Seltene Erkrankungen: Fortschritte auf dem Weg zu kausalen Therapien

  • Dr. med.Thomas Kron
  • Medizinische Nachrichten
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Einen Fortschritt bei der Erforschung einer Seltenen Krankheit haben kürzlich Wissenschaftler der Charité, des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein gemeldet. Einer Mitteilung zufolge haben sie aufgeklärt, wie das äußerst seltene erbliche BPTA-Syndrom („Brachyphalangie-Polydaktylie und tibiale Aplasie/Hypoplasie“) entsteht: Die Ladungsänderung eines Proteins bringt die zelluläre Selbstorganisation durcheinander, eine Entwicklungsstörung ist die Folge. Das Team identifizierte außerdem hunderte vergleichbare genetische Veränderungen, die unter anderem mit Störungen der Hirnentwicklung oder einer Krebs-Veranlagung in Zusammenhang stehen. Der jetzt im Fachmagazin „Nature“ beschriebene Mechanismus könnte damit die Ursache für zahlreiche unaufgeklärte Erkrankungen sein.

Ein Syndrom mit multiplen Fehlbildungen und eine Mutation

Patienten mit BPTA-Syndrom haben schwerwiegende Fehlbildungen an den Gliedmaßen, dem Gesicht, dem Nerven- und Knochensystem und anderen Organen. Mit weniger als zehn dokumentierten Fällen weltweit ist die Krankheit extrem selten. Um der Ursache für das BPTA-Syndrom auf die Spur zu kommen, entschlüsselten die Forscher die Erbinformation von fünf Betroffenen und stellten fest, dass bei allen das Protein HMGB1 verändert ist: Das letzte Drittel seiner Struktur ist durch eine Mutation nicht länger negativ, sondern positiv geladen. 
Durch die Ladungsänderung ähnelt HMGB1 nun Proteinen, die sich vorzugsweise im Kernkörperchen aufhalten. Das Kernkörperchen ist ein kleiner Bereich im Zellkern, in dem Teile der Proteinfabriken zusammengebaut werden. Wie das Forschungsteam belegte, wird das mutierte HMGB1-Protein mit seinem nun positiv geladenen Endstück fälschlicherweise zum Kernkörperchen hingezogen. Weil der Proteinfortsatz zum Teil auch zäher geworden ist, verklumpt das Protein außerdem. Die Verfestigung des Kernkörperchens beeinträchtigt die Lebensfunktion der Zellen: Mit dem mutierten Protein starben mehr Zellen in der Kultur als ohne die Mutation.

Darüber hinaus durchsuchte das Forschungsteam in Datenbanken die DNA-Sequenzen von tausenden Personen nach ähnlichen Fällen. Tatsächlich konnten die Wissenschaftler mehr als 600 Mutationen in 66 Proteinen identifizieren, die dem Protein-Endstück sowohl eine positive Ladung als auch zähere Eigenschaften verliehen. 101 davon waren bereits zuvor mit verschiedenen Krankheiten in Verbindung gebracht worden, darunter neuronale Entwicklungsstörungen und eine erhöhte Anfälligkeit für Krebs. Für 13 ausgewählte Proteine prüfte das Team in der Zellkultur, ob sie durch die Mutationen eine Affinität für das Kernkörperchen erhielten. Das traf in zwölf Fällen zu. Etwa die Hälfte der getesteten Proteine beeinträchtigten die Funktion des Kernkörperchens und ähnelten damit dem Krankheitsmechanismus des BPTA-Syndroms. 


