Von Dr. Angela Speth
Waren die Wahnvorstellungen, die Robert Schumann in seinen letzten Jahren quälten, eine Spätfolge der Syphilis? Das ist aus Pietät oft geleugnet worden, doch spätestens seit Veröffentlichung der Patientenakten scheint die Antwort gewiss: ja. Der Streit um die Diagnose wirft ein Schlaglicht auf die besonderen Schrecken der Infektion: Die Kranken litten nicht nur an den körperlichen und psychischen Symptomen, an den Torturen der wenig wirksamen Behandlung, sondern auch an den Scham- und Schuldgefühle wegen ihrer vermeintlichen Unsittlichkeit. So setzten sie selbst, ihre Familien und andere Wohlmeinende alles daran, jeden Verdacht zu zerstreuen, besonders im geradezu sexualneurotischen 19. Jahrhundert.
Die Syphilis oder Lues kam um das Jahr 1500 nach Europa und wurde zur Volkskrankheit. Die Millionen von Menschen, die sich ansteckten, waren oft mehrfach geschlagen: durch einen Leidensweg, der nach 10 bis 20 Jahren in geistiger Umnachtung mündete. Durch die Quecksilbertherapie, die kaum half und umso mehr einer Vergiftung mit Haar- und Zahnausfall glich – erst 1905 wurde ja der Erreger Treponema pallidum entdeckt, erst 1910 stellte Paul Ehrlich sein Salvarsan vor, eine ebenfalls nicht gerade ungiftige Arsenverbindung.
Und schließlich mussten die Infizierten die Stigmatisierung ertragen, da Sexualität und erst recht Geschlechtskrankheiten von Tabus umzingelt waren wie von Stacheldraht. Die Gesellschaft ächtete die „Lustseuche“ als Geißel Gottes, als Strafe für Sünde und Ausschweifungen. So umgab die Kranken nicht nur zu Lebzeiten, sondern über den Tod hinaus eine Aura der Anrüchigkeit und Geheimniskrämerei.
Dilemma zwischen Sensationslust und Diskretion
Besonders entschlossen betrieb man das Versteckspiel bei Robert Schumann, dem 1810 in Zwickau geborenen Komponisten der Romantik. Zu seiner Erkrankung existierten lange nur spärliche Quellen. Zumal die Akten aus der Heilanstalt in Endenich, wo er seine letzten beiden Jahre zubrachte, als verschollen galten. Mal verdächtigte man Schumanns Frau Clara, sie vernichtet zu haben, mal den Klinikleiter Dr. Franz Richarz, der das Befinden und Verhalten des prominenten Patienten zusammen mit einem Assistenten akribisch dokumentiert hatte.
Doch um 1990 stellte sich heraus, dass diese Chronik eines sich ankündigenden Todes über verwandtschaftliche Pfade von Richarz zu dem Komponisten Aribert Reimann gelangt war – mit dem Gebot, strengstes Stillschweigen zu bewahren, auch motiviert durch die ärztliche Schweigepflicht. „Jahrzehntelang lebte ich mit diesem Geheimnis, das mir immer wieder schlaflose Nächte bereitete“, schreibt der Erbe. Schließlich aber sei in ihm der Entschluss gereift, „diesen Krankenbericht publizieren zu lassen, um endlich einen Schlussstrich zu ziehen unter die ständigen Spekulationen, Verleumdungen und abenteuerlichen Erfindungen.“
So wurden die Protokolle 2006, pünktlich zu Schumanns 150. Todestag, allgemein zugänglich. Auf dieser Grundlage, komplettiert durch Briefe, Tagebücher und zeitgenössische Schilderungen zeichnen zwei Neurologen ein detailliertes Bild vom Verlauf der Erkrankung: Prof. Dr. Hansjörg Bäzner, Ärztlicher Direktor am Klinikum Stuttgart, und Prof. Dr. Michael Georg Hennerici, emeritierter Ärztlicher Direktor an der Universitätsmedizin Mannheim und auch selbst Musiker.[1]
Gutgesinnte möchten das „schändliche“ Geheimnis wahren
Sie belegen, dass eine Syphilis noch plausibler wird als sie ohnehin schon war – und verweisen verwundert auf Gegenstimmen: „Merkwürdigerweise enthalten die von der Schumann-Gesellschaft in Düsseldorf veröffentlichten Originalquellen die ausführlichen Kommentare eines Psychiaters, der alles versucht, um diese Diagnose zu verwerfen.“
Damit stehe er freilich in einer langen Tradition von Vorgängern, die befürchteten, Offenheit könne das Ansehen des Komponisten beschädigen. So hatte schon Richarz behauptet, ein „unangemessenes geistiges, zumal künstlerisches Produzieren“ habe jene „durch Überanstrengung herbeigeführte Krankheit“ ausgelöst.
