Nationaler Impfschaden
- Presseagentur Gesundheit (pag)
- Im Diskurs
Die Regierung will keine Gesetzesvorlage liefern. Die größte Oppositionspartei auch nicht. Der Bundespräsident meidet eine klare Positionierung. Und prominente Stimmen lehnen sie ab. Die Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht, die nach Wunsch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch in diesem Quartal in Kraft treten soll, ist mehr als ungewiss.
In seiner ersten Regierungsbefragung am 12. Januar muss Scholz, der für eine Impfpflicht ab 18 Jahren plädiert, sich so einiges aus der Bundestagsopposition anhören. Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU Thorsten Frei fordert unter anderem, dass die Regierung einen eigenen Gesetzentwurf zur allgemeinen Impfpflicht vorlegt. Das will Scholz nicht. Er hofft auf Anträge aus dem Bundestag. Offiziell argumentiert er medizinisch-ethisch: „Es geht um unsere Körper.“ Inoffiziell befürchtet er wahrscheinlich, dass sich in der Ampel keine Mehrheit für diese Maßnahme findet. Schließlich gibt es bereits einen Antrag von 20 FDP-Abgeordneten, in dem sie gegen eine allgemeine Impfpflicht mobil machen. Darunter nicht nur Hinterbänkler, sondern auch die gesundheitspolitische Sprecherin Christine Aschenberg-Dugnus und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki. Ebenfalls aus den Reihen der FDP soll ein überfraktioneller Gruppenantrag rund um den Gesundheitspolitiker Prof. Andrew Ullmann in Vorbereitung sein, der eine Impfpflicht für Über-50-Jährige und eine verpflichtende Impfaufklärung favorisiert. Medienberichten zufolge planen die Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht, zu denen der grüne Gesundheitspolitiker Dr. Janosch Dahmen und SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt gehören, auch einen überfraktionellen Gruppenantrag. Doch vor der Ende Januar vorgesehenen Orientierungsdebatte im Bundestag wird dieser wohl nicht vorliegen.
„Übernehmen Sie Führung“
Am 13. Januar, einen Tag nachdem Scholz Rede und Antwort steht, geht sein Gesundheitsminister und Parteifreund Prof. Karl Lauterbach im Bundestag in die Bütt. Auch er hat sich dezidiert für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Sein Haus wolle aber ebenfalls keinen Gesetzesvorschlag oder eine Formulierungshilfe einreichen. Das ärgert den gesundheitspolitischen Sprecher der CDU/CSU Tino Sorge enorm. „Übernehmen Sie Führung. Verhalten Sie sich nicht wie eine Nichtregierungsorganisation.“ Er hat recht. Die Regierung gibt gerade kein gutes Bild ab. Die Union aber auch nicht.
Denn wer nun glaubt, dass die größte Oppositionsfraktion im Bundestag einen Plan hat, sieht sich getäuscht. Von ihr kommt auch nichts, kein Gesetzentwurf, kein Antrag. So gerät dann auch CSUler Stephan Pilsinger in der Bundestagsaussprache am 13. Januar ins Schwimmen. Nachdem er mit markigen Worten die Ampel für ihre Pandemiepolitik kritisiert, muss er auf Nachfrage des AfD-Abgeordneten Thomas Ehrhorn einräumen, dass die Union nun auch erst einmal abwarten wolle. „Wir sind der Meinung, dass die Regierung diesem Haus einen ordentlichen und rechtssicheren Vorschlag vorlegen muss. Dann werden wir als Union das bewerten und entsprechende Vorschläge machen.“ Ist die Union nun klar für eine allgemeine Impfpflicht? Diese Frage bleibt zumindest in der Bundestagsdiskussion offen. Einige Tage vorher noch kündigt Pilsinger gegenüber der Funke-Mediengruppe an: „Unser Ziel ist es, einen eigenen Unionsantrag auf den Weg zu bringen. Daran arbeite ich mit anderen Gesundheits- und Rechtspolitikern unserer Fraktion." Doch davon will in der Union kurz danach keiner mehr etwas wissen.
Von „politischer Verantwortungslosigkeit" spricht gar der Vorsitzende des Deutschen Beamtenbundes, Ulrich Silberbach, in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ am 19. Januar. „Mir fehlt schon das Verständnis dafür, dass die Regierung hierzu keinen eigenen Gesetzentwurf vorlegt, sondern sich wegduckt. Und wenn man die Impfung als wichtiges Instrument der Pandemiebekämpfung einstuft, versteht erst recht niemand, warum der Bundestag dann nicht schnellstmöglich in einer Sondersitzung darüber entscheidet – wie in der Finanzkrise, als es um das Überleben von Banken ging."
Chefs von KBV und STIKO dagegen
Nicht nur im Parlament müssen die Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht mit Gegenwind rechnen. Prominente Stimmen sprechen sich dagegen aus. Für Dr. Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, ergebe sie angesichts der Omikron-Welle „medizinisch nicht wirklich Sinn“, sagt er im Videopodcast „19 – Die Chefvisite“. Auch Prof. Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO), ist skeptisch. Er hält gegenüber der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“ die Umsetzung für kaum möglich und warnt vor einer Spaltung der Gesellschaft.
