhängigkeit liegt laut WHO bei 1,5 % (2).
  • Die Rate der Suizide pro 100.000 ukrainische Einwohner liegt bei 30,6 und unter der männlichen Bevölkerung sogar bei 56,7/100 000. Der internationale Durchschnitt (beide Geschlechter) beträgt 10,6/100 000.
  • Die Versorgungslücke bei seelischen Erkrankungen ist in der Ukraine hoch. Dem WHO-Bericht zufolge erhalten nur 2 % der Patienten mit schweren depressiven Störungen eine Behandlung und nur 20,9 % der Menschen mit Alkoholerkrankung.

Aktuelle Bedeutung
Der Report der Universität Yale verweist in Bezug auf die hohe Prävalenz seelischer Erkrankungen darauf, dass diese – zumindest zum Teil – mit der seit Jahren äußerst angespannten politischen Situation assoziiert sei. Im Jahr 2014 wurde die frühere autonome Republik Krim von Russland annektiert. Im Osten und Südosten des Landes und vor allem auch bei Vertriebenen seien die Prävalenzen schwerer Depressionen höher als im übrigen Land (3). International sei bekannt, dass bei Menschen in Krisenregionen und unter Flüchtlingen die Prävalenz psychischer Störungen 31-63 % betrage.

Zu den Gründen für die Unterversorgung seelisch kranker Menschen in der Ukraine gehörten gesellschaftliche Stigmatisierung, Scham der Betroffenen und mangelnde Information in der allgemeinen Bevölkerung (3). Bei älteren Menschen komme die Erinnerung hinzu, dass eine stationäre psychiatrische Behandlung während der Sowjetära (1920-1991) auch für Repressionen genutzt wurde.

In den letzten Jahren habe es in der Ukraine deutliche Verbesserungen in Bezug auf die Information der Bevölkerung und die Versorgungsstrukturen gegeben, die auch gesetzlich untermauert worden waren, so die Forscher der Universität Yale. Für die WHO ist derzeit nicht absehbar, ob und wann sich an diese Verbesserungen anknüpfen lässt (1).

Finanzierung: öffentliche Mittel