Als Einwand gegen die Geschlechtskrankheit war etwa vorgebracht worden, dass ein Syphilitiker wohl kaum acht Kinder zeugen könne, ohne seine Frau anzustecken. Experten aber widersprechen mit dem Argument, dass die beiden erst 1840 heirateten, 9 Jahre nach Schumanns Infektion, lange nach dem Primär- und Sekundärstadium. Also war er kaum noch infektiös, denn übertragen werden die Spirochäten hauptsächlich über mukokutane Läsionen, doch klingen diese Affekte gewöhnlich innerhalb der ersten Monate ab.
Selbstfindung wie in „Coming of age“-Geschichten
Die Jahre nach dem Abitur mit ihren Irrungen und Wirrungen könnten einem Entwicklungsroman entstammen: 1828 beginnt Schumann auf Drängen seiner Mutter ein Studium der Rechtswissenschaft, doch „die Jurisprudenz, so kalt, so trocken“ ist seine Sache nicht. „Folg ich meinem Genius, so weist er mich zur Kunst“, schreibt er ihr nach zwei verbummelten Uni-Jahren in Leipzig und Heidelberg, in die auch seine Italienreise fällt.
Der Leipziger Klavierpädagoge Friedrich Wieck nimmt ihn als Schüler an, doch unter dem Druck des rigorosen Übungspensums seines Lehrers und eigenem Ehrgeiz ruiniert er sich die rechte Hand. Ein Spezialist für Musikermedizin vermutet eine fokale Dystonie, einen „Musikerkrampf“. Zudem war er wohl als Anfänger schlicht zu alt. Zerplatzt der Traum, Virtuose zu werden und als Konzertpianist die eigenen Stücke zu spielen! Für ihn eine Tragödie, für die Nachwelt ein Geschenk, denn jetzt muss er sich, obwohl weitgehend Autodidakt, aufs Komponieren verlegen.
In dieser Phase zieht er sich die Infektion zu. Wie aus seinem Tagebuch hervorgeht, vermutet Schumann, er habe sich bei einer jungen Frau namens Christel angesteckt. So bezeichnend wie nichtsahnend nennt er sie „Charitas“ und vermerkt die Rendezvous, die er über 6 Jahre mit ihr vereinbart, mitsamt den Geldbeträgen, die er ihr zukommen lässt. Es ist anzunehmen, dass sie mit anderen Männern ähnliche Beziehungen unterhält.
Eine Bedrohung für sexuell aktive Menschen
Im Mai 1831 berichtet er von einer „bösen Wunde“, die „beißende und verzehrende Schmerzen“ verursacht. Im Juni weist die Erwähnung „das von Narzissenwasser gebissene Frenulum“ auf eine Behandlung der primären Luesmanifestation hin, meist ein Geschwür. Ein Medizinstudent, dem er von seiner „Unvorsichtigkeit“ erzählt, macht „ein verlegenes Gesicht“, um so mehr, als Schumann die Befürchtung äußert, dass „Schuld Nemesis bringt“. Einmal spricht er vom „Schmutz des Gemeinen“.
