Partikel in Milch und Rindfleisch begünstigen Krebs und MS – nur eine steile These?

  • Dr. Angela Speth
  • Medizinische Nachrichten
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In unserer westlichen Ernährung gehört die Milch zum Kaffee, die Käsekruste aufs Gratin, das Gulasch über den Reis. Was aber, wenn man sich über Milchprodukte und Rindfleisch schon als Kleinkind mit einer neuen Art von Erregern infiziert, die nach 40 bis 70 Jahren Krebs oder Multiple Sklerose auslösen können? Forscher vom Deutschen Krebsforschungszentrum DKFZ vermuten, solche Zoonosen seien möglicherweise weit verbreitet[1], und empfehlen deshalb, Säuglinge erst nach dem ersten Lebensjahr mit Milch zu füttern. Das Bundesinstitut für Risikobewertung und das Max Rubner-Institut weisen solche Theorien jedoch in zwei gemeinsamen Stellungnahmen entschieden zurück.

Im Jahr 2008 hatte Prof. Dr. Harald zur Hausen den Medizinnobelpreis für den Nachweis erhalten, dass humane Papillomviren den Weg zu Gebärmutterhalskrebs bahnen. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass sexuell enthaltsame Frauen wie Nonnen extrem selten an diesem Karzinom erkranken. So lag der Schluss nahe, dass beim Geschlechtsverkehr Erreger übertragen werden, erläutern die Eheleute Prof. Dr. Ethel-Michele de Villiers und zur Hausen - beide vom DKFZ Heidelberg.

Papillomviren, aber auch Humane Herpes- und Epstein-Barr-Viren, Polyoma- und Retroviren verursachen Krebs auf direktem Weg: durch Einbau ihrer Gene in die DNA menschlicher Zellen. Die durch Expression gebildeten Proteine stimulieren mit einer Latenz von einigen Jahren bis Jahrzehnten malignes Wachstum, indem sie regulierende Wirtsgene verändern.

Bei Entzündungen entstehen Sauerstoffradikale

Viren können allerdings auch - ebenso wie Bakterien und Parasiten - indirekt Krebs auslösen. Ein Mechanismen ist die Störung der Immunabwehr, wie die zum Teil drastisch erhöhte Tumor-Inzidenz bei Aids oder unter Immunsuppressiva nach Transplantationen zeigt. Ein zweiter Mechanismus sind chronische Entzündungen, die Sauerstoffradikale und damit in replizierenden Zellen zufällige Mutationen erzeugen. Beispiele: Magenkrebs durch Helicobacter pylori, Leberkrebs durch Schistosoma, Leberegel, Hepatitis-B- und C-Viren.

Nach de Villiers und zur Hausen sprechen gute Gründe dafür, dass weitere Erreger über chronische Entzündungen zu Krebs führen können. Epidemiologische Daten legen nahe, dass Milch- und Fleischprodukte europäischer Rinder (Bos taurus) als Quelle in Frage kommen. So tritt Darm-, aber auch Brustkrebs dort gehäuft auf, wo diese Lebensmittel reichlich verzehrt werden, also in Nordamerika, Argentinien, Europa und Australien. Niedrig ist die Rate hingegen in Indien, wo man Kühe als heilig verehrt. Auffällig außerdem: Frauen mit Laktose-Intoleranz bekommen seltener Brustkrebs.

Viren-Abkömmlinge zentral für Karzinogenese?

Tatsächlich fanden die Forscher im Darm von Patienten mit Kolonkarzinomen einzelsträngige, aus Viren stammende DNA-Ringe, die sie „Bovine Meat and Milk Factors“ (BMMF) nannten. „Diese neue Klasse von Erreger verdient es zumindest aus unserer Sicht, in den Mittelpunkt der Krebsentstehung und weiterer chronischer Erkrankungen gerückt zu werden“, geben sie sich überzeugt. Weiterhin wiesen sie in diesen Arealen erhöhte Spiegel von Sauerstoffradikalen nach - oxidativer Stress also, wie er für chronische Entzündungen typisch ist.

Sie gehen davon aus, dass Säuglinge, deren Immunsystem ja noch unausgereift ist, die BMMF aufnehmen, sobald sie Milch bekommen. Deshalb brauchten Erwachsene auch weder auf Milch noch auf Rindfleisch zu verzichten, weil ohnehin alle infiziert seien, sagte zur Hauen in einem Gespräch.

„Muttermilch ist gesund“ – der Slogan gilt

De Villiers und zur Hausen schildern noch einen Hinweis auf krebsauslösende Erreger: Mütter, die gestillt haben, erkranken - vor allem nach mehrfachen Schwangerschaften - seltener an Tumoren verschiedener Organe, aber auch an multipler Sklerose (MS) und Typ-2-Diabetes. Den Schutzeffekt schreiben die Autoren Oligosacchariden in der Muttermilch zu, die bereits ab Mitte der Schwangerschaft gebildet werden. Sie binden an Lektinrezeptoren und maskieren damit das endständige Molekül, das die Viren zum Andocken brauchen. Folglich ist ihnen die Eintrittspforte in Zellen versperrt.

