Neuer Antikörper für Alzheimer-Kranke: zwischen viel Hoffen und etwas Bangen

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Medizinische Nachrichten
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Kernbotschaften

Die von Alzheimer-Forschern mit Spannung erwarteten Ergebnisse der Phase-3-Studie mit Lecanemab sind nun bekannt: Die positiven Effekte auf die Kognition und die Amyloid-Last mögen optimistisch stimmen. Ob es ein „Durchbruch“ in der Therapie der Alzheimer-Krankheit ist, wie teilweise behauptet, hängt vermutlich vor allem davon ab, was man als Durchbruch versteht. Sicher ist, dass Forscher, Ärzte, Patienten und ihre Angehörigen auf einen Durchbruch im Sinne einer Heilung noch warten müssen.

Das Resultat: Amyloid-Last gesenkt, kognitiver Abbau gebremst

Wie berichtet wurden positive Resultate der Studie von den Unternehmen Eisai und Biogen bereits vor eingen Wochen durch eine Pressemitteilung bekannt gemacht. Nun sind die Ergebnisse auf der Alzheimer-Konferenz Clinical Trial on Alzheimer´s Disease (CTAD) in San Francisco vorgestellt und zugleich im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht worden. Das Ergebnis in aller Kürze: Der Antikörper senkt erwartungsgemäß die Amyloid-Last und bremst sogar ein wenig den kognitiven Abbau. Aber zum einen stellt sich ähnlich wie bei Aducanumab (Aduhelm) die Frage nach der klinischen Relevanz des Effektes, zum anderen ist auch der monoklonale Antikörper von Eisai und Biogen nicht frei von zerebralen Nebenwirkungen. „Der Nutzen ist real, die Risiken sind es auch", zitiert die „New York Times“ den nicht an der Studie beteiligten Demenz-Spezialisten Dr. Jason Karlawish, Co-Direktor des Penn Memory Center der Universität Pennsylvania,. Zu beachten ist allerdings auch, dass der Effekt auf die Kognition bei längerer Therapie größer werden könnte.

18 Monaten, fast 1800 Teilnehmer, frühes Erkrankungsstadium

Hier die wesentichen Daten zu der Studie: In die kontrollierte 18-monatige, multizentrische, doppelblinde Phase-3-Studie wurden mit Personen im Alter von 50 bis 90 Jahren mit früher Alzheimer-Krankheit (leichte kognitive Beeinträchtigung oder leichte Demenz aufgrund der Alzheimer-Krankheit) aufgenommen. Abnormes Amlyoid wurde mit der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder durch Liquoruntersuchungen vorgenommen. Die Teilnehmer erhielten nach dem Zufallsprinzip im Verhältnis 1:1 eine intravenöse Lecanemab-Behandlung (10 mg pro Kilogramm Körpergewicht alle 2 Wochen) oder Placebo. Der primäre Endpunkt war die Veränderung der Punktzahl auf dem Clinical Dementia Rating-Sum of Boxes (CDR-SB; Bereich 0 bis 18, wobei höhere Punktzahlen eine stärkere Beeinträchtigung anzeigen) gegenüber dem Ausgangswert nach 18 Monaten.

Wichtige sekundäre Endpunkte waren die Veränderung der Amyloid-Belastung in der PET, die Punktzahl auf der 14-teiligen kognitiven Unterskala der Alzheimer's Disease Assessment Scale (ADAS-cog14; Bereich, 0 bis 90; höhere Punktzahlen weisen auf eine stärkere Beeinträchtigung hin), der Alzheimer's Disease Composite Score (ADCOMS; Bereich, 0 bis 1, 97; höhere Werte weisen auf eine stärkere Beeinträchtigung hin) und die Punktzahl auf der Alzheimer's Disease Cooperative Study-Activities of Daily Living Scale for Mild Cognitive Impairment (ADCS-MCI-ADL; Bereich, 0 bis 53; niedrigere Punktzahlen weisen auch hier auf eine stärkere Beeinträchtigung hin).

Unstrittig: signifikante Effekte

Insgesamt wurden 1795 Teilnehmer in die Studie aufgenommen, von denen 898 Lecanemab und 897 ein Placebo erhielten. Der mittlere CDR-SB-Wert bei Studienbeginn lag in beiden Gruppen bei etwa 3,2. Die bereinigte kleinste Veränderung gegenüber dem Ausgangswert nach 18 Monaten betrug 1,21 bei Lecanemab und 1,66 bei Placebo (Differenz: -0,45; 95% CI: -0,67 bis -0,23; P<0,001). In einer Teilstudie mit 698 Teilnehmern war die Reduktion der zerebralen Amyloid-Last unter Lecanemab deutlich größer als unter Placebo. Die durchschnittliche Amyloid-Last  betrug zu Studienbeginn in der Verum-Gruppe 77,92 Centiloid. Sie fiel um rund 55,5 Centiloid; in der Placebo-Grppe mit einem Ausgangswert von 75 stieg sie hingegen - und zwar um rund 3,6 Centiloid.Auch bei weiteren sekundären Endpunkten wie  dem ADAS-cog14-Score schnitt Lecanemab besser als Placebo. Bei 26,4 Prozent der Teilnehmer seien infusionsbedingte Reaktionen und bei 12,6 Prozent ARIA (amyloidbedingten Bildgebungsanomalien mit Ödemen oder Ergüssen) aufgetreten.