Das Wissen der zeitgenössischen Mediziner sei gut genug gewesen, um ihre Patienten auf die schwerwiegenden Folgen sexueller Abenteuer hinzuweisen, so Bäzner und Hennerici. Darüber hinaus hätten Schumann möglicherweise bekannte Fälle – vielleicht sogar Franz Schubert - vor Augen gestanden, wenn er im Tagebuch seine wachsende Angst artikuliert. Er müsse die schreckliche Vision erwogen haben, im Wahnsinn, im Irrenhaus zu enden. Folglich sei er sich der Kürze seiner Zeit bewusst gewesen, was seine Kreativität wie ein Katalysator beschleunigte. Weiter wurde spekuliert, ob die Krankheit „eine gesteigerte Sensibilität für lyrische Form und emotionale Aufwallungen ausgelöst hat, so dass er zu solch meisterhaften Vertonungen imstande war.“
Die Papillons beziehen sich auf Jean Pauls Flegeljahre
Zunächst aber wendet er sich dem Journalismus zu: Gemeinsam mit Freunden gründet er 1834 die Neue Zeitschrift für Musik, arbeitet zehn Jahre lang als Herausgeber und Kritiker, verfasst poetische Rezensionen etwa zu Chopin oder Schubert. Überhaupt liebt er, der Sohn eines Verlegers und Übersetzers, die Literatur, besonders die Romane Jean Pauls, der von dichterischen Einfällen genauso überfließt wie er von musikalischen. Wenig verwunderlich, dass Schumanns Stücke reich an literarischen Anspielungen sind, etwa die Papillons. Zu seinem Oeuvre zählen Klaviermusik, Lieder, Sinfonien, konzertante Werke, Kammer- und Chormusik, die Oper „Genoveva“ - Meisterwerke voll tiefer Empfindsamkeit.
Schumann hatte sich in Clara Wieck verliebt, doch das Ansinnen, sie zu heiraten, stößt auf den erbitterten Widerstand des Vaters: Was, dieser Taugenichts erhebt Anspruch auf sein Wunderkind, auf sie, die er – damals für ein Mädchen absolut ungewöhnlich – vom 5. Lebensjahr an zur berühmten Pianistin ausgebildet hat? Der ist doch bloß auf ihre Gagen aus! „Diese Unterhaltung mit Ihrem Vater war fürchterlich […]. Ich bin angegriffen an der Wurzel meines Lebens“, schreibt Schumann an Clara, nachdem er bei ihm um ihre Hand angehalten hat. Es bleibt den beiden nur der Weg vors Gericht – für Clara ein unerhörter Schritt, gegen den Vater zu rebellieren, dem sie so viel verdankt. In einem Prozess, der sich über ein ganzes Jahr hinzieht, erstreiten sie sich schließlich die Erlaubnis.
Produktivität wechselt mit Arbeitsblockaden
Im Hochzeitsjahr 1840 vertont Schumann knapp 150 Lieder. Doch schon im Oktober bedauert Clara im Tagebuch: „Robert sagt, er könne jetzt nicht komponieren, was ihn bedrückt. Das tut mir sehr leid ... Sicherlich wird es später mit umso größerer Kraft hervorbrechen …“ Und tatsächlich: In einem weiteren Schaffensrausch ein Jahrzehnt später komponiert er über 100 Lieder. Das ist typisch für seine Arbeit: mal euphorische Wogen voll kreativer Energie, mal „plötzliches Verblassen“. Ebenso kennzeichnen seinen Charakter starke Stimmungsschwankungen („fürchterlichste Melancholie“), weshalb heute eine bipolare Störung diskutiert wird. Dass er seine Phantasie durch Zigarrenrauchen und zeitweise exzessiven Alkoholgenuss beflügelt, kommt seiner Gesundheit nicht gerade zugute.
1844 zerschlägt sich Schumanns Hoffnung, Nachfolger von Felix Mendelssohn-Bartholdy am Leipziger Gewandhaus zu werden. Auf diese Enttäuschung hin zieht die Familie nach Dresden, wo die Jahre bis 1846 geprägt sind von Geldnöten und Krankheiten, er klagt über Müdigkeit, Nervenschwäche, Angst, Schwindel, Hörstörungen und Schwermut – wahrscheinlich Manifestationen des Tertiärstadiums, in dem sich die Erreger auf alle Organe ausgebreitet haben.
Berufliches Scheitern, verlorene Träume
Der geistige Verfall - die neurasthenische Prodromalphase - kündigt sich ab 1850 an, als Schumann die Stelle des Stadtmusikdirektors in Düsseldorf erhält. Dem Anfang wohnt der viel beschworene Zauber inne, er wird begeistert begrüßt, die Familie mit ihrer wachsenden Kinderschar atmet auf - endlich eine feste Stellung, ein sicheres Gehalt. Doch bald überschatten Konflikte das Glück. Die Musikgesellschaft ist alarmiert, dass seine Aufführungen Verrisse ernten, man kreidet ihm Träumerei, Ungeschicklichkeit, langsame Sprechweise und Verschlossenheit an.