Nicht zuletzt schützen die Oligosaccharide auch die Babys vor lebensbedrohlichen Infektionen, indem sie Rota- und Noroviren am Zugang hindern. Auf die Weise wird besonders bei langem Stillen - etwa 1 Jahr – die Phase der noch unvollständigen Immunkompetenz überbrückt.

Ist Darmkrebs weitgehend eine Infektionskrankheit?

Bisher habe man angenommen, dass weltweit etwa 20 Prozent aller Krebserkrankungen auf Infektionen zurückgehen, resümieren die Wissenschaftler. Zähle man die mutmaßlichen BMMF-Fälle hinzu, komme man auf 50 Prozent, speziell bei Darmkrebs sogar auf etwa 80 Prozent. Sollte sich der Verdacht erhärten, wären die Konsequenzen für Prävention und Therapie gravierend.

Die Stimme eines Nobelpreisträgers besitzt unstreitig Gewicht, hatte zur Hausen sich doch seinerzeit gegen eine Phalanx von Zweiflern durchgesetzt mit seiner Entdeckung, dass eine virale Infektion zu Krebs - eben Zervixkarzinomen – entscheidend beiträgt. Dennoch sprechen einige Anzeichen dafür, dass er und seine Frau sich diesmal in eine Sackgasse manövriert haben.

Selbst ein Nobelpreisträger könnte sich irren

Denn als seine Arbeitsgruppe die Ergebnisse im Februar 2019 der Öffentlichkeit vorstellte, sah sich das DKFZ auf beunruhigte Presseberichte hin zu einer Entwarnung genötigt: Es bestehe kein Anlass, Milch- und Fleischkonsum als kritisch einzustufen. Ebenso bewerteten das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und das Max Rubner-Institut (MRI) in einer ersten gemeinsamen Stellungnahme die Daten als unzureichend und forderten weitere Studien. Daraufhin befassten sich mehrere Forscherteams mit den BMMF: In welchen Lebensmitteln sind sie enthalten? Kommen sie bei Krebspatienten häufiger vor als bei Gesunden? Sind sie infektiös, induzieren sie Entzündungen und Krebs?

Die Erkenntnisse, die  BfR und MRI Ende November 2022 in einer zweiten Stellungnahme präsentierten, widersprechen den Behauptungen der DKFZ-Wissenschaftler auf ganzer Linie: BMMF stellten keineswegs neue Erreger dar, sondern Varianten bereits bekannter DNA-Sequenzen. Zudem kämen sie in zahlreichen tierischen und pflanzlichen Lebensmitteln vor, ob Schweinefleisch, Fisch, Obst, Gemüse oder Nüsse.

BMMF besäßen nicht die Fähigkeit, menschliche Zellen zu „infizieren“. Ebenso wenig existierten Belege, wonach sie die Gesundheit schädigen. Zwar korreliere die Häufigkeit von Darmtumoren mit dem Konsum von rotem und verarbeitetem Fleisch - was keineswegs Kausalität bedeute -,  aber Milchprodukte seien sogar mit einem verminderten Risiko verknüpft. Brustkrebs wiederum lasse sich weder mit Rindfleisch noch mit Milch in Verbindung bringen.

Daher empfehlen die beiden Institute, diese Produkte wegen ihrer Mikronährstoffe weiterhin als Beikost für Säuglinge zu verwenden. Darüber hinaus seien sie für Menschen jeden Alters unbedenklich.

Milch und Rindfleisch sollen auch MS begünstigen

Unbeirrt gehen de Villiers und zur Hausen in ihrem jetzigen Beitrag noch einen Schritt weiter: Sie vertreten die Ansicht, dass Multiple Sklerose (MS) ebenfalls mit dem Konsum von Milchprodukten und Rindfleisch einhergehe. Auch hier hatte die geografische Verteilung sie auf die Idee gebracht, in Hirnläsionen von MS-Patienten nach BMMF zu fahnden. Und tatsächlich isolierten sie ringförmige DNA-Moleküle, die sich den BMMF aus Milch und Rinderblut als nah verwandt erwiesen. Zitat: „Das Ergebnis elektrisierte uns.“

Allerdings seien zusätzliche Faktoren zu berücksichtigen, etwa ein Vitamin-D3-Mangel. Denn die MS-Inzidenz nimmt von den Erdpolen Richtung Äquator mit steigender Sonneneinstrahlung ab. Weiterhin spielen offenbar Epstein-Barr-Viren eine Rolle, da MS-Patienten signifikant erhöhte Titer von EBV-Antikörpern aufweisen. Eine Studie ergab außerdem, dass Menschen in der Antarktis während des Winters reaktivierte EBV im Speichel ausscheiden und Vitamin D3 die Virussekretion stoppt.

Unter diesen Voraussetzungen stellten die Forscher die Hypothese auf, dass der MS eine Doppelinfektion von Hirnzellen durch EBV und BMMF zugrunde liegt. Durch einen Vitamin-D3-Mangel werden EBV wieder aktiv, vervielfältigen die BMMF, die schließlich in Proteine umgewandelt werden. Eine fokale Immunreaktion führt zu Funktionsausfällen der Schwann-Zellen und Oligodendrozyten, was in die Zerstörung der Myelinhüllen um die Nervenfasern mündet.