Schutz vor Über- und Unterversorgung in der Hausarztpraxis: aktualisierte DEGAM-Leitlinie
- Nicola Siegmund-Schultze
- Studien – kurz & knapp
Kernbotschaften
Die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) hat ihre Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden“ überarbeitet. Darin werden für in der Hausarztpraxis häufig behandelte Erkrankungen evidenzbasierte Empfehlungen gegeben, wie sich Überdiagnostik und -therapie vermeiden lassen, zum Beispiel bei leichten oder mittelschweren depressiven Episoden. Aber auch der Unterversorgung soll entgegengewirkt werden – beides kann Patienten gefährden (www.degam-leitlinien.de).
Hintergrund
Im Jahr 2019 hatte die DEGAM erstmalig eine Leitlinie „Schutz vor Über- und Unterversorgung – gemeinsam entscheiden“ vorgestellt, um diese Arten der Fehlversorgung abzubauen: Überversorgung, zum Beispiel durch nicht evidenzbasierte Laborunterscuhungen oder apparative Tests, erhöhen die Wahrscheinlichkeit für falsch-positive Befunde oder Scheinassoziationen und können dadurch die Patienten belasten. Außerdem werden Ressourcen verschwendet. Ein weiterer Punkt in der neuen Leitlinie: Je mehr Leistungen erbracht werden, desto höher fallen die CO₂-Emissionen im Gesundheitswesen aus. Auf der anderen Seite gibt es nützliche medizinische Maßnahmen, die zu selten angewendet werden, so dass Patientinnen und Patienten unterversorgt sind.
Design
Methodisches Vorgehen: systematische Berücksichtigung valider wissenschaftlicher Forschungsergebnisse
Einbeziehung der Präferenzen von Patientinnen und Patienten
Bewertung von klinischen Situationen im Kontext von vorhandenen Empfehlungen, Empfehlungsstärken und gegebenenfalls auch ökonomischen und ökologischen Kriterien
Hauptergebnisse
Die im April vorgelegte S2e-Leitlinie beinhaltet unter anderem neue Empfehlungen für folgende Krankheiten:
Leichte depressive Episoden
Die Leitlinie weist auf gute Ansprechraten bei niederschwelligen Interventionen durch Ärztinnen und Ärzte in der Primärversorgung hin, durch Wahrnehmung der Belastung, aber auch Stärkung des Selbstwert- und Selbstwirksamkeitsgefühls.
Es sollte eine Psychotherapie angeboten werden, wenn die Symptomatik trotz der niederschwelligen Interventionen fortbesteht und/oder sie in der Vergangenheit gut auf eine Psychotherapie angesprochen haben und/oder bei den Patienten das Risiko für Chronifizierung oder Entwicklung einer mittelgradigen oder schweren Depression besteht, z. B. frühere depressive Episoden, psychosoziale Risikofaktoren
Mittelgradige depressive Episoden
Hier können zusätzlich zu einer Behandlung mit Antidepressiva oder Psychotherapie Internet- oder mobilbasierte Interventionen angeboten werden. Sie seien gut verfügbar und individuell steuerbar, so die Leitlinie.
Primär ungeklärte Müdigkeit
Depressionen und Angststörungen sind die häufigsten nicht diagnostizierten Ursachen. Um Unterversorgung zu vermeiden, sollte diese Störungen gezielt mit validierten Screeningfragebögen eruiert werden.
Weitergehende Labor- und apparative Untersuchungen sollten nur bei auffälligen Vorbefunden oder spezifischen Hinweisen als Basisdiagnostik erfolgen. Je mehr Test durchgeführt würden, desto höher sei die Wahrscheinlichkeit falsch positiver Befunde.
Neben nicht gerechtfertigten Kosten für diese Untersuchungen entstehen dadurch erhebliche potentielle Belastungen der Patienten und Fehlleitungen in der Patientenkarriere, insbesondere ein "Teufelskreis" selbst erfüllender Prophezeihungen und Scheinassoziationen.
Verdacht auf eine stenosierende koronare Herzerkrankung nach nicht-invasiver Diagnostik
Patienten, die zu einer Bypass-OP mit dem Ziel der Lebensverlängerung nicht bereit sind oder eine Kontraindikation haben, sollen keine invasive Diagnostik (Herzkatheteruntersuchung) zur Abklärung der koronaren Morphologie erhalten.
Patientinnen und Patienten sollen darüber aufgeklärt werden, dass es bei perkutaner Koronarintervention keine Evidenz aus randomisierten Studienfür einen möglichen Überlebensvorteil gegenüber optimaler medikamentöser Therapie gibt.
Bei einer Mehrgefäßerkrankung würden häufig nacheinander mehrere stenosierte Gefäße dilatiert, ohne dass die Prognose verbessere. Es bleibe aber eine kleine Zahl von Patienten mit Mehrgefäßerkrankung, die durch rechtzeitige Diagnose und anschließende Bypass-Operation einen kleinen Benefit hinsichtlich ihrer Prognose hätten.
Klinische Bedeutung
„Vom Falschen zu viel und vom Richtigen zu wenig“ – auf dieses Problem wolle die Fachgesellschaft mit der S2e-Leitlinie aufmerksam machen, so Prof. Martin Scherer, Präsident der DEGAM und federführender Autor der Leitlinie. Die medizinische Versorgung könne besser, gerechter und sicherer werden, wenn Unter- und Überversorgung reduziert würden.
Außerdem sollte bei gleichwertigen Therapiealternativen die klimafreundlichere Alternative bevorzugt werden, sofern diese bekannt ist.
Die Aufklärung der Patientinnen und Patienten zu Diagnostik und Therapie könne um die Klimabilanz von Maßnahmen erweitert werden. Schließlich zeichneten sich deutlich negative Wirkungen Luftverschmutzung oder Hitzewellen auf die Mortalität und Morbidität ab.
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