Die Musiker ärgern sich über seine Wutausbrüche, verweigern die Proben - seine Führungsschwäche tritt offen zutage. „Dem Orchester unter Herrn Schumann fehlt die solide, sichere Angabe von Tempi, gleichmäßigen Schlägen, klaren, bestimmten und verständlichen Kommentaren“, urteilt ein Zuhörer. Ein anderer meint, er verfüge nicht über die „für einen Dirigenten erforderliche körperliche Ausdauer: Er war immer leicht erschöpft und musste sich während einer Probe ausruhen“.
Brahms – Inspiration zum letzten Höhepunkt des Schaffens
Lichtblicke in dieser Misere: die umjubelte Konzertreise des Ehepaars durch Holland und die inspirierende Bekanntschaft mit dem jungen Johannes Brahms. Schumann schwärmt in seiner Musikzeitschrift: „Er trug auch im Äußeren alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: Das ist ein Berufener. Am Klavier fing er an, wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in zauberische Kreise hineingezogen.“
Schon im Sommer 1852 ist Schumann wegen gesundheitlicher Beschwerden gezwungen, sein Amt bis Dezember einem Stellvertreter zu überlassen. Schließlich kommt es zum Eklat, so dass er zum Oktober 1854 kündigen muss.
Zumindest teilweise könnten die Probleme aufs Konto einer schwierigen Persönlichkeit gehen, etwa einen Mangel an sozialer Kompetenz, geben Bäzner und Hennerici zu bedenken. So berichtet ein Biograph, Schumann fehle die Fähigkeit, „sich in enge Beziehungen zu anderen zu versetzen und ihnen seine Meinung klar zu machen; das lag daran, dass er entweder schwieg oder so leise sprach, dass man ihn nicht verstehen konnte“. Dass er langsam, schlurfend, manchmal auf Zehenspitzen geht, zudem die Augen oft fast geschlossen hält, wird die Sympathie wohl kaum gesteigert haben. Sein Verhalten spiegele also keineswegs die Gefühlsseligkeit der Romantik wider, so die Autoren. Dieses Manko aber habe er durch seine Doppelbegabung kompensiert: die Fähigkeit, Emotionen sowohl musikalisch als auch schriftlich in Briefen, Tagebüchern und Artikeln auszudrücken.
Neurosyphilis mit „Hörwahn“ und Gepenstertreiben
Ab Februar 1854 setzen ihm wochenlang akustische Illusionen zu – meist als Musik. Darauf gründet sein letztes Klavierwerk, die Geistervariationen. „Schumann wähnte sich in jenen Tagen von Geistern umgeben, die ihm teils wundervolle, teils grässliche Musik darboten, die ihm herrlichste Offenbarungen verhießen, ihn aber auch in die Hölle [zu] werfen drohten“, berichtet Clara. Die Halluzinationen werden immer entsetzlicher, zeitweise fühlt er sich von wilden Tieren angegriffen. Er fängt an, den Verstand zu verlieren – und das bei vollem Bewusstsein.
Syphilis oder Nicht-Syphilis? Diese Frage gewinnt ab der Düsseldorfer Periode, in der immerhin ein Drittel seines Gesamtwerks entsteht, eine neue Dimension. Denn daran geknüpft ist der Streit um die Qualität der späten Kompositionen. So kursiert das Bonmot, Schumann habe als Genie begonnen und als Talent geendet. Darf man sie noch würdigen oder müsste man sie abtun als Produktionen eines in Auflösung begriffenen Gehirns? Ist das späte Requiem nicht spannungslos in seinem klassischen Funktionieren? Hat der Klavierzyklus mit dem schönen geheimnisvollen Titel Gesänge der Frühe nicht recht simple Akkorde? Vermisst man nicht in den Geistervariationen die frühere Innovationskraft? Vielleicht besitze das beschauliche, um Ordnung ringende Spätwerk eine neue, eben pathologisch bedingte Schönheit, so eine Überlegung.
