Neurologen und Psychiater zur Suizidassistenz: Über die Hälfte lehnt eigene Beihilfe ab
- Dr. Nicola Siegmund-Schultze
- Studien – kurz & knapp
Kernbotschaften
Die meisten, nämlich 72 % von 2048 Teilnehmern einer Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), hält eine Assistenz beim Suizid unter bestimmten Umständen für legitim: Wenn der Suizidwunsch eine freiverantwortliche Entscheidung ist und besonders, wenn der Leidensdruck hoch und das Lebensende nah ist. Für sich selbst aber schlossen etwas mehr als die Hälfte der Befragten (53 %) die Beteiligung an einem Suizid aus. Die große Mehrheit hält eine gesetzliche Neuregelung des assistierten Suizids für notwendig. Besonders sollte der Gesetzgeber auf die Trennung von Beratung, Begutachtung und Durchführung der Suizidassistenz achten (1).
Hintergrund
Bei der Frage nach einer möglichen Beihilfe zur Selbsttötung gibt es derzeit ein gesetzliches Vakuum. Ab Dezember 2015 war eine geschäftsmäßige wiederholte Förderung der Selbsttötung strafbar, auch wenn sie ohne eine Absicht zur Gewinnerzielung erfolgte (§ 217 StGB). Lediglich der nicht geschäftsmäßig Handelnde, ein Angehöriger oder Nahestehender zum Beispiel, blieb straffrei (2). Fünf Jahre später kippte das Bundesverfassungsgericht diese Regelung. Sie sei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Jeder habe ein Verfügungsrecht über das eigene Leben. Beim 124. Deutschen Ärztetag 2021 wurde als Konsequenz beschlossen, den Satz „Ärztinnen und Ärzte dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“, aus der (Muster-)Berufsordnung zu streichen. Allerdings gehöre die Hilfe zur Selbsttötung „nicht zum Aufgabenspektrum von Ärzten“ (3). Die DGPPN hat daraufhin eine Umfrage unter Mitgliedern initiiert.
Design
- Durchführung der Umfrage: Berliner Institut für Sozialforschung (BIS)
- Methode der Umfrage: Fragebogen online ab 15.07. bis 31.08.2021; 40 Fragen zum Themenkomplex
- Adressaten: die damals 9356 Mitglieder der DGPPN
- Rücklauf: 22 % (2048 DGPPN-Mitglieder)
Hauptergebnisse
- Eine Mehrheit 2048 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hält eine Assistenz beim Suizid für legitim: bei freiverantwortlich gefasstem Suizidwunsch und unter bestimmten Umständen (72 %). Diese Umstände waren vor allem hoher Leidensdruck und eine nahes Ende des Lebens (von 67 % der Antwortenden genannt).
- Als wesentliche Faktoren, die die Freiverantwortlichkeit einschränken könnten, wurden
- psychotische und depressive Symptome genannt,
- kognitive Beeinträchtigungen und
- Suchterkrankungen.
- Jeder fünfte Teilnehmende (20 %) lehnte aber auch bei freiverantwortlichem Suizidwunsch eines Erwachsenen die Beihilfe generell ab und 53 % der Antwortenden für sich selbst.
- Etwas mehr als ein Drittel (35 %) wurde in der Vergangenheit schon um Suizidassistenz gebeten, und zwar deutlich häufiger im beruflichen als im privaten Kontext (34 % vs. 11 %).
- Die Mehrheit der Teilnehmenden (88 %) hält eine gesetzliche Regelung des assistierten Suizids für notwendig.
- Als wichtiger Bestandteil wurde am häufigsten eine Trennung von Beratung, Begutachtung und Durchführung der Suizidassistenz genannt (76 %).
Klinische Bedeutung
Das Thema Suizidassistenz betrifft grundsätzlich alle Ärztinnen und Ärzte. Aktuell berät der Bundestag über mehrere interfraktionelle Gesetzesentwürfe zur Ausgestaltung eines „legislativen Schutzkonzepts“. In der Diskussion der publizierten Umfrage heißt es, für die gesamte Ärzteschaft sollte ein Meinungsbild erstellt werden, also auch in anderen Fachgebieten.
Wie relevant dieses medizinethische Thema ist, wird auch an Zahlen deutlich: Im Jahr 2020 starben in Deutschland 9206 Personen durch Suizid, also durchschnittlich 25 pro Tag (4), 50–90 % auf Basis von psychischen Erkrankungen. Dies sind fast vier Mal mehr Selbsttötungen, als es Tote durch Verkehrsunfälle gibt (2562 im Jahr 2021; [5]).
Finanzierung: keine Angaben
Dieser Volltext ist leider reserviert für Angehöriger medizinischer Fachkreise
Sie haben die Maximalzahl an Artikeln für unregistrierte besucher erreicht
Kostenfreier Zugang Nur für Angehörige medizinischer Fachkreise