Schädelhirntrauma: häufig Langzeitfolgen
- Dr. med.Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Kernbotschaften
Eine aktuelle Studie der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung und des Barmer Instituts für Gesundheitssystemforschung (bifg) zeigt, wie häufig schwere Folgeerkrankungen im Zeitraum von zehn Jahren nach einem Schädelhirntrauma (SHT) vorkommen. So haben die Betroffenen fast fünfmal häufiger Kopfschmerzen als Menschen, die diese Verletzung nicht erlitten haben, sie leiden zudem häufiger an Epilepsie, kognitiven Defiziten, endokrinen Störungen, Demenz, Immobilität, Depressionen und Sprach- und Sehbehinderungen. Die Studie ist im "Deutschen Ärzteblatt" erschienen.
Langfristige Folgen in Deutschland wenig untersucht
In der Studie wurden Daten von 114.296 Patientinnen und Patienten ausgewertet, die im Zeitraum der Jahre 2006 bis 2009 ein SHT erlitten hatten. Damit schließt sie eine Forschungslücke. Während die akuten Folgen eines Schädelhirntraumas gut dokumentiert sind, hat in Deutschland bislang eine systematische zahlenmäßige Erfassung möglicher langfristiger gesundheitlicher Probleme gefehlt.
In Deutschland erleiden laut einer Mitteilung der Stiftung und des Barmer-Instituts pro Jahr mehr als 225.000 Menschen ein Schädelhirntrauma. Neunzig Prozent dieser Fälle sind leichtgradig, zehn Prozent sind mittel- bis schwergradig. Das SHT ist eine der Hauptursachen für schwere Langzeitfolgen, Behinderung und Tod bei Erwachsenen. Dennoch existieren zum SHT und den Folgeerkrankungen in Deutschland nur relativ wenige Studien. Dabei leiden insbesondere Betroffene mit mittelschwerem oder schwerem Schädelhirntrauma meist noch Jahre nach der Verletzung an gravierenden Langzeitschäden und Folgeerkrankungen. Auch bei Patientinnen und Patienten mit einem vermeintlich leichten SHT können Beschwerden über einen längeren Zeitraum fortdauern. „Die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit einem Schädelhirntrauma muss weiter verbessert werden. Dazu sind epidemiologische Daten dringend erforderlich. Die Studie der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung und des bifg liefert hierzu neue wichtige Erkenntnisse“, sagt Prof. Dr. med. Christoph Straub, Vorstandsvorsitzender der Krankenkasse.
In der Kohortenstudie haben die Autoren um Prof. Dr. Eckhard Rickels und Prof. Dr. Wolf-Ingo Steudel von der ZNS – Hannelore Kohl Stiftung die Daten von akuten Schädelhirntraumata mit den Daten von Folgeerkrankungen zusammengeführt. Dabei verglichen sie die Daten von Patientinnen und Patienten mit gleichem Alter und gleichen Vorerkrankungen mit denen, die ein SHT erlitten hatten. „Der Datensatz der Krankenkasse ermöglichte es uns zu analysieren, ob nach einem Schädelhirntrauma bei den Patientinnen und Patienten Besonderheiten in der weiteren Krankenhistorie erkennbar sind“, so Eckhard Rickels. „Anhand einer Kontrollgruppe konnten wir zudem feststellen, ob sich die Häufigkeit und der Zeitpunkt des Auftretens der Folgeerkrankungen vom Erkrankungsspektrum von Personen ohne Kopfverletzungen unterscheidet.“
114.296 Patienten mit einem SHT
Für die Studie nutzten die Autoren Routinedaten der Krankenkasse. Insgesamt umfassten diese die Jahre 2005 bis 2019 für 7,7 Millionen Personen mit mindestens einem Jahr Vor- und zehn Jahren Nachbeobachtungszeit. Darunter waren 114.296 Patienten, die im Zeitraum der Jahre 2006 bis 2009 ein SHT erlitten hatten. Sechs Prozent davon waren behandlungsintensive Fälle, 57 Prozent Fälle mit stationärer Therapie und 37 Prozent Fälle mit ambulanter Behandlung. Zum Vergleich wurden die SHT-Patienten mit Versicherten der Krankenkasse ohne SHT gematcht, die in diesem Zeitraum ein vergleichbares Alter, Geschlecht und Vorerkrankungen wie Diabetes, Herzinsuffizienz oder Rheuma aufwiesen.
