Putin: ein kleiner Stalin oder nur Machiavellis bester Schüler?
- Dr. med. Thomas Kron
- Im Diskurs
Andrei Wladimirowitsch Kosyrew, von 1990 bis 1996 russischer Außenminister, twitterte vor wenigen Tagen: „Ich glaube nicht, dass Russland Atomwaffen einsetzen werde, ich glaube, dass Putin ein rationaler Akteur ist.“ Es könne durchaus sein, dass Putin nur so tue, als sei er zerebral kräftig lädiert; möglicherweise folge er der so genannten Madman-Theorie, schrieb 2015 die US-Journalistin Elisabeth Braw in einem Newsweek-Artikel mit dem Titel „Putin is 'Playing Madman' to Trick the West" (Putin spielt den Wahnsinnigen, um den Westen auszutricksen). Zu Erklärung: Die Madman-Theorie stammt von „Tricky Dicky“ Richard Nixon. Während des Vietnamkriegs wollte er die Nordvietnamesen davon überzeugen, dass er unzurechnungsfähig sei und auch vor dem Einsatz von Atomwaffen nicht zurückschrecke. Seinem Stabschef Bob Haldeman soll er seine Theorie so erklärt haben: „I call it the Madman Theory, Bob. I want the North Vietnamese to believe I’ve reached the point where I might do anything to stop the war.“
Ein CIA-Psychogramm
Dass Putin in Wirklichkeit ein rationaler Akteur oder ein Machiavellist erster Güte ist, mag stimmen, ist aber offenbar nicht so sicher, wie sich dies viele Menschen und auch US-Amerikanische Geheimdienste wünschen. So hätten die US-Geheimdienste in den letzten Tagen angeblich die Beurteilung des Geisteszustands des russischen Präsidenten zu einer ihrer obersten Prioritäten gemacht, da dessen Verhalten zunehmend irrational wirke, berichtet „CNN“.
Die US-Geheimdienste sammeln dem Bericht zufolge zwar schon seit Jahren Informationen zu dem ehemaligen KGB-Offizier; sie verfügten daher über ein enormes Wissen über den Mann; sie hätten aber nur wenig Einblick in seine alltäglichen Entscheidungen. Der Kreml sei nach wie vor das, was Geheimdienstmitarbeiter als „hartes Zielobjekt" bezeichneten: Es sei unglaublich schwierig, mit traditionellen Spionagemethoden einzudringen.
Besessen von „Maskulinität, Größe, Stärke und Macht"
Eine Grundlage für die Einschätzung des russischen Präsidenten durch die US-Regierung ist, wie kürzlich Elmar Theveßen, Leiter des ZDF-Studios in Washington, berichtete, eine Analyse des vor zwei Jahren gestorbenen US- Psychologen Jerrold Post; der Psychologe war einer der Mitbegründer und Leiter des „Zentrums für die Analyse von Persönlichkeit und politischem Verhalten" bei der CIA (Central Intelligence Agency).
Wie Jerrold Post Putin eingeschätzt hat, steht erstaunlicherweise nicht nur in geheimen Dokumenten; Post hat seine Einschätzung von Putin (und vielen anderen Mächtigen, etwa Bill Clinton) auch öffentlich gemacht, etwa in dem 2015 publizierten Buch „Narcissism and Politics: Dreams of Glory“ .
So sei Putin ein „Narzisst", ein „brutaler rücksichtsloser Diktator" mit „extrem kalkulierendem Naturell", der „penibel pseudo-legale Rechtfertigungen für seine Taten fabriziert“. Er sei sei besessen von „Maskulinität, Größe, Stärke und Macht" , wie Bilder zeigten, auf denen er mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd oder mit einem sedierten Tiger „im Arm“ posiert. Der relativ klein gewachsene Narzisst Putin kompensiere so Unsicherheit und mangelndes Selbstbewusstsein. Durchaus verständlich wäre daher, dass er aggressiv reagiert, wenn er das Gefühl hat, nicht ausreichend respektiert zu werden. Vielleicht hat ihn - unter anderem - ja auch die Formulierung von Obama, Russland sei eine Regionalmacht, persönlich so stark verletzt, dass es ihn nach Rache gelüstet. „Rache ist ein Geständnis des Schmerzes“, wusste schon der Philosoph Seneca (der Jüngere).
