Sorge: Impfregister vor Impfpflicht
- Presseagentur Gesundheit (pag)
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Mangelnde Führung, Schlingerkurs, kaum Präsenz im Fachausschuss: Der gesundheitspolitische Sprecher der Union, Tino Sorge, wirft Minister Karl Lauterbach diverse Versäumnisse vor. Im Interview mit Univadis schlägt er aber auch versöhnliche Töne an, erörtert die Impfpflichtideen der CDU/CSU-Fraktion und nimmt auch zum sensiblen Thema Sterbehilfe Stellung.
Univadis: Herr Sorge, wie fühlen Sie sich als direkter politischer Gegenspieler zu Gesundheitsminister und Medienliebling Karl Lauterbach?
Sorge: Medienliebling zu sein, heißt noch lange nicht, gute Gesundheitspolitik zu machen. Leider ist die Präsenz des Ministers in den Medien deutlich größer als im Gesundheitsausschuss. Dort müsste er dem Parlament eigentlich Rede und Antwort stehen, fällt aber oft durch Abwesenheit auf. Dennoch: Uns eint das gemeinsame Ziel, das Land gut durch die Pandemie und zurück in die Normalität zu führen. Ein ständiges Gegeneinander wird unser Gesundheitswesen nicht voranbringen, aber über Mittel und Wege kann man trefflich streiten.
Univadis: Die Union muss sich noch in ihrer Oppositionsrolle zurechtfinden. Zumindest erweckt die Impfpflichtdebatte diesen Eindruck. Erst sagt Ihr Kollege Stephan Pilsinger, die Union legt einen Vorschlag vor, wovon er von der Fraktion zurückgepfiffen wurde. Jetzt präsentiert Ihre Fraktion doch einen eigenen Vorschlag. Was war da los?
Sorge: Für uns als Union galt immer der Grundsatz: Erst beraten, dann entscheiden. Das war Leitgedanke unserer fraktionsinternen Gespräche mit Experten in den letzten Wochen – darunter Mediziner, Ethiker, Juristen und viele andere. Als einzige Fraktion hat die Union jetzt ein flexibles Vorsorgekonzept entwickelt, das der Dynamik der Pandemie gerecht wird. Es eignet sich für alle künftigen Szenarien und zeigt Augenmaß, wo andere nur pauschale Lösungen fordern. Damit unterscheiden wir uns von allen anderen Anträgen. Unser Konzept findet große Zustimmung und wir sind zuversichtlich, dass es mehrheitsfähig sein wird.
Univadis: Was genau hätten Sie sich von Herrn Lauterbach gewünscht?
Sorge: Zweierlei: Ein Mindestmaß an politischer Führung, vor allem aber weniger Kehrtwenden. Im Januar schlug Karl Lauterbach Alarm, die Impfpflicht müsse schnell kommen – um dann wenige Tage später zu sagen: Besonderer Zeitdruck bestehe nicht. Als nächstes sagte er, er arbeite als Abgeordneter an einem Vorschlag für eine Impfpflicht ab 18 – und wenige Tage später stellte er seine Arbeiten mit der Begründung ein, das sei nun doch keine so kluge Idee.
Univadis: Erörtern Sie uns doch Ihren Vorschlag...
Sorge: Seit Omikron ist klar: Pauschale Parolen wie die Impfpflicht ab 18 oder ab 50 werden der Dynamik von Corona nicht gerecht. Einerseits fehlt ihnen das wissenschaftliche Fundament, andererseits werden sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kaum gerecht. Vor einer Impfpflicht müssten die milderen Mittel ausgeschöpft sein. Darum fordern wir ein Impfregister als Datenbasis, einen Ausbau der Beratungsangebote sowie der Impf-Infrastrukturen für den Bedarfsfall.
Univadis: Und eine Impfpflicht?
