Soziale Ungleichheit bei Krebsneuerkrankungen in Deutschland nimmt zu

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Medizinische Nachrichten
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Kernbotschaften

Die altersstandardisierten Krebs-Neuerkrankungsraten sinken – doch nicht alle Menschen in Deutschland profitieren gleichermaßen von diesem Trend: Der Rückgang ist laut aktuellen Studien-Daten in den am stärksten benachteiligten Regionen der Republik deutlich weniger ausgeprägt als in den wohlhabenderen Gegenden. Ihre Forschungsbefunde haben die Studien-Autoren vom Deutschen Krebsforschungszentrum im „International Journal of Cancer“.

Soziale Ungleichheiten im Zusammenhang mit Krebserkrankungen sind national und international vielfach dokumentiert. Ob es darum geht, wie häufig Früherkennungsuntersuchungen wahrgenommen werden, oder um die Rate an Krebsneuerkrankungen, die Krebssterblichkeit oder das Krebsüberleben – immer wirke sich der sozioökonomische Hintergrund der Menschen aus, so eine Mitteilung des Deutschen Krebsforschungszentrums.

Dabei spiele das individuelle Einkommen eine Rolle, aber auch die regionale sozioökonomische Situation am Wohnort der Menschen. So erkrankten der Mitteilung zufolge während der Jahre 2010 bis 2013 in den sozioökonomisch schwächsten Regionen in Deutschland 7,3 Prozent mehr Männer an Krebs als in den wohlhabenden Gegenden.  
Seit 2007 sinkt in Deutschland die altersstandardisierte Neuerkrankungsrate für fast alle Krebsarten (Lungenkrebs bei Frauen ist eine wichtige Ausnahme). „Bislang wurde jedoch kaum untersucht, wie sich dieser Trend auf die sozialen Ungleichheiten auswirkt“, sagt Lina Jansen vom Epidemiologischen Krebsregister Baden-Württemberg am DKFZ. 

In ihrer aktuellen Studie untersuchten die Epidemiologen um Jansen und Volker Arndt diese Frage auf regionaler Ebene anhand der Daten der Krebsregister, die insgesamt 48 Millionen Einwohner aus acht deutschen Bundesländern (rund 60 Prozent der Bevölkerung) abdecken. Berücksichtigt wurden die Krebsdiagnosen zwischen 2007 bis 2018. 


Die Forscher stuften zunächst alle in die Studie eingeschlossenen Regionen anhand eines sozioökonomischen Index in eine von fünf Gruppen ein. Über die fünf Einstufungen hinweg ging während des Beobachtungszeitraums die Neuerkrankungsrate für fast alle Krebsarten zurück. Doch für Krebs insgesamt sowie für Darmkrebs und Lungenkrebs bei Männern war dieser Rückgang in den am stärksten benachteiligten Regionen deutlich weniger ausgeprägt als in den wohlhabenderen Gegenden. Im Laufe des Beobachtungszeitraums wurde darüber hinaus eine Ausweitung der Ungleichheit festgestellt: 2007 hatten Männer in den sozioökonomisch schwächsten Regionen eine um sieben Prozent höhere Krebsneuerkrankungsrate als Männer in den am wenigsten benachteiligten Gebieten. Dieser Unterschied stieg über die Jahre an und erreichte einen Wert von 23 Prozent im Jahr 2018. Bei den Frauen stieg der Unterschied von sieben Prozent in 2007 auf 20 Prozent in 2018.  Besonders ausgeprägt war diese Diskrepanz bei Lungenkrebs: 2018 war er in den sozioökonomisch schwächsten Regionen im Vergleich zu den wohlhabendsten Gegenden bei Männern um 82 Prozent und bei Frauen sogar um 88 Prozent häufiger. Weitere Analysen geben Hinweise auf Ursachen dieses Trends: So unterschied sich die Gesundheitsversorgung - etwa Ärztedichte, Entfernung zum nächsten medizinischen Zentrum, Zahl der Krankenhausbetten oder Pflegeheime - zwischen den sozioökonomisch unterschiedlichen Regionen nicht sehr stark.

Die sozialen Faktoren scheinen also eine viel größere Rolle zu spielen als die generelle Infrastruktur, so Erstautorin Lina Jansen. Ein deutliches sozioökonomisches Gefälle gebe es dagegen bei der Verbreitung von Tabak- und Alkoholkonsum, Bewegungsmangel oder starkem Übergewicht. 
Große Unterschiede gebe es auch bei Faktoren wie Arbeitslosigkeit, Anteil an Sozialhilfeempfängern oder der Schulabbrecherquote.

Fazit der Autoren: „Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die sinkende Prävalenz von Krebsrisikofaktoren, insbesondere des Rauchens, und die teilweise zunehmende Inanspruchnahme von Krebsvorsorgeuntersuchungen zu einem ermutigenden Rückgang der altersstandardisierten Krebsinzidenz für Krebs insgesamt und für die häufigsten Krebsarten geführt haben könnten. Diese Entwicklung war jedoch in den benachteiligten Bezirken weniger ausgeprägt, was zu einer Ausweitung der sozioökonomischen Ungleichheiten bei der Gesamtkrebs-, Darmkrebs- und Lungenkrebsinzidenz führte. Weitere Forschungsarbeiten sind erforderlich, um die Auswirkungen des individuellen sozioökonomischen Status, des gesundheitsbezogenen Verhaltens, der Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen und der selektiven Migration oder sozialen Mobilität zu berücksichtigen. Maßnahmen zur Förderung eines gesunden Lebensstils, um die Prävalenz von Risikofaktoren zu verringern und die Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen zu erhöhen, sollten grundsätzlich universell ausgerichtet sein. Ihre Intensität sollte sich jedoch nach dem Grad der Bedürftigkeit richten, was zu einer höheren Intensität in sozioökonomisch benachteiligten und städtischen Regionen führt. Dieser Grundsatz des proportionalen Universalismus könnte von politischen Entscheidungsträgern bei der Gestaltung künftiger Maßnahmen zur Überwindung der beobachteten zunehmenden Ungleichheiten bei der Krebsinzidenz herangezogen werden. 

Insgesamt zeigten die Ergebnisse laut Jansen erneut, „dass wir in Zukunft besondere Anstrengungen unternehmen müssen, damit alle Menschen gleichermaßen von Empfehlungen zu einem gesunden Lebensstil und von Krebs-Früherkennungsuntersuchungen profitieren - unabhängig von ihrer Postleitzahl“.