Suizidversuch durch Sprung in den Rhein
Die Angst, sich oder andere zu verletzen, nimmt schließlich so überhand, dass Schumann sich Hilfe in einer Klinik erhofft. Bäzner und Hennerici betonen, dass der Wunsch von ihm selbst ausging, denn immer wieder war Clara vorgeworfen worden, sie habe ihren Mann ins Irrenhaus abgeschoben, um sich ungestört einer Romanze mit dem bewunderten Johannes Brahms zu widmen.
Im Tagebuch schreibt sie, dass Schumann in der Nacht zum 26. Februar 1854 „plötzlich aufstand und seine Kleider haben wollte. Er müsse, sagte er, in die Anstalt gehen, weil er sich nicht mehr unter Kontrolle habe und nicht wisse, was er tun solle [...] Robert legte mit nüchterner Überlegung alles bereit, was er mitnehmen wollte: Uhr, Geld, Notenpapier, Stifte, Zigarren; und als ich zu ihm sagte: Robert, willst du deine Frau und deine Kinder verlassen?, antwortete er, es wird nicht lange dauern. Ich werde bald geheilt zurückkehren.“
Obwohl Clara, die Kinder und Ärzte ständig auf ihn aufpassen, gelingt es ihm am folgenden Tag, dem Rosenmontag mitten im Düsseldorfer Karneval, das Haus zu verlassen. Von einer Brücke stürzt er sich in den Rhein. Der Brückenmeister rettet ihn.
Wenige Tage später bringt ihn eine Kutsche in die private „Anstalt für Behandlung und Pflege von Gemütskranken und Irren“ in Endenich bei Bonn. Seinen Sohn Felix, der am 11. Juni zur Welt kommt, wird er nie kennenlernen, auch seine übrigen Kinder sollte er, Schöpfer der Kinderszenen und des Albums für die Jugend, nie wiedersehen, seine Frau erst nach fast zweieinhalb Jahren, zwei Tage vor seinem Tod. Aber auch das ist - allen Kolportagen zum Trotz - kein Beweis für ihre Treulosigkeit, vielmehr geht aus mehreren Quellen eindeutig hervor, dass die Ärzte von Besuchen abraten, damit er zur Ruhe käme. Das Verbot bereite ihr „tiefes Weh“, klagt sie.
Trotz Reformpsychiatrie: „Tobezelle“ und Klavierverbot
Mit der Endenicher Klinik, die dem reformpsychiatrischen Konzept – Leitgedanke: kein Zwang - verpflichtet ist, hat es Schumann für damalige Verhältnisse gut getroffen, selbst wenn uns das heute dank Psychopharmaka nicht so erscheint. Im Aufnahmebuch ist als Diagnose „Melancholie mit Wahn“ vermerkt. Deren Therapie besteht im Abfluss gestauter, krankmachender Säfte. Daher verabfolgt man dem Patienten neben Abführmitteln nahezu täglich ein Klistier - oft gegen dessen vehementen Widerstand. Zweimal auch werden Fontanellen - künstliche Eiterherde - angelegt. Verweigert er die Einnahme von Arzneien etwa gegen Blutarmut, Unruhe und Appetitlosigkeit, mischt man sie ihm in Speisen und Getränke. Zusätzlich verordnen die Ärzte lauwarme Bäder und kalte Waschungen.
Bei hochgradigen Erregungszuständen verbietet man ihm das Klavierspielen, schließt Noten und Bücher weg, mindestens einmal wird er in die „Tobezelle“ gesteckt. Schwer abfinden kann er sich mit der pausenlosen Bewachung, sogar nachts - ein Wärter schläft bei ihm.
So fern von seinen Lieben zieht er sich in sein Inneres zurück, führt Gespräche mit sich selbst und eingebildeten Menschen. Erinnerungen an moralische Verfehlungen peinigen ihn. Wenn er ans Piano darf, gibt er die eigenen Kompositionen nur noch verstümmelt wider, ein Besucher schildert sein Spiel als ungenießbar und vergleicht ihn mit einer Maschine, deren Mechanismus zerstört ist.
