Suizid, Unfall oder Mord: ein Fall für Kriminaltechniker und Rechtsmediziner

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Patienten-Fall
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Kernbotschaften

Wer als Notarzt zu einer bekanntermaßen schwer depressiven Person gerufen wird, die sich erhängt hat, geht in der Regel von einem Suizid aus. Hat der Tote jedoch auffallende frische offene und zudem ausgedehnte Wunden, kann sich der Verdacht auf einen Unfall oder auf einen als Suizid vorgetäuschten Mord oder Totschlag aufdrängen. Für Klarheit können dann meist nur noch Kriminaltechniker und Rechtsmediziner sorgen, so wie in dem Fall eines 58-jährigen Mannes, den die Rechtsmedizinerin Dr. Barbara Gualco und ihre Kollegen von der Universität von Florenz im „Journal of Medical Case Reports" schildern.

Der Mann und seine Geschichte

Der 58-jährige Mann wurde von seiner Ehefrau im Keller des eigenen Hauses tot von der Decke herab hängend aufgefunden. Die Fremdanamnese ergab, dass der Mann seit vielen Jahren an schweren Depressionen litt. Er hatte sich mehrere Jahre lang zurückgezogen und war viele Jahre zuvor ohne ersichtlichen Grund in den Keller gezogen. Der Mann nahm einen selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Sein Tagesablauf bestand früher darin, sich morgens um den Gemüsegarten zu kümmern und nachmittags mit Tischlerarbeiten zu beschäftigen. Bereits zwei Jahre zuvor  hatte er versucht, sich durch den Konsum von Alkohol zusammen mit den Antidepressiva das Leben  zu nehmen, 

Die Befunde vor Ort

Die erste Inspektion des Todesortes führte zu der Annahme, dass es sich um einen Suizid handelte; da jedoch eine große Menge Blut und einige Schnittwunden am Pullover festgestellt wurden, wurde ein Rechtsmediziner hinzugezogen. Die vorläufige Untersuchung der Leiche ergab in der Nabelgegend eine breite Schnittwunde mit unregelmäßigen Rändern und sichtbarem Muskelgewebe.

Aufgrund dieser Verletzungen wurde der Tatort sorgfältig untersucht;  weitere Blutspuren wurden, abgesehen von einer kleinen Blutlache unterhalb des Körpers, nicht gefunden. Bei der Inspektion der Umgebung fand die Polizei im Garten neben dem Hof allerdings eine Kettensäge mit Blutspritzern sowohl auf der Klinge als auch auf dem Griff. In der Nähe der Kettensäge im Garten wurden auch einige Textilfragmente in der Farbe des Pullovers gefunden. Die Kettensäge hat ein Gewicht von 4,4 kg und eine Klingenlänge von 41 cm. Laut Betriebsanleitung beträgt die maximale Drehzahl 2400 Umdrehungen pro Minute ohne Last. Die Säge läuft nur, wenn der Gashebel des Handschalters betätigt wird; wird der Griff losgelassen, bleibt das Sägeblatt stehen. Auf der Kettensäge wurden nur die Fingerabdrücke des Opfers gefunden. Die Untersuchung der Wunde (Richtung, Ausrichtung, Tiefe) ergab, dass sie nur vom Opfer selbst verursacht worden sein kann. 

Die Obduktions-Befunde 

Die Obduktion wurde am Tag nach dem Todeszeitpunkt durchgeführt. Die äußere Untersuchung ergab eine Ligaturmarke um den Hals und eine tiefe Schnittwunde von 16 cm Breite und bis zu 4,5 cm Länge im Mesogastrium. Die Wundränder waren allgemein eingerissen, teilweise mit Schürfwunden. Die Wunde war von einer breiten rötlichen Schürfwunde umgeben, die 23 cm breit und 12 cm lang war. Das Hautmal am Hals war bräunlich-gelb, die vordere Oberfläche war pergamentartig; außerdem war eine schmale Zone mit geröteter Hyperämie an beiden Rändern zu sehen. Es wurden subkonjunktivale Petechien beobachtet. Äußerlich wurden keine weiteren relevanten Verletzungen festgestellt. 

Die Autopsie ergab eine hämorrhagische Infiltration des rechten Musculus omohyoideus und des Musculus sternocleidomastoideus, der Schildknorpel und das Zungenbein waren intakt. Alle inneren Organe waren intakt; ausgenommen waren durch die Kettensäge zerfetzte Darmschlingen.

Die Todesursache wurde als Erstickung durch Erhängen festgestellt. Der traumatische Schock und die Blutung durch die Bauchverletzung standen nicht im Zusammenhang mit dem tödlichen Ereignis. 

Diskussion und Empfehlungen

Es handelt sich in dem beschriebenen Fall um einen „kombinierten Suizid“ (selbstverletzende Handlungen mit verschiedenen Methoden und an verschiedenen Körperstellen), der mit ungewöhnlichen tödlichen Methoden durchgeführt wurde: Kettensäge und Erhängen. Suizide oder Suizidversuche mit Werkzeugen wie Band- oder Kreissägen sind in der gerichtsmedizinischen Praxis selten anzutreffen; in der forensischen Literatur sind nur wenige Fälle beschrieben worden. 

In dem Fall des 58-jährigen Mannes erforderte das Vorhandensein mehrerer, potenziell tödlicher Verletzungen die Differenzialdiagnose zwischen Suizid und Mord bzw. Totschlag. In Fällen wie diesem kann eine „psychologische Autopsie" eine Schlüsselrolle spielen, also die Analyse des psychologischen Profils und des psychischen Zustands des Toten.

Den Autoren zufolge gibt es viele Gründe für die Erstellung eines psychologischen Profils, wobei der häufigste Grund darin besteht, die Todesursache oder die Todesart zu ermitteln, sei es ein natürlicher Tod, ein Suizid, ein Mord oder ein Unfall. Für eine psychologische Autopsie müssen mehrere Informationen gesammelt werden. Dazu gehören persönliche Informationen (Drogen- und Alkoholmissbrauch in der Vergangenheit, bekannte Belastungen, Lebensstil, Beziehungen usw.), biografische Informationen (Geburtsdatum, Beruf, Ehe- oder Beziehungsstatus), sekundäre Informationen (Vorstrafen, Familiengeschichte) und Informationen, die durch Befragung von Familienmitgliedern des Toten oder der Toten gesammelt wurden.