Mit der Mathematik stehen auch manche Mediziner auf Kriegsfuß

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Medizinische Nachrichten
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Von Dr. Angela Speth

Ein kleiner Test vorab: Angenommen, Sie entdecken im CT einer Patientin zufällig einen Lungenknoten und schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um ein Karzinom handelt, auf 50%. Zur Abklärung verwenden Sie eine Methode, deren Genauigkeit bei 70% liegt. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Krebs diagnostiziert wird?

Wüssten Sie die Antwort nicht, wären Sie in guter Gesellschaft: In einer Umfrage konnte ein großer Teil der Ärzte diese einfache Rechenaufgabe nicht lösen. Dabei hängen viele diagnostische und prognostische Entscheidungen von einer korrekten Einschätzung ab, Fehler können sich fatal auswirken.

Den Anstoß zu ihrem Forschungsprojekt gab ein realer Fall, der mit einer medizinischen Tragödie endete, berichten Prof. Dr. Hal R. Arkes vom Harding-Zentrum für Risikokompetenz der Universität Potsdam und seine Kollegen. Geburtsmediziner hatten eine Schwangere schlecht beraten, indem sie von falschen Wahrscheinlichkeiten ausgingen. Das Kind starb infolge von Schäden, die es während verlängerter Wehen erlitten hatte.

Ausbildung zum Zahlenversteher

„Als Reaktion auf solche Probleme haben mehrere Forscher empfohlen, in der medizinischen Ausbildung mehr Gewicht auf Zahlenverständnis sowie statistisches und probabilistisches Denken zu legen“, schreiben die Autoren. Denn gleich welches Fachgebiet – es gehört zum Berufsalltag von Ärzten, mehrere Sachverhalte zu bewerten, um eine Diagnose zu stellen oder eine Prognose abzugeben. Erst dann können sie abschätzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein bestimmtes Ergebnis eintritt.

Die Berechnung gelingt mit einer ganz simplen Multiplikation: Sind 2 Ereignisse A und B stochastisch unabhängig, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl A als auch B eintreten, gleich dem Produkt der beiden Einzelwahrscheinlichkeiten: Passiert also das eine Ereignis mit einer Wahrscheinlichkeit von 50%, das andere zu 70%, dann beträgt die Gesamtwahrscheinlichkeit 0,35 (35%) – gemäß der Formel 0,5 mal 0,7.

Konjunktionstrugschluss widerspricht der Logik

Daraus folgt: Die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenfalls (Konjunktion) zweier Komponenten kann niemals größer sein als deren Einzelwahrscheinlichkeiten. Ein Verstoß gegen dieses Grundgesetz wird als Konjunktionstrugschluss bezeichnet. Es handelt sich um einen mathematisch inkohärenten Fehler, das heißt, er ist auch formal unlogisch.

Wie häufig unterläuft Ärzten diese Täuschung? Oder schätzen sie die Wahrscheinlichkeit eines medizinischen Resultats, das auf einer zweistufigen Sequenz basiert, meist richtig ein? Das hat die Gruppe um Arkes in einer Online-Umfrage ermittelt.

Die Anwerbung der Probanden besorgte Reckner Healthcare, ein kommerzieller Dienst, der über Panels von Ärzten verschiedener Fachrichtungen verfügt. Ausgewählt und für ihre Teilnahme honoriert wurden zertifizierte oder zugelassene Fachärzte für Geburtshilfe und Gynäkologie sowie Pneumologie, den studienrelevanten Gebieten. Die Rücklaufquote war hoch, da sich alle Probanden freiwillig für die Aufnahme ins Verzeichnis gemeldet hatten.

Kaiserschnitt – ja oder nein?

Die Forscher präsentierten den 215 Ärzten – 2 Drittel Männer, im Durchschnitt 54 Jahre alt – 3 Fallbeispiele. Die Beantwortung dauerte jeweils nicht einmal 3 Minuten.

Im 1. Fallbeispiel wurde 67 Geburtsmedizinern detailliert eine Komplikation im Kreißsaal beschrieben:

Eine 29-jährige Erstgebärende kommt mit Wehen in die Klinik. Dort wird bei dem Kind eine Stirnlage festgestellt.

  • Szenario 1: Wie hoch schätzen Sie zum Zeitpunkt dieser Diagnose die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr in die hintere Hinterhauptlage und einer vaginalen Entbindung?
  • Szenario 2: Wie hoch schätzen Sie zum Zeitpunkt der Diagnose die Wahrscheinlichkeit einer Drehung in eine entbindungsfähige Position?
  • Szenario 3: Tatsächlich wechselt das Kind eine Stunde später zur Hinterhauptlage. Schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit einer vaginalen Geburt.

Ist der Lungenknoten ein Karzinom?

Im 1. Fallbeispiel entschieden 84 Lungenfachärzte über Krebsdiagnostik:

Bei einer älteren Patientin wird nach einem Autounfall im Thorax-CT zufällig ein Knoten in der Lunge entdeckt.