Präsident bietet Impfskeptikern Forum
Vor einer klaren Positionierung scheut sich auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) – „aus Respekt vor dem politischen Prozess“, wie er in der vom Bundespräsidialamt initiierten Diskussionsrunde zum Thema sagt. Stattdessen gibt er in dieser virtuellen Runde auch Impf-Skeptikern und Gegnern einer Impfpflicht eine Bühne. Eine von ihnen ist Gudrun Gessert, Lehrerin aus Baden-Württemberg. Aus ihrer Sicht habe die Impfung die in sie gesteckten Erwartungen bislang nicht erfüllen können. Ihre These: „Die Impfpflicht ist nicht geeignet, um die Pandemie überwinden zu können.“ Über die praktischen Hindernisse und den gesellschaftlichen Nutzen einer möglichen Impfpflicht wird in der Runde dennoch weit weniger gestritten, als zu erwarten gewesen wäre. Stattdessen verliert sich die Diskussion bisweilen in medizinischen Details rund ums Impfen selbst – über deren genaue Bedeutung allerdings keiner der geladenen Gäste letztgültig Auskunft geben kann.
Cornelia Betsch, Heisenberg-Professorin für Gesundheitskommunikation an der Uni Erfurt und Initiatorin des COSMO-Panels zum Erleben und Verhalten von Geimpften und Ungeimpften in Deutschland und Österreich, plädiert in der Runde für mehr Solidarität auch jenseits einer Impfpflicht. Sie sagt: „Es ist eine egoistische Entscheidung, sich nicht impfen zu lassen.“ Würden sich alle Menschen nach diesem Muster verhalten, würde das die Kliniken geradewegs in die Überlastung führen.
Karneval statt Impfpflicht?
So manch einer glaubt, dass die Diskussion im Bundestag dem Karneval zum Opfer fällt. Richtig ist: Im Februar gibt es wegen Karneval offiziell nur eine Sitzungswoche. Der Sitzungskalender wurde natürlich unabhängig von der Diskussion um die Impfpflicht erstellt. Es handelt sich also um Zufall, wenn auch einen unglücklichen. So könnte ein möglicher Gesetzentwurf im Bundestag frühestens am 14. März zur Abstimmung kommen. Der Bundesrat tagt anschließend erst wieder am 8. April. Demnach wäre das Inkrafttreten der allgemeinen Impfpflicht im ersten Quartal kaum realistisch, ein mögliches Impfregister könnte den Prozess sogar noch weiter verzögern. Die Rufe nach Sondersitzungen werden deshalb lauter – vor allem vonseiten der Union. Erste parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Irene Mihalic, teilt dazu auf Anfrage der Presseagentur Gesundheit mit: „Wenn entscheidungsreife Initiativen vorliegen, wären wir auch bereit Sondersitzungen einzuberufen, wenn sie der Sache dienlich sind.“
Besser als Influenza-Impfquote
Stand 18. Januar sind 72,8 Prozent der Menschen in Deutschland vollständig geimpft, ist dem Impfdashboard der Bundesregierung zu entnehmen. Laut Expertenmeinung ist das zu wenig – im Vergleich zu anderen Impfquoten aber traumhaft. So gelten 87,8 Prozent der Über-60-Jährigen als vollständig geimpft. Zum Vergleich: 2019 waren in der Bundesrepublik gerade einmal 38,8 Prozent der Über-65-Jährigen gegen Influenza geschützt, wie aus Zahlen des Statistischen Bundesamtes hervorgeht. Spitzenreiter Südkorea verzeichnet dagegen 85,8 Prozent, Europas Nummer eins Griechenland 73,5 Prozent. 2020 lief es nach einer Kampagne des Bundesgesundheitsministeriums besser in Deutschland. „So sind von den Vertragsärztinnen und -ärzten im letzten Jahr insgesamt 13,9 Millionen Patientinnen und Patienten gegen Influenza geimpft worden – ein Plus von 3,8 Millionen (37 Prozent) im Vergleich zu 2019“, teilt das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung im Juni 2021 mit. Diese und andere Impflücken sind übrigens nicht nur in reiner Impfgegnerschaft begründet. Viele Deutsche vergessen einfach, sich regelmäßig zu impfen, da es kein Erinnerungssystem gibt. Und in vielen Regionen ist es schwer, bestimmte Bevölkerungsgruppen zu erreichen, auch das Angebot ist nicht besonders niedrigschwellig. Ganz im Gegenteil zur Corona-Impfung – angesichts der Möglichkeiten im öffentlichen Raum vom Supermarkt-Parkplatz bis hin zur S-Bahn. Da können sich Impfmuffel über Zugangsbarrieren oder mangelnde Erinnerung nicht beschweren.
Dieser Volltext ist leider reserviert für Angehöriger medizinischer Fachkreise
Sie haben die Maximalzahl an Artikeln für unregistrierte besucher erreicht
Kostenfreier Zugang Nur für Angehörige medizinischer Fachkreise