Eine dunkle Zeit nicht ohne Lichtblicke
Dennoch verläuft sein Aufenthalt nicht gänzlich trostlos, trotz allem versucht er, selbstbestimmt zu leben, unternimmt zum Beispiel – begleitet von einem Wärter – Spaziergänge, manchmal bis Bonn. Zwar komponiert er fast nichts mehr, verschickt aber insgesamt noch gut zwei Dutzend Briefe, die sein erstaunlich gut erhaltenes Schreibvermögen belegen.
Die Aufzeichnungen von Richarz und seinem Kollegen illustrieren das Quartärstadium, die Neurosyphilis: ein Auf und Ab von klarem Denken, Halluzinationen und Wahnideen, Entspannung und Jähzorn.
11. April 1854: … Sagte dem Wärter, die Behörden hätten angeordnet, ihn in der Hölle zu verbrennen: Er habe zu viele schlimme Dinge getan. Nachts sehr unruhig, meist aus dem Bett, nicht ausgezogen, … stöhnte wie vor Schmerzen, war total schlaflos.
19. April 1854: … Nachts unruhig, sprach bis Mitternacht laut vor sich hin, über die Veneris, sei unglücklich, wahnsinnig geworden; stand später auf und wollte das Zimmer verlassen, wurde gewalttätig gegenüber der Pflegerin.
27. September 1854: … Schrieb einen mäßig langen, nachdenklichen und ruhigen Brief an seine Frau, mit Auslassungen einiger Worte, Datum korrekt. Nachts viel mit sich selbst gesprochen, leise, die Finger bewegten sich auf der Decke, als würde er Klavier spielen.
8. Januar 1855: … Bei der Einnahme seiner Medikamente von Gift gesprochen … ist so unorganisiert das wird ihm unmöglich, eine kurze Kommunikation über ein bestimmtes Objekt zu führen.
12. Januar 1855: Gestern Besuch von Herrn Brahms, sehr erfreut über diesen Besuch … spricht während der Visite recht frei und verständlich, aber sehr langsam und mit kindlicher Stimme (mit Auslassungen).
Von einem dieser Besuche berichtete Brahms: „Wir setzten uns hin, es wurde immer schmerzhafter für mich … Er sprach ununterbrochen, aber ich verstand nichts … Häufig hat er nur geplappert, so was wie babab-dadada.“
Diskrepanz zwischen Sprech- und Schreibvermögen
9. Februar 1855: … Spricht heute wieder von Dummheiten, dass ihn die dummen Stimmen riefen.
24. Februar 1855: Gestern gute Laune, viel geredet. Wurde besucht von Herrn Brahms.
7. März 1855: … Der Schlafentzug ist sein schlimmstes Problem, das Hören dummer Stimmen, ein böser Dämon, der ihn bedroht, derselbe, der vor sieben Monaten viele schreckliche Tiergesichter gespielt hat.
12. März 1855: Angstanfall mit Krämpfen in den Extremitäten. Klagen über Kopfschmerzen, Druck in der Brust, ängstlich. Die Sprache sehr behindert, lautlos, unverständlich, Angst, verrückt zu werden. Glaubt, von der Nemesis verfolgt zu werden. Sein Bewusstsein ist währenddessen nicht gestört … die rechte Pupille ist viel größer als die linke Pupille.
28. April 1855: Er bezieht die einfachsten Dinge auf die Verfolgungen des bösen Dämons. Er äußert den völlig unbegründeten Verdacht, dass seine Uhr zu schnell gehen könnte.
8. Mai 1855: Fast 2 Stunden Klavier gespielt, sehr wild und zusammenhangslos drohte dem Wärter mit einem Stuhl … seine Rede murmelt ähnlich wie bei einem Betrunkenen.
19. Mai 1855: Gestern sehr schüchtern, konnte sich nur kurze Zeit am Klavier aufhalten, oft wurde sein ganzer Körper von Schauern und starken Krämpfen überfallen …
16. Juni 1855: … ist völlig ruhig, ohne irgendwelche Symptome von Wahnsinn oder Halluzinationen.
9. Juli 1855: … Sagt, er habe Schmerzen im Bauch, er habe überall Schmerzen
25. Juli 1855: War aufgeregt, impulsiv, laut, schlug den Wärter, alles wurde vergiftet, nachts ständig aufgeregt, schreiend, wütend.