Schlussfolgerungen der Autoren: Lecanemab reduzierte bei Patienten mit früher Alzheimer-Erkrankung die Amyloid-Marker und führte im Vergleich zu Placebo nach 18 Monaten zu einem mäßig geringeren Abbau der kognitiven Fähigkeiten und Funktionen, war jedoch mit unerwünschten Ereignissen verbunden. Es seien nun längere Studien erforderlich, um Wirksamkeit und Sicherheit von Lecanemab bei der frühen Alzheimer-Krankheit zu ermitteln.

Vorsichtiger Optimismus

Eine Bewertung der Studie hat unter anderen Dr. Linda Thienpont, Leiterin Wissenschaft bei der Alzheimer Forschung Initiative, abgegeben:  „Die Ergebnisse stimmen vorsichtig optimistisch. Lecanemab greift in die Mechanismen der Alzheimer-Krankheit ein und reduziert nicht nur die schädlichen Amyloid-Ablagerungen, sondern verzögert auch den Krankheitsverlauf. Das ist das ausschlaggebende Kriterium für die Patientinnen und Patienten - und das hat bisher noch kein Wirkstoff geschafft. Allerdings ist die Verbesserung der Kognition von 27 Prozent nur sehr moderat. Es ist deshalb fraglich, wie stark dieser Effekt für Betroffene spürbar ist und tatsächlich im Alltag einen Unterschied macht. Die Studie hat aber gezeigt, dass sich der verzögernde Effekt mit zunehmender Dauer der Wirkstoffeinnahme vergrößert hat. Das könnte heißen, dass eine Einnahme über den Zeitraum der bisher untersuchten 18 Monate hinaus die Wirksamkeit von Lecanemab noch erhöht. Weitere Studien müssen das untersuchen.“

Statistisch signifikant, klinisch irrelevant?

„Die klare Frage ist, was dieser geringe Nutzen für Patienten und Pflegepersonal bedeutet", kommentierte in der „New York Times“ Dr. Kristine Yaffe, Professorin für Neurologie und Psychiatrie an der University of California in San Francisco, die nicht an der Studie beteiligt war. „Und wie können wir das ausbalancieren, mit den erheblichen Sicherheitsrisiken, der Notwendigkeit häufiger Infusionen und den zweifellos hohen finanziellen Kosten?“

„Aus der Sicht eines Wissenschaftlers ist es aufregend, dass eine experimentelle Behandlung, die auf Amyloid im Gehirn bei der Alzheimer-Krankheit abzielt, den kognitiven Verfall zu verlangsamen scheint“, so Dr. MadhavThambisetty, Neurologe und leitender Forscher am National Institute on Aging.  Aber „aus der Sicht eines Arztes, der sich um Alzheimer-Patienten kümmert, liegt der Unterschied zwischen Lecanemab und Placebo weit unter dem, was als klinisch sinnvoller Behandlungseffekt angesehen wird“, zitiert die US-Zeitung Thambisetty.

Laut Professor Dr. Stefan Teipel (Deutsches Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen e. V. (DZNE), Rostock/Greifswald) ist „die Studie in sich sehr stimmig und die Daten sind konsistent. Nach einem Zeitraum von 18 Monaten wurde ein Effekt auf das Amyloid, auf den primären Endpunkt, also die Punktzahl im Clinical Dementia Rating (CDR), sowie ein gleichsinniger Effekt auf vorbestimmte sekundäre Endpunkte beobachtet. Gleiches gilt für die Liquormarkert“.

Die Frage, die man diskutieren müsse, sei, „wie relevant der Effekt klinisch ist. In den 18 Monaten Untersuchungszeitraum wurden zwischen der Lecanemab- und der Placebogruppe 0,45 Punkte Unterschied auf der CDR-Skala beobachtet. Davon merkt der Patient wahrscheinlich kaum etwas. Allerdings muss man da auch einen längeren Zeitraum bedenken. Wenn der Effekt persistiert, würde die Differenz über die Zeit noch weiter auseinandergehen und relevanter werden“.

