Seltene Krankheiten: allein in Deutschland rund vier Millionen Menschen betroffen
- Dr. med. Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Kernbotschaften
Am 28. Februar 2023 ist der Tag der Seltenen Erkrankungen. Dabei handelt es sich oft um chronische und auch lebensbedrohliche Krankheiten. Erkannt werden sie häufig verzögert. Außerdem gibt es gegen viele von ihnen keine wirksamen Therapien. Da es viele Seltene Erkrankungen gibt, ist die Zahl der Menschen, die insgesamt betroffen sind, groß. Bis zur richtigen Diagnose einer Seltenen Erkrankung vergehen oft Jahre, was mit einem langen Leidensweg für die Betroffenen verbunden ist. Bei 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen ist das Nervensystem beteiligt, daher setzt sich einer Mitteilung zufolge auch die Deutsche Gesellschaft für Neurologie für bessere Versorgungsstrukturen, Weiterbildung und mehr Forschung dazu ein.
Meist, aber nicht immer genetisch bedingt
In der Europäischen Union (EU) gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Trotz der geringen Prävalenz sind viele Menschen betroffen. Die Erklärung für die scheinbare Diskrepanz: Es gibt rund 8000 unterschiedliche Seltene Erkrankungen (SE). Allein in Deutschland leben etwa vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung, in der gesamten EU mehr als 30 Millionen.
Seltene Erkrankungen bilden eine Gruppe von sehr unterschiedlichen und zumeist komplexen Krankheitsbildern. Etwa 80 Prozent der Seltenen Erkrankungen sind genetisch bedingt oder mitbedingt, aber nicht alle Seltene Krankheiten haben genetische Ursachen. So gibt es zum Beispiel sehr seltene Infektionskrankheiten, seltene Formen von Autoimmun-Störungen oder auch seltene Krebskrankheiten. Von den meisten Seltenen Krankheiten sind die Ursachen noch nicht geklärt.
Bei vielen seltenen Krankheiten können die ersten Symptome schon kurz nach der Geburt oder in früher Kindheit auftreten (etwa proximale spinale Muskelatrophie, Neurofibromatose, Osteogenesis imperfecta, Chondrodysplasie oder Rett-Syndrom). Bei über 50 Prozent der Seltenen Krankheiten manifestiert sich die Erkrankung dagegen erst im Erwachsenenalter (z.B. Huntington-Krankheit, Morbus Crohn, Charcot-Marie-Tooth-Krankheit, amyotrophe Lateralsklerose oder Kaposi-Sarkom).
Aufgrund der geringen Zahl an Menschen, die von einer bestimmten Seltenen Erkrankung betroffen sind, und auch der vergleichsweise geringen Zahl an Spezialisten ist es schwer, Studien zu den einzelnen Erkrankungen durchzuführen. Aufgrund kleiner Fallzahlen und entsprechend niedriger Gewinnerwartungen sind sie außerdem für die Pharmabranche kaum attraktiv.
Fehldiagnosen an der Tagesordnung
Eine erste Herausforderung, die Ärzte meistern müssen, ist, eine Seltene Krankheit überhaupt in Erwägung zu ziehen. Stellen sich ihnen Menschen mit Symptomen vor, die von anderen Krankheitsbildern gut bekannt sind, führt die Erfahrung manchmal vorschnell zu einer Diagnose bzw. Fehldiagnose. Beispiel Morbus Fabry: In 39 Prozent der Fälle wird zunächst die Diagnose einer rheumatischen Erkrankung gestellt, in 15% der Fälle lautete die Erstdiagnose Arthritis, in sieben Prozent Fibromyalgie und bei 13 % der Betroffenen wird das Leiden als psychosomatisch eingestuft. Fehldiagnosen sind bei Seltenen Erkrankungen an der Tagesordnung und werden schätzungsweise bei 40% der Betroffenen gestellt. Sie führen zu Fehlbehandlungen, die die Situation natürlich nicht verbessern und häufig noch verschlechtern. Der Leidensweg der Betroffenen ist lang – im Durchschnitt dauert es über drei Jahre, bis eine Seltene Erkrankung richtig diagnostiziert wird.
Diagnose unklar: ein Register soll helfen
Diesen Weg vereinfachen soll das „Register für Menschen mit ungeklärter Diagnose“ (RoUnD), das aktuell im Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) am Universitätsklinikum Heidelberg (UKHD) entsteht. Darin werden laut einer aktuellen Mitteilung die Daten der Betroffenen hinterlegt und regelmäßig mit dem neusten Forschungsstand abgeglichen.
Nach Angaben von Privatdozentin Dr. Daniela Choukair, Ärztliche Koordinatorin am ZSE Heidelberg, bleiben aktuell „ca. zwei Drittel der Patienten auch nach Einsatz umfassender genetischer Diagnostik ohne Diagnose. Ein deutschlandweites Versorgungsprojekt ergab, dass insbesondere bei Kindern etwa ein Viertel der gefundenen genetischen Varianten vormals unbekannt und erst in den letzten drei Jahren wissenschaftlich beschrieben wurden. Daher ist es sinnvoll, die Daten von Patientinnen und Patienten mit einem unauffälligen genetischen Befund nach ca. zwei bis drei Jahren erneut zu bewerten. Leider fehlte bisher eine systematische Erfassung der Patienten mit aufgrund der Symptome vermuteter seltener Erkrankung, aber unauffälliger genetischer Diagnostik. Es war mehr oder weniger dem Zufall überlassen, wann die genetischen Daten erneut beurteilt wurden. Mit dem Einschluss dieser Patienten in das Register soll damit Abhilfe geschaffen werden. Die genetischen Daten der Patienten werden systematisch erfasst und nach einem definierten Zeitraum erneut beurteilt“.
Stets notwendig: umfassende Anamnese sowie dezidierte körperliche Untersuchung
Erschwerend zur hohen Zahl seltener Erkrankungen kommt hinzu: Seltene Erkrankungen sind häufig komplex, meist sind mehrere Organsysteme beteiligt. Symptome überlagern sich, sind variabel, verändern sich also im Laufe der Zeit oder sind von Patient zu Patient unterschiedlich, auch lassen sich Haupt- und Nebensymptome nur schwer differenzieren. Im klinischen Alltag fehlt es oft an Leitlinien, Diagnosekriterien und interdisziplinärer Vernetzung.
„Gerade vor dem Hintergrund Seltener Erkrankungen ist es wichtig, bei der Diagnosestellung breit zu denken und genau hinzuschauen. Dafür sind eine umfassende Anamnese erforderlich sowie eine dezidierte körperliche Untersuchung. Passt auch nur eines der Symptome nicht in das Spektrum einer bekannten Erkrankung, sollte man genau dies nicht ignorieren, sondern vielmehr darauf das Augenmerk richten. Man würde ja auch nicht bei einem Zebra das Streifenmuster ignorieren und sagen, es sei ein Pony“, erklärt Professor Dr. Peter Berlit Generalsekretär und Pressesprecher der DGN. Eine besondere Bedeutung habe, so Berlit, die Familienanamnese: „80% der Diagnosen lassen sich allein dadurch klären!“
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