Sorge: Eine Impfpflicht schlagen wir nur als letztes Mittel und nur unter speziellen Bedingungen vor. Konkret müsste saisonal eine besonders gefährliche Variante drohen, denn nicht jede Corona-Variante ist so gefährlich, dass sie eine Impfpflicht rechtfertigen könnte. Zudem müssten dann auch passende, effektiv wirksame Impfstoffe verfügbar sein. Ohne sie wäre eine Impfpflicht schließlich sinnlos. Käme in einer kritischen Lage dann eine Impfpflicht in Betracht, dürfte sie nicht gleich automatisch für alle Menschen gelten. Stattdessen wäre auch hier Augenmaß geboten: Die Impfung dürfte nur für jene Gruppen zur Pflicht werden, die durch die jeweilige Variante tatsächlich auch besonders gefährdet sind – zum Beispiel Senioren. Dieser Grundsatz muss übrigens gerade dann gelten, wenn die Impfung keinen verlässlichen Fremdschutz bietet, sondern „nur“ einen Eigenschutz. Das haben wir bei bisherigen Corona-Varianten beobachtet, und es ist auch für die Zukunft zu erwarten. Nicht zuletzt fordern wir in jedem Fall eine klare zeitliche Befristung durch das Parlament – denn eine Impfpflicht, sollte sie jemals kommen, müsste besonders streng durch den Bundestag kontrolliert werden.
Univadis: Aber „vor die Welle“ kommen wir dadurch nicht…
Sorge: Kein Ansatz kommt mit Sicherheit „vor“ künftige Wellen. Selbst im extremen Szenario einer Impfpflicht für alle: Wir wüssten heute nicht, wie gut die Impfstoffe vor den Varianten von morgen schützen. Wir müssen uns also ohnehin immer an der jeweils aktuellen Variante orientieren – und an der Wirksamkeit der dann verfügbaren Vakzine. Allein die bloße Hoffnung, dass die Impfung auch vor künftigen Varianten einigermaßen gut schützen könnte, darf keine allgemeine Pflicht zur Impfung begründen. Das wäre unverhältnismäßig und auch unwissenschaftlich.
Univadis: Warum ist ein Impfregister so wichtig?
Sorge: Kaum zu glauben ist ja: Einzelne Politiker fordern die Impfpflicht für alle, wissen aber nicht einmal, wie die Impfquoten in den einzelnen Bevölkerungs- und Altersgruppen aussehen. Auch darum fordern wir als einzige Fraktion im Bundestag den Aufbau eines Impfregisters. Eine Impfpflicht kann es ohne datenbasierte Entscheidungsgrundlage nicht geben. Nur mit einem Impfregister wird es in Zukunft überhaupt eine Datengrundlage geben, um über die Notwendigkeit von Impfungen zu beraten – und um den Erfolg künftiger Impfkampagnen zu messen. Es geht schließlich auch um die Erfassung von Nebenwirkungen, Impfdurchbrüchen und anderen Faktoren. Eine Impfpflicht ohne fundierte Daten wäre der reinste Blindflug.
Univadis: Kommen Ihnen die Befürworter der allgemeinen Impfpflicht mit ihrem Vorschlag nicht entgegen? Immerhin sollen die Kassen demnach die Impfdaten versichertenindividuell speichern.
Sorge: Das Problem ist doch seit Tag eins: „Allgemeine“ Lösungen gibt es bei Corona nicht. Darum bringt uns der Vorschlag nicht weiter. Auch von Seite der Krankenkassen war ein Aufschrei zu hören wie selten zuvor. Sie wollen die Kontrolle einer Impfpflicht nicht übernehmen und befürchten, als „Impfpolizei“ wahrgenommen zu werden. Darum hätten es entsprechende Forderungen in der Praxis sehr schwer.
Univadis: Neben der Pandemie gibt es noch andere wichtige Themen, zum Beispiel die Stabilisierung der GKV-Finanzen über 2022 hinaus. Milliardenschwere Leistungsausweitungen von Jens Spahn werden jetzt finanzwirksam. Was sagen Sie zu den Plänen der Ampel?