„Ermutigende Resultate“, aber „wahnsinniger Aufwand“

Insgesamt sei es eine sehr ermutigende Studie. Es sei zwar nur eine geringfügig geringere Verschlechterung der kognitiven und funktionellen Fähigkeiten gegenüber der Placebo-Gruppe beobachtet worden; „bei einem Score, der bei der untersuchten Gruppe bei Beginn der Studie nur bei drei von 18 Punkten lag, wäre mehr jedoch auch sehr viel verlangt. Zugleich ist der klinische Effekt gleichsinnig zu den Effekten auf die Biomarker“.

Er, so Teipel weiter, „halte es für sehr wichtig, mit diesen Daten in den Austausch mit der Patientenseite zu treten. Neben der abstrakten Diskussion über Nebenwirkungen und Effekte, dürfen wir nicht vergessen zu ‚übersetzen‘, was beispielsweise diese 0,45 Punkte auf der CDR-Skala für den Patienten ganz konkret bedeuten. Die Betroffenen müssen nachvollziehen können, was sich durch diese Therapie in ihrem Leben verändert. Man muss auch bedenken: Die Substanz wird alle zwei Wochen intravenös verabreicht und initial wird alle drei Monate ein MRT-Scan gemacht. Das ist ein wahnsinniger Aufwand und eine große Belastung für die Patienten. Was gewinne ich in den 18 Monaten und was geht dadurch an Lebensqualität vielleicht auch verloren? Das muss man gegeneinander abwägen“.

Effektiv, aber zu unsicher?

Zudem gibt es Bedenken, was die Sicherheit des Antikörpers angeht. Wie von Univadis berichtet gab es nach der 18-monatigen Therapie-Phase zwei Todesfälle im Zusammenhang mit dem Antikörper. Bei beiden Patienten, einer Frau und einem Mann, soll es zu zerebralen Ödemen und Blutungen gekommen sein. Allerdings soll unklar sein, ob diese Patienten während der randomisierten und doppelblinden Therapie-Phase das Verum- oder das Placebo-Präparat erhalten haben. Nach Ablauf der 18 Monate sollen sie sich jedoch für den Antikörper entschieden haben. Ob der Antikörper jedoch die Blutungen verursacht oder gefördert hat, ist derzeit noch unklar, zumal die gestorbene Patientin wegen eines Schlaganfalles tPA erhalten hatte und der gestorbene Mann einen Gerinnungshemmer wegen einer kardiovaskulären Erkrankung.

In der am Dienstag im „New England Journal of Medicine“ veröffentlichten Studie wurden sechs Todesfälle unter den 898 Lecanemab-Patienten angegeben und sieben Todesfälle unter den 897 Patienten mit Placebo. Den Autoren zufolge wurde kein Todesfall mit Lecanemab in Verbindung gebracht. Eisai erklärte unter Hinweis auf die anderen Erkrankungen der Patienten und die blutverdünnende Medikation: „Eisai ist der Ansicht, dass die Todesfälle nicht auf Lecanemab zurückgeführt werden können." Dem Unternehmen zufolge sind auch die Todesfälle in der Studie (Häufigkeit 0,7 und 0,8 Prozent) nicht auf die Antikörper-Therapie und zerebrale Komplikationen wie Hirnödemen und Blutung zurückzuführen. Laut Thambisetty werfen die beiden Todesfälle dennoch Fragen zur Sicherheit von Lecanemab in der klinischen Praxis auf, in der die Patienten im Gegensatz zu den ausgewählten Patienten in klinischen Studien wahrscheinlich kränker seien und mehrere weitere Erkrankungen hätten.

Gleichwohl wird erwartet, dass die FDA noch im kommenden Januar dem Antikörper eine „beschleunigte Zulassung“ erteilt. In einem solchen Fall müssen die Unternehmen weitere Studien durchführen, um zu beweisen, dass das Medikament wirksam und sicher ist. „Die Daten sind überzeugend und konsistent, so dass wir nun auf eine schnelle Zulassung hoffen, wenn die Zulassungsbehörden das Medikament als sicher einstufen“, urteilt etwa Professor Jörg B. Schulz (Aachen), Sprecher der Kommission Demenz der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN). Positiv sieht die Daten auch der Kölner Demenz-Forscher Professor Frank Jessen. Der Antikörper heile zwar nicht die Erkrankung, sondern bremse nur ihr Fortschreiten, so Jessen in einem Pressegespräch des Science Media Centers. Aber sollte der Antikörper entgegen den Erwartungen keine beschleunigte Zulassung erhalten, wäre das gegenüber den Betroffenen nicht zu erklären und zu vertreten. „Es wäre ein Schlag ins Gesicht für alle, die diese Krankheit haben.“