Triage: Mehraugenprinzip gefordert
- Presseagentur Gesundheit (pag)
- Im Diskurs
Berlin/Düsseldorf (pag) – Durch ein Gesetz will die Ampel Menschen mit Behinderungen im Fall einer möglichen coronabedingten Triage gesondert schützen. Ein ärztliches Mehraugenprinzip soll eine Benachteiligung dieser Personen verhindern. Eine gesetzliche Klarstellung ist aufgrund eines Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) Ende des vergangenen Jahres notwendig. Unabhängig vom Gesetzentwurf beschäftigt sich auch die Ärztekammer Nordrhein mit der Problematik.
Vorgesehen ist ein neu einzuführender Paragraf 5c im Infektionsschutzgesetz, geht aus dem Gesetzentwurf hervor, welcher der Presseagentur Gesundheit vorliegt. Dieser greift nach Vorstellungen der Regierungsfraktionen „bei der ärztlichen Entscheidung über die Zuteilung von pandemiebedingt nicht ausreichenden überlebenswichtigen, intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten im Krankenhaus“. Kern der geplanten Regelung ist das Mehraugenprinzip, falls eine Triage notwendig wird. „Die Entscheidung […] ist von zwei mehrjährig intensivmedizinisch erfahrenen praktizierenden Fachärztinnen oder Fachärzten mit der Zusatzweiterbildung Intensivmedizin einvernehmlich zu treffen, die den Patienten oder die Patientin unabhängig voneinander begutachtet haben“, heißt es im Entwurf, bei dem es sich um eine Formulierungshilfe für die Ampelfraktionen handelt. Besteht kein Einvernehmen, müsse ein weiterer Arzt für eine mehrheitliche Entscheidung hinzugezogen werden. Behandelnde Krankenhäuser seien verpflichtet, nach dieser Regelung zu agieren und deren Einhaltung sicherzustellen. Außerdem sollen sie die Verfahrensabläufe regelmäßig für potenzielle Weiterentwicklungen überprüfen.
Mit diesem Gesetz wollen SPD, Grüne und FDP der Entscheidung des BVerfG nachkommen. Anlass für den Beschluss vom Dezember 2021 war eine Verfassungsbeschwerde mehrerer Menschen mit Behinderungen.
Triage mittels Randomisierung?
Mit dem Thema Triage in Pandemiezeiten beschäftigt sich auch eine Diskussionsveranstaltung der Ärztekammer Nordrhein am 9. März. Sollte es hierzulande zu Zuständen wie in Bergamo 2020 kommen, wäre dies ein Todesurteil für Menschen mit Behinderungen oder Komorbiditäten, sagt Nancy Poser. Die Richterin am Amtsgericht Trier ist eine der Beschwerdeführerinnen vor dem BVerfG. Grund dafür sei die Leitlinie der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zu „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie“. Die Kläger kritisieren insbesondere das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht in der Leitlinie. Man müsse sich fragen, „ob nicht eine Entscheidung nach Erfolgswahrscheinlichkeit Menschen mit Behinderungen immer diskriminieren wird“, so Poser.
Denn Ärzte seien nicht in der Lage, in einer solchen Stresssituation die Behinderung oder Komorbiditäten von Patienten außen vor zu lassen. Spezialisten für die jeweilige Erkrankung seien selten vor Ort. Wonach in einer solchen Situation entschieden werden solle, habe das BVerfG nicht festgelegt. Die Juristin schlägt als Alternative eine Randomisierung vor oder wer als erstes kommt, soll das Bett erhalten. Triage mittels Randomisierung könnte „eine faire Chance“ und weniger diskriminierend sein, stimmt Dr. Maria del Pilar Andrino, Leiterin des Gesundheitszentrums Franz-Sales-Haus in Essen zu. DIVI-Präsident Prof. Gernot Marx lehnt dies hingegen ab: „Alles was ich als Arzt einbringen kann, wäre dann weg, das kann nicht im Sinne unserer Patienten sein.“
Vor-Triage im stationären Sektor
Auf den Intensivstationen ist es bisher nicht zu einer Triage gekommen, weil ambulant eine Vor-Triage stattgefunden hat, berichtet Andrino. „Das bedeutet, dass Menschen mit Behinderung überhaupt nicht abgeholt worden sind aus ihrem Zuhause und überhaupt nicht in die Klinik gebracht worden sind.“ Darum habe es eine Unterdiagnostik und Unterversorgung gegeben. Erschwerend komme hinzu, dass Menschen mit Behinderungen durch die Corona-Maßnahmen eine Rückentwicklung von Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit erfahren hätten.
Für Andrino ist die DIVI-Leitlinie ein „No-Go“. „Damit kann ich als Medizinerin nicht leben.“ Sie bezweifelt, dass zwei Intensivärzte die richtige Wahl für das Vier-Augen-Prinzip sind. Die DIVI begrüßt die vom Gericht vorgesehene Regelung ausdrücklich, ob zwei Fachärzte am geeignetsten sind, weiß Marx jedoch auch nicht.
DIVI hält an klinischer Erfolgsaussicht fest
Die Verteilung von Patienten nach dem Kleeblattprinzip habe laut Marx bisher Triage-Situationen auf den Intensivstationen verhindert. Seine Gesellschaft hält auch weiterhin am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht fest. „Man muss klar differenzieren, es geht tatsächlich um die akute Erkrankung“, sagt Marx. Die Ärzte sollen alle wesentlichen die Erfolgsaussicht beeinflussenden Faktoren berücksichtigen: aktuelle Erkrankung, Komorbiditäten und allgemeiner Gesundheitszustand. Der prämorbide Status stehe dabei „deutlich“ als letztes.
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