Nichteinwilligungsfähige Patienten: Wann kann Zwang bei Selbstgefährdung gerechtfertigt sein?

  • Nicola Siegmund-Schultze
  • Studien – kurz & knapp
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Kernbotschaften

Zwang bei gesundheitlicher Selbstgefährdung kann in vielen Bereichen der Medizin relevant werden: in der Psychiatrie, aber auch in der Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe oder der Geriatrie. In aktuellen Empfehlungen gibt die Bundesärztekammer eine Orientierung, welche Voraussetzungen für die Indikation von Zwangsmaßnahmen wie technische oder medikamentöse Fixierung oder die Unterbringung in einer Klinik ohne Einverständnis der Patientin/des Patienten erfüllt sein sollten (Deutsches Ärzteblatt 2023; DOI: 10.3238/arztebl.2023).

Hintergrund 

Akute Suizidgefahr oder Nahrungsverweigerung bei Magersucht mit drohenden irreversiblen Schäden des Gastrointestinaltrakts oder der Knochensubstanz: Das können nach der Rechtsprechung erhebliche Gesundheitsgefährdungen sein, die unter Umständen medizinische Zwangsmaßnahmen erlauben. In den vergangenen Jahren haben immer wieder höhere Gerichte in Deutschland darüber entschieden, ob bestimmte ärztliche Maßnahmen, die Patienten schützen sollten, sie aber in ihrer Freiheit und ihrem Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt haben, gerechtfertigt waren (1). Die Bundesärztekammer hat nun Empfehlungen veröffentlicht, die ethische Grundsätze umreißen und medizinische und rechtliche Voraussetzungen für die Anwendung von Zwang bei nichteinwilligungsfähigen Patientinnen oder Patienten beschreiben (2).

Design

  • Urheber der Empfehlungen: Ausschuss für ethische und medizinisch-juristische Grundsatzfragen der Bundesärztekammer

  • Basis der Empfehlungen: einschlägige Gesetze und Rechtsprechung der BRD, Berücksichtigung von Stellungnahmen und Empfehlungen der Fachgesellschaften und des Deutschen Ethikrats

Hauptergebnisse

  • Generelle Grundlage für eine ärztliche Behandlung ist die informierte Zustimmung des Patienten/der Patientin.

  • Zwangsmaßnahmen wie die Unterbringung in einer Klinik, eine technische oder medikamentöse Fixierung des Patienten oder eine heimliche Medikamentengabe, sind nur das letzte Mittel, um eine erhebliche Selbstgefährdung abzuwenden.

  • Vorangegangen sein müssen „ernsthafte Überzeugungsversuche mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne unzulässigen Druck“.

  • Zentrale Voraussetzungen für die Anwendung von Zwang bei Selbstgefährdung sind außerdem:

    • der dem Patienten drohende Schaden muss erheblich sein, also lang andauernd, gravierend oder irreversibel

    • die Annahme, dass der Patient/die Patientin der Maßnahme zustimmen würde, wenn er/sie einwilligungsfähig wäre

    • die Selbstbeschädigung ist mit milderen Mitteln wie einer Sitzwache statt Fixierung oder Sedierung nicht zu erreichen ist

    • der zu erwartende Nutzen überwiegt die Risiken der mit der Maßnahme für den Patienten verbundenen Belastungen, darunter ein möglicher negativer Einfluss auf das Vertrauensverhältnis zum Behandlungsteam

    • bei einer planmäßigen Zwangsbehandlung ein Gericht zugestimmt hat und bei Eilfällen der Antrag auf Zustimmung unverzüglich gestellt wird.

  • Ausgeschlossen sind demnach erzwungene medizinische Untersuchungen oder Behandlungen, wenn der Patient sie im einwilligungsfähigen Zustand abgelehnt hat.

  • Unzulässig wären Zwangsmaßnahmen auch dann, wenn sie für den Patienten keinen relevanten therapeutischen Nutzen haben, sondern zum Beispiel Arbeitsabläufe der Behandler vereinfachen sollen.

Klinische Bedeutung 

Zwang im Kontext der Medizin darf nur als letztes Mittel in Betracht kommen. Da die Anwendung und Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen allerdings nicht nur von der individuellen Situation und den daran Beteiligten abhängt, sondern auch wesentlich von institutionellen Bedingungen bestimmt werden, müssen Rahmenbedingungen, Strukturen und Prozesse in Kliniken und anderen Einrichtungen der Gesundheitsversorgung so gestaltet werden, dass Zwang möglichst vermieden wird. 

Finanzierung: Mittel der Bundesärztekammer