Ein Psychopath - charmant und manipulativ
Zum geistigen Zustand des russischen Präsidenten hat sich vor wenigen Tagen auch ein forensischer Psychiater einige Gedanken gemacht, also ein Spezialist für die Psyche Krimineller: Putin weise Merkmale eines Psychopathen auf, der nur durch eine „glaubwürdige Androhung von Gewalt" abgeschreckt werden könne, so Dr. Ziv Cohen von der Cornell University gegenüber „Fox News Digital“. Putin zeigt Cohen zufolge hohe Werte in den drei Kategorien, die mit einer Psychopathie in Verbindung gebracht würden: Aggression, Narzissmus und mangelndes Einfühlungsvermögen; dies sei bei der Invasion in der Ukraine deutlich zutage getreten. „Er ist nicht verrückt", sagte Cohen. „Er ist charmant, kalkuliert und manipulativ. Mit Psychopathen kann man kein gemeinsames Verständnis entwickeln. Man kann keine Vereinbarungen mit ihnen treffen. Sie reagieren wirklich nur auf überlegene Macht, auf eine glaubwürdige Gewaltandrohung.“
Rebekah Koffler, eine ehemalige Mitarbeiterin des russischen Verteidigungsnachrichtendienstes und Autorin von „Putin's Playbook: Russia's Secret Plan to Defeat America" (Russlands geheimer Plan, Amerika zu besiegen), stimmte Cohens Einschätzung nicht zu; Putin sei auch nicht wie Hitler oder Stalin. Anders als der Georgier Josef Stalin habe Putin nicht Millionen von Mitmenschen ermordet, verhungern lassen oder in den Gulag geschickt. Stalin habe „Todeslisten voller Lust ergänzt und abgezeichnet, er war bösartig, er war ein Psychopath“, so auch der Historiker und Stalin-Experte Jörg Baberowski (Humboldt-Universität Berlin).
Gezielter Einsatz vulgärer Sprache
Unstrittig dürfte allerdings sein, dass Putins Verhalten nicht ganz den Sitten und Gepflogenheiten zivilisierter Diplomaten und Regierungschefs demokratischer Rechtsstaaten entspricht. Dass zeigt auch Putins Umgang mit der Sprache, wie der in Moskau geborene Russland-Kenner Leon Aron im US-Magazin „The Atlantic“ schreibt. So habe der ehemalige KGB-Offizier immer wieder absichtlich und strategisch eine vulgäre Sprache eingesetzt. 2002 zum Beispiel habe er auf einer Pressekonferenz im Anschluss an ein Gipfeltreffen zwischen der EU und Russland auf die Frage eines Reporters nach dem Krieg in Tschetschenien geantwortet: „Wenn Sie wirklich ein radikaler Islamist werden wollen und bereit sind, sich beschneiden zu lassen, lade ich Sie nach Moskau ein. Wir haben Spezialisten auf diesem Gebiet. Ich werde dafür sorgen, dass die Operation so durchgeführt wird, dass nichts mehr nachwächst.“ Und 2008 soll er bei Verhandlungen mit dem damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der Putin zum Abbruch seiner Invasion in Georgien überreden wollte, gesagt haben: „Ich werde diesen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili an den Eiern aufhängen.“
Warten auf Putins Brutus?
Fazit: Mit Putins Krieg hat sich erneut eine Grausamkeit gegen die zivilisierte Sehnsucht des Westens nach Humanität und Mittagsschlaf verschworen. Unabhängig davon, ob Putin ein kleiner Stalin oder ein kühl kalkulierender Machiavellist und Ultranationalist ist, bleibt im Moment wohl nur zu hoffen, dass politische Vernunft und Humanität nachwachsende Rohstoffe im Kreml sind. Oder dass auch Putin einen Brutus in seinen Reihen hat.
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