Sorge: Die Leistungsausweitungen der letzten Jahre gehen nicht auf die Person von Jens Spahn zurück, sondern auf die Koalition von Union und SPD. Es ist erstaunlich, wenn einige Sozialdemokraten sich jetzt von den gemeinsam beschlossenen Vorhaben distanzieren. Richtig ist aber, dass die GKV-Finanzen pandemiebedingt und auch demografiebedingt steigen. Die Versorgungsbedarfe verändern sich grundlegend. Auf der Finanzierungsseite lässt die Ampel viele Fragen offen. Im Gesundheitsressort bleibt ungeklärt, wie zum Beispiel die angekündigte Dynamisierung des Bundeszuschusses für die GKV aussehen soll. Die Frage ist, wie die Ampel verhindern will, dass daraus ein Fass ohne Boden wird. Währenddessen soll wieder einmal vor allem im Arzneimittelbereich gespart werden. Das mag zwar populär sein, ein kritischer Kostentreiber ist der Sektor aber seit Jahren nicht mehr. Übrigens auch dank des AMNOG. Unbequemer dürfte die Tatsache sein, dass stattdessen auch in anderen GKV-Bereichen oder in den Kliniken großes Einsparpotenzial besteht.
Univadis: Ein sensibles Thema ist Sterbehilfe. Ex-Minister Spahn hat seinerzeit das BfArM angewiesen, das Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital nicht herauszugeben. Dafür bekommt er nun quasi aus seiner Heimat, vom Oberverwaltungsgericht Münster, die Absolution. Was halten Sie vom überfraktionellen Antrag um die Abgeordneten Kappert-Gonther, Vogler, Strasser, Heveling und Castellucci?
Sorge: Im Gegensatz zur Impfpflichtdebatte berührt das Thema Sterbehilfe existenzielle ethische und auch religiöse Fragen zwischen Leben und Tod. Daran sieht man, wie behutsam man mit dem Instrument der Gewissensfrage und der Gruppenanträge umgehen sollte. Bei der Sterbehilfe ist das angebracht. Ich schätze es sehr, dass sich mehrere Abgeordnete unterschiedlicher Fraktionen der Problematik annehmen.
Univadis: Und was denkt der Abgeordnete Tino Sorge persönlich?
Sorge: Selbstbestimmtes Leben heißt nach meiner persönlichen Auffassung auch selbstbestimmtes Sterben. Ich habe deshalb schon in der Bundestagsdebatte 2015 für einen vermittelnden Lösungsansatz geworben, der damals keine parlamentarische Mehrheit fand. Im Rahmen dessen wäre die Möglichkeit selbstbestimmten Sterbens vorgesehen gewesen, allerdings in klar definierten Grenzen. Gerade bei todkranken Menschen ist es auch ein Gebot der Nächstenliebe, diesen auf deren klar geäußerten Wunsch ein menschenwürdiges Beenden des eigenen Lebens zu ermöglichen. Gleichzeitig fände ich es für unsere Gesellschaft aber ein fatales Signal, Suizid, quasi als einfach verfügbare Lösung, zu trivialisieren.
Univadis: Was sollte Ihrer Meinung nach getan werden?
Sorge: Zwar sollte jedem Menschen die individuell frei bestimmte Entscheidung zugestanden werden, aus dem Leben scheiden zu wollen. Viel stärker müssen wir aber die Hilfe für Suizidgefährdete ausbauen und Beratungsangebote vorhalten. Klar ist: Der Tod in seiner unwiderruflichen Konsequenz, wenn auch selbstbestimmt, kann nur der allerletzte Schritt sein.
Univadis: Eine weitere große Baustelle ist die Pflegefinanzierung. Spahns Gesetz war eher ein Reförmchen als der Game Changer. Muss es nicht einen radikalen Paradigmenwechsel geben?