Kopfschmerz, Epilepsien und kognitive Defizite besonders häufig
Die Studienautoren analysierten die Krankheitshistorie der beiden Patientengruppen über einen Zeitraum von zehn Jahren. Dabei fanden sie heraus, dass sich nach einem SHT grundsätzlich höhere Inzidenzraten bei verschiedenen Erkrankungen zeigten. So litten die Betroffenen knapp fünfmal häufiger an Kopfschmerzen als Personen der Kontrollgruppe. Epilepsien und kognitive Defizite traten fast doppelt so häufig auf, endokrine Störungen (etwa durch Verletzungen der Hypophyse) und Demenz rund 1,7 Mal so oft, Immobilität rund 1,4 Mal, Depressionen und Angst sowie Schlafstörungen gut 1,3 Mal und Sprach- und Sehbehinderungen etwa 1,1 Mal so oft wie in der Kontrollgruppe. „Die Studie zeigt deutlich, dass Schädelhirntrauma-Patientinnen und -Patienten nicht nur von erheblichen Kurzzeitfolgen betroffen sind, sondern ihr Leben lang unter den Folgen leiden. Die Betroffenen sterben früher als ohne SHT, und alle untersuchten Erkrankungen treten (auch bei einem leichten SHT) häufiger auf als in der Allgemeinbevölkerung“, erklärt Wolf Ingo Steudel.
„Die Spätfolgen bei Schädelhirntrauma-Patientinnen und -Patienten im Blick zu haben, ist wichtig für ein frühzeitiges Erkennen und eine zielgenauere Therapie. Zumal manche Erkrankungen erst Jahre später auftreten und nicht immer im Zusammenhang mit der einstigen Kopfverletzung interpretiert werden“, sagt Dr. Danny Wende (Barmer Institut für Gesundheitssystemforschung). So könnten epileptische Anfälle bei allen Schweregraden des SHT auch noch fünf Jahre nach der Verletzung erstmals vorkommen. Depressionen könnten sich ebenfalls erst in den Folgejahren deutlich ausbilden. „Manchen Folgeerkrankungen eines Schädelhirntraumas wie der Hypophyseninsuffizienz, die bei den Betroffenen u.a. zu Stoffwechselstörungen führen kann, schenkt die Forschung erst seit den letzten Jahren überhaupt Aufmerksamkeit“, erklärt Eckhard Rickels. „Die Auswertung solcher Routinedaten in Studien ist enorm wichtig, um die Versorgungsforschung des Schädelhirntraumas endlich zu verbessern“, betont der Experte.
„In Deutschland werden Patientinnen und Patienten mit akutem Schädelhirntrauma sehr gründlich untersucht und behandelt. Das Problem beginnt nach der stationären Therapie beziehungsweise nach einer Reha. Dann fallen die Schädelhirntrauma-Patientinnen und -Patienten in ein Loch“, sagt Rickels. „Die Nachsorge ist für die Betroffenen hierzulande sehr schlecht bis gar nicht vorhanden. Es braucht dringend ein langfristiges Versorgungssystem, mit Expertinnen und Experten, die auch Folgeerkrankungen frühzeitig erkennen und die SHT-Patientinnen und
-Patienten mit einer zielgenauen Therapie unterstützen.“
Wie alle Studien hat auch diese sogenannte Limitationen. So lassen die Ergebnisse nach Angaben der Autoren keine kausale Interpretation zu, da es nur Beobachtungen ohne eine randomisierte Kontrolle seien. Der Evidenzgrad des Zusammenhangs von SHT und Spätfolgen nehme hierbei naturgemäß mit zunehmenden zeitlichen Abstand ab.
Aufgrund der fehlenden Randomisierung könne es zu Unterschieden in den Charakteristiken der Expositions- und Kontrollgruppe kommen, die die vorgelegten Ergebnisse beeinflussten. Unterschiede die aufgrund von Alter, Geschlecht und durch die kontrollierten Vorerkrankungen hervorgerufen worden wären, wurden, wie die Autoren weiter erklären, durch das statistische Verfahren des Propensity Score Matching ausgeglichen. Soziale Unterschiede oder die Gabe von Thrombozytenaggregations-Hemmern seien nicht beobachtet worden. Darüber hinaus könnten weitere Umstände bei den eingeschlossenen Personen aufgetreten sein, zum Beispiel Polytrauma oder das Vorhandensein einer Patientenverfügung, die das Ergebnis maßgeblich beeinflusst hätten.
Wie die Autoren weiter berichten, nehmen sie an, dass die durch Ärzte ausgestellten Diagnosen eine tatsächliche Krankheitslast widerspiegeln. Es bestehe ein Detektionsbias, wenn Patienten nach einem SHT intensiver als die Allgemeinbevölkerung nachbeobachtet würden. Aufgrund des langen Zeithorizonts von zehn Jahren könne dieser Effekt jedoch als gering eingeschätzt werden.
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