  • Szenario 1: Wie hoch ist die kombinierte Wahrscheinlichkeit, dass einerseits ein Karzinom vorliegt und dass andererseits nach einer Nadelbiopsie ein Karzinom bei der pathologischen Untersuchung diagnostiziert wird?
  • Szenario 2: Die Biopsie ist noch nicht erfolgt. Wie hoch schätzen Sie speziell bei dieser Patientin die Wahrscheinlichkeit eines Karzinoms?
  • Szenario 3: Wie hoch schätzen Sie allgemein bei Patienten mit Karzinom die Wahrscheinlichkeit, dass der Pathologe in der Gewebeprobe tatsächlich Krebszellen findet?

Schritt vom Ganzen auf die Teile und umgekehrt

In diesen beiden Aufgaben sollten die Ärzte also zunächst die Gesamtwahrscheinlichkeit angeben. Erst anschließend wurden sie nach der Wahrscheinlichkeit jeder der beiden Komponenten gefragt, ohne dass sie allerdings die vorangehende Gesamtbewertung noch korrigieren konnten.

Die 3. Aufgabe war eine Variante der ersten: 64 Geburtsmediziner sollten zunächst die Wahrscheinlichkeiten der beiden Komponenten angeben und erst danach die Gesamtwahrscheinlichkeit. So erhielten sie eine größere Chance, den Konjunktionstrugschluss zu vermeiden, denn Forschungen zufolge verbessert die Aufschlüsselung einer Aufgabe in ihre Bestandteile die Leistung erheblich.

Um das Ausmaß der Täuschung bestimmen, braucht man ja die Wahrscheinlichkeit der Einzelereignisse. Hierfür zogen die Autoren nicht etwa Daten aus der Literatur heran, sondern sie legten jene Werte zugrunde, die die Ärzte selbst genannt hatten.

Nur ein einziger Arzt löste alle Aufgaben richtig

Die Auswertung ergab: Fast 80% der Teilnehmer begingen den Konjunktionstrugschluss. Einem Anteil von rund 12% unterlief sogar ein doppelter Konjunktionsfehler, das heißt, sie schätzten die Wahrscheinlichkeit der Konjunktion nicht etwa nur gleich der Wahrscheinlichkeit einer der Komponenten, sondern sogar höher. Nur ein einziger Arzt beurteilte in allen Aufgaben die Wahrscheinlichkeit der Konjunktion korrekt so, dass sie genau dem Produkt der Komponenten entsprach.

Verglichen mit dem Produkt der beiden Komponenten überschätzten die Befragten die kombinierte Wahrscheinlichkeit in der 1. Aufgabe um 13%, in der 2. um 20% und in der 3. um 18%.

Die hohe Fehlerquote selbst der 3. Aufgabe zeigt nach Ansicht der Forscher, dass der Versuch versagt hatte, den Befragten zur Vermeidung des Konjunktionstrugschlusses zu verhelfen. Denn anders als in der 1. Aufgabe galt es ja, zuerst die Wahrscheinlichkeiten der Komponenten zu berücksichtigen. „Offenbar kannten die Ärzte die Multiplikationsregel nicht oder wussten nicht, wann sie anzuwenden war“, folgert das Team um Arkes.

Langjährige Berufstätigkeit brachte keinen Vorteil

Frauen irrten sich gleich häufig wie Männer, und es bestand auch kein Zusammenhang zwischen Fehlerhäufigkeit und Berufserfahrung, das heißt der Zeit, die seit dem Medizinstudium verstrichen war (im Mittel etwa 28 Jahre).

Die Spannweite sowohl der Einzel- als auch der Konjunktionsschätzungen war enorm: Sie reichte von wenigen Prozent bis über 90%. „Diese hohe Variabilität widerlegt die Hoffnung, die Ärzte würden die Gesamtwahrscheinlichkeit doch richtig einschätzen, selbst wenn sie die Multiplikationsregel nicht beachten. Ihr beträchtliches Fachwissen und ihre Erfahrung haben sich also als wenig hilfreich erwiesen.“

Spezifische Erklärungen für den Konjunktionsfehler können die Wissenschaftler nicht bieten, denn die in der Literatur diskutierten Ansätze treffen nach ihrer Ansicht nicht auf die Versuchsbedingungen zu. Sie sehen nur einen allgemeinen Grund: „Viele Ärzte sind möglicherweise nicht sehr gut in der Berechnung von Wahrscheinlichkeiten oder auch nur in grundlegenden Rechenfertigkeiten.“

Gute Medizin braucht Wahrscheinlichkeitsrechnung

In den unzähligen Szenarien, in denen Entscheidungen von Wahrscheinlichkeiten abhängen, könnte die erhebliche Häufigkeit von Irrtümern die medizinische Versorgung beeinträchtigen, befürchten die Autoren.

Denn in der Medizin werde oft eine Grenze der Wahrscheinlichkeit festgelegt, ab der eine Intervention gerechtfertigt ist, etwa im Szenario der Geburtshilfe. Wird diese Schwelle überschritten, ist ein sofortiger Kaiserschnitt gerechtfertigt, um das Kind keiner Gefahr auszusetzen.

Im Szenario mit dem Lungenknoten könne der Konjunktionstrugschluss zu unnötiger Verwirrung bei Patient und Arzt führen oder zu einer unzulänglichen Diagnostik. Wären etwa Alternativen zur Nadelbiopsie vorhanden, zum Beispiel eine chirurgische Resektion, müssten Ärzte zur Auswahl der besten Option die Erfolgswahrscheinlichkeiten vergleichen. 

 

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Medscape.de.