Ein RNA-Schnipsel für nur einen Patienten

Einen Fortschritt  bei einer Seltenen Erkrankung haben diese Tage Wissenschaftler vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen gemeldet. Erstmals in Europa hat ein 5-jähriges Kind eine genbasierte Therapie erhalten, die speziell auf seinen individuellen Genfehler maßgeschneidert wurde. Der Junge leidet an Ataxia telegiectasia, einer sehr seltenen und schweren Erkrankung, die mit einem fortschreitenden Verlust der Geh- und Stehfähigkeit einhergeht. Bislang gibt es keine kausale Therapie. Im Rahmen eines individuellen Heilversuchs werde der Patient nun mit einer RNA-Therapie behandelt, heißt es in einer Mitteilung der Forscher. Das Team hat einen kurzen RNA-Schnipsel, ein sogenanntes Antisense-Oligonukleotid (ASO), entwickelt, der passgenau auf die Genmutation des Kindes zugeschnitten ist. Das  Antisense-Oligonukleotid soll in den Nervenzellen der Mutation entgegenwirken und dabei helfen, ein fehlendes Eiweiß wiederherzustellen. Ziel ist, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen oder gar vorübergehend aufzuhalten. Bislang vertrage der Patient die Behandlung gut, heißt es in der Mitteilung.

Erfolg mit CAR-T-Zellen bei einer Autoimmunkrankheit

Über einen Therapie-Erfolg bei einer Seltenen Erkrankungen haben kürzlich auch Wissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg berichtet. In diesem Fall ging es um eine schwere, therapierefraktäre Myositis.  Wie von „Univadis“ bereits gemeldet, behandelten die Wissenschaftler um die Professoren Andreas Mackensen und Georg Schett einen 41-jährigen Mann, der an der seltenen Autoimmunkrankheit litt, mit CAR-T-Zellen (Chimeric Antigen Receptor T cells), also mit gentechnisch veränderten T-Lymphozyten, die von dem Patienten selbst stammen. Laut Erstautor Privatdozent Dr. Fabian Müller besserte sich nach Infusion der gentechnisch veränderten T-Zellen der Gesundheitszustand des Mannes  immens: Die Entzündung in den Muskeln, den Lungen und den Gelenken bildete sich vollständig zurück. Kraft, Leistungsfähigkeit und Ausdauer kamen zurück. Alle immunsuppressiven Medikamente – insbesondere auch Kortison – konnten komplett abgesetzt werden, ohne dass die Erkrankung wieder aufflammte. Sechs Monate nach der CAR-T-Zell-Therapie war der Patient vollkommen von seiner Autoimmunerkrankung genesen.

Tyrosinkinase-Hemmer gegen maligne Mastzellen

Zu den Seltenen Erkrankungen, bei denen in jüngster Zeit auch Fortschritte in der Therapie erzielt worden sind, zählen auch die systemische Mastozytose, die Mastzellleukämie und das Mastzellsarkom. Mastozytosen sind, wie von „Univadis“ kürzlich berichtet, eine heterogene Gruppe von Erkrankungen, die durch die Expansion und Akkumulation neoplastischer Mastzellen in einem oder mehreren Organsystemen gekennzeichnet sind. Die Pathogenese der Mastozytosen ist noch nicht in allen Einzelheiten bekannt. Bei den meisten Erwachsenen und mehr als der Hälfte der Kinder lassen sich Mutationen im KIT- Gen-Locus nachweisen. Bei der Mastzellleukämie zeigt sich im Knochenmark eine diffuse dichte Infiltration von atypischen, unreifen Mastzellen. Die Prognose der Patienten ist sehr schlecht; die mediane Überlebensdauer liegt je nach Studie zwischen zwei Monaten bis 1,9 Jahren. Das Mastzellsarkom ist ein altersunabhängig auftretender solide Tumor, der infiltrativ wachsen sowie metastasieren kann. Auch hier ist die Prognose mit einer medianen Überlebenszeit unter 18 Monaten sehr schlecht. Als therapeutischer Fortschritt bei der systemischen Mastozytose gelten die Entwicklung und der Einsatz von Tyrosinkinase-Inhibitoren. Sie wirken am Entstehungsort der Mastozytose, der KIT-D816V-Mutation, und reduzieren so die Zahl von Mastzellen. Eine solche zytoreduktive Therapie sollte bei Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung (AdvSM) erwogen werden. Für diese Behandlung gebe es in Deutschland seit 2017 den Multikinaseinhibitor Midostaurin und seit vergangenem Jahr den selektiven KIT-Inhibitor Avapritinib.