Mal freundliche, mal aggressive Stimmung
25. August 1855: Gestern ruhig, freundlich, in gehobener Stimmung mit sich selbst redend, viel lachend.
12. September 1855: Notierte abrupte Erwähnungen melancholischen Inhalts während der vergangener Tage und Reflexionen wie: 1831 war ich syphilitisch und wurde mit Arsen geheilt.
10.10.1855: Seit gestern überaus laut, schreiend, schreiend, auch nachts: geht im Zimmer umher, berührt dabei mehrere seiner Werke und schreit: das ist meins. Aussehen sehr ungeordnet. […] Gießte den Wein in den Schrank und behauptete, dies sei Urin.
19. Januar 1856: Bei den Abendrunden freundlich, bemüht, zusammenhängend zu sprechen.
16. April 1856: War ruhig, verbrannte die Briefe seiner Frau gestern abend und heute morgen … widerspricht, dass er überhaupt Briefe verbrannt hat …
9. Juni 1856: Gestern Geburtstagsgruß von Herrn Brahms erhalten; war unangenehm und sprach von Gift, wenn heiße Schokolade serviert wurde.
Abmagerung und Lungenentzündung
Ab Mitte Juli isst Schumann immer weniger. Am 26. Juli kommt es zu „Zuckungen in verschiedensten Muskeln, des Gesichts und der Gliedmaßen“. Eine Pneumonie kündigt sich an. Endlich, am 27. Juli, als das Ende absehbar ist, darf Clara ans Sterbebett.
29. Juli 1856: War von gestern Mittag an ruhig. auch während der Nacht, nahm von seiner Frau ein paar /Thee/Löffel Fruchtgelée und etwas Wein. heute Morgen freiwillig einige Löffelchen Gelée. Urinirte ins Bett. Abends starkes Schleimrasseln. Der Puls 120. Athmungen 44. /fast/ Kein Zähneknirschen […] Beim heutigen Besuch seiner Frau freundlich, dieselbe anlächelnd, auch nach derselben den Arzt anlächelnd. – bleiches Aussehen. Bei der visite starkes Schleimrasseln.
Clara schreibt: „Er hat furchtbar gelitten, obwohl der Arzt etwas anderes gesagt hat. Glieder waren in ständigen Krämpfen. Seine Rede war oft sehr heftig. Ah! Ich betete zu Gott, ihn freizulassen, weil ich ihn so liebte.“
30. Juli 1856: Gestern um 1 Uhr nachmittags 60 Atemzüge, Puls fast unverständlich. Gestorben gestern um 16:00.
Clara ist zu diesem Zeitpunkt gerade gegangen, doch eine Pflegerin leistet ihm Beistand.
Die Autopsie zeigt die Degeneration des Gehirns
Klinikleiter Richarz macht eine Obduktion, sein Befund lautet „paralysie générale incomplète“. Er konstatiert das typische Endstadium: Hyperämie und Knochenwucherungen („sulzige Massen“) an der Hirnbasis, Verwachsungen der Hirnhäute mit der Rindensubstanz und Atrophie – Folgen der jahrelangen Entzündung.
Bäzner und Hennerici fassen die Hauptsymptome der allgemeinen Paralyse zusammen: Schumann hatte akustische, visuelle und szenische Halluzinationen, er zeigte paranoide Vergiftungsängste, aggressives Verhalten und fokale, zuletzt auch generalisierte Anfälle. Weitere Symptome: Inkontinenz und starke Sprechstörungen. Auffallend waren seine abnorm weiten Pupillen, weiterhin ausgeprägte Stereotypien wie tagelanges Dominospielen. Durch Kachexie geschwächt starb er letztlich an einer Lungenentzündung.
In ihr Tagebuch schreibt Clara: „Ich stand bei der Leiche meines geliebten Mannes und war in Frieden; alle meine Gefühle gingen in Gott, dass er endlich frei war“.
An ihre Kinder schreibt sie: „Euer teurer Vater ist nicht mehr. Gestern ist er Nachmittag 4 Uhr nach vielen Leiden ganz sanft hinübergeschlummert … Er war ein herrlicher Mensch ...“
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