Orphan Drugs, Arzneimittelversorgung in Europa und das Brugada-Syndrom

  • Dr. med.Thomas Kron
  • Medizinische Nachrichten
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Ein Team um Autoren des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) hat gemeinsam mit Rita Banzi vom italienischen Mario-Negri-Institut die Auswirkungen unzureichender Evidenz für Orphan Drugs auf europäischer und nationaler Ebene analysiert. Ergebnis: Der Reformbedarf ist nach Ansicht der Autoren hoch.

Seit Einführung der EU-Verordnung über Arzneimittel für seltene Krankheiten (Orphan Drugs) im Jahr 2000 hat die Zahl von neu zugelassenen Orphan Drugs stark zugenommen. Im ersten Jahrzehnt nach der EU-Verordnung wurden 63 Orphan Drugs zugelassen, im zweiten Jahrzehnt waren es 133. Allein im Jahr 2022 erhielten 22 Wirkstoffe gegen seltene Krankheiten ihre Marktzulassung.

Der von der europäischen Zulassungsbehörde vergebene Status eines „Orphan Drug“ ist auch mit der Annahme eines Vorteils gegenüber den bereits vorliegenden Therapieoptionen verbunden. In Deutschland wird daher für Orphan Drugs ein Zusatznutzen unabhängig von der konkreten Datenlage anerkannt (fiktiver Zusatznutzen).

Das Team um Philip Kranz, Natalie McGauran und Thomas Kaiser vom IQWiG ist mit Rita Banzi unter anderem der Frage nachgegangen, ob diese Annahme eines fiktiven Zusatznutzens gerechtfertigt ist. Sie kommen in ihrer Publikation zu dem Schluss: Wir wissen es oft nicht, da der Orphan-Drug-Status ohne ausreichende Evidenz mit einem therapeutischen Zusatznutzen gleichgesetzt wird. Aus diesem Grund, so fordern die Autoren, den Orphan-Drug-Status vom Label „Zusatznutzen“ zu entkoppeln.

Auch wenn die Möglichkeit, randomisierte und kontrollierte Studien (RCTs) bei seltenen Erkrankungen häufig bezweifelt werde, zeigten die Auswertungen des IQWiG doch, dass die Generierung von Evidenz im Rahmen von RCTs auch für Orphan Drugs möglich sei, heißt es in einer Mitteilung des Kölner Instituts.

In der europäischen Arzneimittelversorgung gebe es große Unterschiede, heißt es in einer Mitteilung des Verbandes der forschenden Pharma-Firmen. So seien 2021 in Österreich 34 neu zugelassene Medikamente verfügbar gewesen, in Bulgarien dagegen nur 12. In Deutschland waren es laut der Mitteilung 40. Das zeige der WAIT-Indikator des europäischen Pharmaverbands (EFPIA). Er analysiert jedes Jahr, wie viele neue Medikamente in die Versorgung kommen und wie lange es dauert, bis sie für Patientinnen und Patienten bereit stehen. Die neuesten Ergebnisse belegen, dass die Unterschiede in der medizinischen Versorgung mit Arzneimitteln innerhalb Europas von Land zu Land immer noch groß sind.


„Das ist kein tragbarer Zustand und die EU tut gut daran, dies politisch zu ändern. Allerdings ist sie mit ihrem Pharma-Paket auf dem regulatorischen Holzweg. Sie plant nämlich den sogenannten Unterlagenschutz aufzuweichen und als Anreizinstrument für die medizinische Versorgung zu nutzen. Das wird nicht funktionieren! Im Ergebnis würde in Europa das Schutzniveau für geistiges Eigentum an Innovationen verschlechtert. Das würde uns im internationalen Standortwettbewerb schwächen, ohne innerhalb unseres Kontinents eine Angleichung des Versorgungsniveaus zu garantieren,“ so vfa-Präsident Han Steutel.

Vor wenigen Wochen hat die EU-Kommission in Brüssel das sogenannte Pharma-Paket vorgestellt. Es umfasst mehrere Maßnahmen, die darauf zielen, die Entwicklung neuer Arzneimittel zu stimulieren. Dabei soll der Unterlagenschutz als Anreizinstrument für eine gleichmäßige medizinische Versorgung in Europa genutzt werden und variieren: Im Ergebnis kann der Unterlagenschutz dann kürzer sein als bisher. Damit wird der Schutz des geistigen Eigentums bei innovativen Medikamenten in Europa geschwächt. 

„In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Biowissenschaften abgenommen, während andere Teile der Welt aufgestockt haben: Die Investitionen in die pharmazeutische Forschung und Entwicklung sind im weltweiten Vergleich um 25 Prozent zurückgegangen. Die Gesamtwirkung der vorgelegten Vorschläge schwächt die Rechte am geistigen Eigentum und kann nur zu einem weiteren Rückgang der Forschungsinvestitionen führen, die sich zunehmend in die USA und nach China verlagern. Das Gleiche gilt übrigens für klinische Studien und Produktion,“ so auch EFPIA- Generaldirektorin Nathalie Moll.
 

Bupropion kann das Brugada-Syndrom demaskieren. Darauf weist die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft hin. Beim Brugada-Syndrom handelt es sich um eine seltene Erbkrankheit des kardialen Natriumkanals mit charakteristischen EKG-Veränderungen (Rechtsschenkelblock und ST-Streckenhebungen in den rechten Brustwandableitungen [etwa V1 – V3]). Es kann zum Herzstillstand und plötzlichen Herztod führen. Bupropion ist zugelassen zur Behandlung depressiver Erkrankungen sowie als Hilfe bei der Raucherentwöhnung nikotinabhängiger Patienten. Nach Einschätzung des PRAC (Pharmakovigilanz-Ausschuss der Europäischen Arzneimittelagentur) deuten Daten aus Spontanmeldungen und ein in der Literatur beschriebener, nachvollziehbarer Wirkmechanismus darauf hin, dass Bupropion das Brugada-Syndrom demaskieren kann. Die Produktinformation Bupropion-haltiger Arzneimittel wird daher angepasst.