Nach Erdbeben: Türkische Ärzte fürchten nächste Katastrophe durch Millionen Unterversorgte

  • Nicola Siegmund-Schultze
  • Medizinische Nachrichten
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Kernbotschaften

Ärztinnen und Ärzte in der Türkei sehen durch unzureichende Akuthilfen nach dem Erdbeben am 6. Februar die Gefahr einer Folgekatastrophe mit Millionen Menschen, die längerfristig Gesundheitsprobleme haben und medizinisch unterversorgt bleiben könnten. Mediziner vor Ort kritisieren, dass nach dem Beben nicht sofort auch das Militär die behördlich organisierte Notfall- und Katastrophenhilfe (AFAD) unterstützt habe, mit beheizten Zelten beispielsweise und Hygienestrukturen. So kämen zu den akuten Verletzungen immer mehr schwere Atemwegs- und Darminfektionen als Folgen von Unterkühlung und mangelnder Hygiene hinzu. Die Ärzteschaft sei durch die Dauerbelastung seelisch und körperlich am Limit. Es fehle nun aber auch an essenziellen Medikamenten wie Insulin und Antibiotika und an Hämodialysegeräten (1, 2).

Tagsüber 100 Patienten behandeln, nachts im Auto schlafen

Nach Angaben von Ärzten, die in den betroffenen Regionen arbeiten, hätten viele Menschen ihre schwer verletzten Angehörigen in Privatfahrzeugen zu einem Krankenhaus fahren müssen, da Rettungskräfte nicht vor Ort waren. Nur jeder fünfte Behandlungsbedürftige habe überhaupt eine Ambulanz in einem längeren Zeitraum erreicht, berichten Ärzte in der Zeitschrift Lancet (1). Das zeige Defizite in der Akutsituation auf.

Am höchsten sei der unmittelbare Versorgungsbedarf in der allgemeinen Chirurgie, in der Schädelchirurgie, in der Orthopädie und in der Anästhesie gewesen. Die Ärzte hätten rund um die Uhr Patienten versorgt, oft 100 am Tag. Nachts habe das pflegerische und medizinische Personal wegen der Zerstörungen vor Ort teilweise im Auto schlafen müssen. „Die Angst um das eigene Leben und das von Angehörigen, die Dauerbelastungen durch die Versorgung von Patienten – viele Kolleginnen und Kollegen haben eine schwere posttraumatische Belastungsstörung, sie benötigen eine Unterkunft und psychologische Unterstützung“, berichtet Bulut Ezer, ein Arzt, der in der vom Erdbeben betroffenen Stadt Şanliurfa arbeitet (1).

Ohne internationale Hilfe viele weitere Tote befürchtet

Die Versorgung in den kommenden Wochen werde darüber entscheiden, ob Millionen Menschen in den betroffenen Regionen an gesundheitlichen Spätfolgen der akuten Unterversorgung leiden müssten (2). Es gelte, eine beeinflussbare Folgekatastrophe zu verhindern, um viele weitere potenzielle Todesopfer zu vermeiden. Die Ärzte kritisieren auch, dass ihre Problembeschreibungen der akuten, teilweise vermeidbaren Versorgungsdefizite als „Politisierung“ einer Naturkatastrophe interpretiert werde. Es gehe um eine Verbesserung der medizinischen Lage der Menschen.

Die bereits angelaufene internationale Hilfe sei unverzichtbar und müsse ausgeweitet werden.

Von dem Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet könnten nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bis zu 23 Millionen Menschen betroffen sein. Schätzungen zufolge sind bisher zwischen 45-47000 Menschen ums Leben gekommen (Stand: 20.02.2023). Die WHO sicherte den betroffenen Gebieten langfristige Unterstützung zu. Zahlreiche Staaten, darunter Deutschland, haben Teams entsendet und die Bereitstellung von Hilfsgeldern zugesagt. Allein von der WHO sollen circa 50 Millionen US$ bereitgestellt werden.

Am 20.02.2023 gab es in der Grenzregion zwischen der Türkei und Syrien ein weiteres, wenn auch schwächeres Beben.