Sorge: Für einen Paradigmenwechsel hätten die Ampel-Fraktionen im Zuge ihrer Koalitionsverhandlungen ja gute Gelegenheit gehabt. Doch auch die Koalitionäre dürften gemerkt haben, dass die radikalen Lösungen selten die besten sind. In unserer alternden Gesellschaft ist das System dringend reformbedürftig. Umso erstaunlicher ist es, dass die Ampel die Reform der sozialen Pflegeversicherung nun auf das Jahr 2023 vertagt. Wenn erst eine Expertenkommission betraut wird, sind in der Zwischenzeit keine handfesten Ergebnisse zu erwarten.
Univadis: Was schlagen Sie vor?
Sorge: Ich persönlich würde mir für die Zukunft wünschen, dass die Säule der eigenen Vorsorge gestärkt wird. In Deutschland wird viel zu wenig privat vorgesorgt, auch im Vergleich mit anderen Ländern. Viele Bürgerinnen und Bürger unterschätzen, dass schon kleine Beträge pro Monat ein solides Polster für das Alter sichern können – gerade wenn sie mit staatlicher Förderung angespart würden. Das Sparen und Vorsorgen muss vor allem für junge Leute attraktiver werden. Sie profitieren davon über die Jahrzehnte am meisten. Stärken wir die private Altersvorsorge, entlastet das auch die staatliche Pflegefinanzierung.
Univadis: Eines Ihrer Steckenpferde ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Bisher ist die Umsetzung ein Trauerspiel. Beispiel: E-Rezept. War die Entscheidung richtig, die flächendeckende Einführung zu verschieben? Was muss die Ampel ihrer Meinung nach dringend anpacken?
Sorge: Es kann nicht sein, dass jedes Digitalisierungsvorhaben von Frist zu Frist verschoben und aufs Neue in Frage gestellt wird. Die Fachwelt hat in dieser Frage vergebens auf ein Machtwort des neuen Ministers gewartet. Was bleibt, ist Verunsicherung bei all jenen, die das E-Rezept oder die ePA mit Kraft vorantreiben wollen. Der Corona-Expertenrat der Bundesregierung und auch der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen haben mit großem Nachdruck auf den Digitalisierungsbedarf hingewiesen. In den vergangenen Jahren haben wir das Tempo in diesem Bereich erhöht wie nie zuvor. Die Ampel wird daran anknüpfen müssen. Ein positives Signal ist der Sinneswandel der SPD bei der Nutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung. Dass sie den Weg für ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz frei macht, ist eine lang ersehnte Kehrtwende mit großem Potenzial für Wissenschaft und Medizin. Immerhin blicken wir zurück auf drei Jahre und drei Digitalisierungs-Gesetze, die von einer dogmatischen Blockadehaltung der SPD geprägt waren.
Univadis: Apropos: Haben Sie eigentlich eine ePA und wie nutzen Sie sie?
Sorge: Ich nutze die elektronische Patientenakte selbst und empfehle das auch allen anderen. Glücklicherweise hat sie noch nicht allzu viele Einträge und ich hoffe, dass das auch in den kommenden Jahren so bleibt. Für den Fall der Fälle ist es gut, notwendige Informationen digital griffbereit zu haben.
Univadis: In der Opposition sitzt die CDU/CSU zwischen Die Linke und der AfD. Mit wem gibt es denn größere gesundheitspolitische Schnittmengen und welche sind das? Linken-Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte hat die Union ja bereits zur Zusammenarbeit eingeladen. Das wäre doch eine interessante Konstellation …
Sorge: Als Union tauschen wir uns mit anderen Fraktionen so aus, wie es der demokratischen Übung entspricht. Mit den Linken finden wir inhaltlich nur schwer Schnittmengen, stimmen uns aber durchaus bei bestimmten Fragen im Ausschuss ab. Die AfD hat sich durch ständige Provokationen isoliert und durch fachliche Fehltritte disqualifiziert. Eine Zusammenarbeit mit ihr ist ausgeschlossen.
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