Schwere Blutungen durch Antikoagulanzien vermutlich doppelt so häufig wie in Fachinfos angegeben

  • Nicola Siegmund-Schultze
  • Studien – kurz & knapp
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Kernbotschaften

Unter fast 6000 Menschen, die im Stadtgebiet von München innerhalb eines halben Jahres verstarben, war bei 0,9 % eine Therapie mit Antikoagulanzien ursächlich. Bei weiteren 1,4 % gilt eine Antikoagulation als wahrscheinliche Todesursache. Mit circa 2 % der Todesfälle durch Antikoagulation sind schwerwiegende Komplikationen - meist intrakranielle oder gastrointestinale Blutungen – dieser Arzneistoffe damit wohl deutlich häufiger als in den Fachinformationen für die meisten von ihnen vermerkt (Rechtsmedizin 2023; https://doi.org/10.1007/s00194-023-00616-1). Das durchschnittliche Risiko wird dort mit 0,1 bis 1 % angegeben.

Hintergrund
Die Antikoagulation ist Bestandteil leitliniengerechter Therapien unter anderem bei der koronaren Herzerkrankung, akutem Koronarsyndrom, Herzinfarkt, peripherer arterieller Verschlusskrankheit, Vorhofflimmern nach Herzklappenersatz und bei zerebralem ischämischem Insult oder Lungenembolie. Außer Vitamin-K-Antagonisten wie Phenprocoumon (Marcumar®) werden weitere Wirkstoffe angewendet, darunter Heparine, Thrombozytenaggregationshemmer (ASS) oder direkte orale Antikoagulanzien wie Rivaroxaban (1, 2). Gemäß Fachinformationen der Hersteller liegt das Risiko für schwerwiegende Hämorrhagien wie intrakranielle oder gastrointestinale Blutungen zwischen durchschnittlich 0,1 und 1 % (zit. n. [3]). Ob die Angaben durch Todesbescheinigungen und Obduktionsbefunde in einem größeren Kollektiv verstorbener Bürger aus dem Stadtgebiet Münchens nachvollziehbar sind, hat das Institut für Rechtsmedizin der Ludwig-Maximilians-Universität München untersucht (3).

Design
 

  • Studienform: retrospektive anonymisierte Auswertung aller Todesbescheinigungen (TB), die beim Gesundheitsreferat der Landeshauptstadt für den Sterbezeitraum von 01.04.-30.09.2014 eingingen

  • Zielkollektiv: alle Todesfälle, die laut Eintragung des leichenschauenden Arztes oder der Ärztin (LS) in der TB im Zusammenhang mit einer Antikoagulanzientherapie starben; das waren 57 Personen

  • Kontrollkollektiv: alle sonstigen Sterbefälle mit einem Sterbealter ≥ 40 Jahre; das waren 5919 Personen

Hauptergebnisse
 

  • Analysiert wurden insgesamt 5976 Fälle, 5919 aus dem Kontrollkollektiv und 57 aus dem Zielkollektiv.

  • Das durchschnittliche Sterbealter betrug im Zielkollektiv 78,4 Jahre und im Kontrollkollektiv 77,6 Jahre. 

  • Von den leichenschauenden Ärzten wurden durchschnittlich 2,4 Krankheiten angegeben.

  • Die 57 antikoagulanzienassoziierten Sterbefälle entsprachen 0,95 % des Gesamtkollektivs.

  • Bei zwei Dritteln dieser Sterbefälle wurde das Antikoagulans in der TB konkret genannt, am häufigsten Marcumar® und am seltensten ASS oder direkte Thrombininhibitoren wie Dabigatran.

  • Eine leitliniengerechte Antikoagulation war bei 84 % des Zielkollektivs gegeben, bei 16 % (9 Personen) konnte die Indikation nicht nachvollzogen werden. 8 dieser 9 Personen starben an einer Hirnblutung.

  • Bei 5 Personen aus dem Zielkollektiv hatte es den Unterlagen zufolge eine absolute Kontraindikation für die Anwendung von Antikoagulazien gegeben (9 %) und in 6 Fällen eine relative Kontraindikation (10,5 %).

  • Im Kontrollkollektiv wurden 2180 Fälle (36,8 %) identifiziert, die wahrscheinlich leitliniengerecht antikoaguliert worden waren. Bei diesen vermerkten der/die LS bei 31 (1,4 %) eine Blutung als todesursächlich, ohne dass in den TB jedoch ein Antikoagulans benannt worden wäre.

  • Werden diese Fälle gemeinsam mit denen des Zielkollektivs berücksichtigt, ergeben sich den Autorinnen und Autoren zufolge Hinweise auf eine höhere Häufigkeit tödlicher Blutungen unter gerinnungshemmender Therapie, nämlich auf ein mindestens doppelt so hohes Risiko schwerwiegender Blutungen (2,35 %) als in den Fachinformationen mit 0,1 bis 1,0 % vermerkt.

Klinische Bedeutung
Die Studie ergibt, dass knapp 1 % aller Sterbefälle eines größeren Kollektivs im Stadtgebiet München (6 Monate) auf einer Antikoagulanzientherapie beruhten. Bezieht man die wahrscheinlich antikoagulierten Sterbefälle mit ein, resultiert eine Häufigkeit von circa 2 %. Dies wird als Hinweis auf höhere Raten schwerwiegender Komplikationen bewertet als in den Fachinformationen der Hersteller mit durchschnittlich 0,1–1 % aufgeführt.

Bei einer Antikoagulanzientherapie handele es sich grundsätzlich um eine Hochrisikomedikation, so das Studienteam. Umso größere Bedeutung komme der sorgfältigen ärztlichen Indikationsstellung und Beachtung von Kontraindikationen zu, nicht zuletzt auch aus straf- und haftungsrechtlichen Aspekten für den verordnenden Arzt.

Bei 61 % der antikoagulanzienassoziierten Todesfällen war eine natürliche Todesart in der Todesbescheinigung vermerkt worden. Dieses Ergebnis belege - wie schon frühere Untersuchungen - die unzureichende Qualität der Todesbescheinigungen.

Finanzierung: keine Angaben