Misophonie: Wenn sogar ganz normale Geräusche quälen - Folge 1

  • Dr. Angela Speth
  • Medizinische Nachrichten
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Heinz Funke ist fünf Jahre alt, als er die Schnallen an den Schuhen seiner Mutter mit der Schere zerschneidet und behauptet, der Hund hätte sie zerkaut - das Klackern ihrer Absätze war ihm unerträglich geworden. Ebenso wenig kann er von Kind an Kaugeräusche ausstehen, so dass er immer alleine isst. Seinen Beruf als Fachkraft für Lagerlogistik hat er aufgeben müssen. Lange glaubt er, „nicht ganz richtig im Kopf“ zu sein, bis ein kompetenter Arzt bei ihm eine Misophonie diagnostiziert - da ist er schon über 50 Jahre alt. Mit diesem Fallbeispiel beginnt eine Übersichtsarbeit über diese Störung.

Das schrille Quietschen der Kreide an der Tafel, das Bremsen einfahrender Züge im Bahnhof, das Tatütata des Martinshorns - das tut jedem geradezu weh, man bekommt Gänsehaut. Doch bei den Reaktionen mancher Menschen auf Geräusche hört das Verständnis auf, weil sie weder laut noch unangenehm, sondern alltäglich sind. Wer aber an Misophonie leidet, dreht schier durch, wenn er sie hört.

Diagnostik und Therapie stehen erst am Anfang

Um Verständnis bemüht sich jedenfalls die Medizin, wenngleich viele Fragezeichen noch nicht beseitigt sind, wie Dr. Cornelia Schwemmle von der HNO-Uniklinik Magdeburg und ein Kollege darlegen. Zum Beispiel herrscht Uneinigkeit, ob die Misophonie als neu erkannte psychische Störung anzusehen ist, die ins Spektrum der Zwangsstörungen fällt, oder „nur“ als eine Begleiterscheinung. Weiterhin sind die Ursachen ungeklärt, eine standardisierte Diagnostik fehlt ebenso wie eine evidenzbasierte Therapie. Die Publikation mit dem anschaulichen Titel „Die Wut im Ohr“ informiert umfassend über den Stand der Forschung [1]. 

Unter Misophonie versteht man eine extreme Empfindlichkeit gegen ein ganz unspektakuläres Geräusch, meist eines, das andere Menschen mit ihrem Körper - mit Mund oder Nase - erzeugen: Kauen, Schlucken, Schmatzen, Atmen, Schniefen, Räuspern. Aber auch sonstige Laute, die sie produzieren, wirken als Trigger: Klimpern mit Besteck, Sich Kratzen, Klicken oder Klopfen mit dem Kugelschreiber, Tippen auf einer Tastatur, Rascheln mit Papier oder Klappern von Schuhabsätzen.

Sogar Vogelzwitschern kann zur Tortur werden

Breit ist das Spektrum der Geräusche, die Menschen mit Misophonie aus der Fassung bringen: von Tieren - Hundebellen, Grillenzirpen, ja sogar Vogelgezwitscher - oder von Geräten - Klingeln des Telefons, Ticken der Uhr, Toilettenspülung, Brummen von Kühlschrank, Staubsauger oder Waschmaschine -. Ausschlaggebend sind nicht die physikalischen Eigenschaften des Stimulus, vielmehr dessen Interpretation und der soziale Kontext.

Bereits eine geringe Lautstärke wird als überlaut und bedrohlich empfunden, andere Geräusche mit ähnlichem Frequenzspektrum verursachen keine Symptome. Wenn auch meist ein bestimmter Trigger bei einer bestimmten Person den Anfang bildet, so weitet sich die Abneigung häufig auf weitere Geräusche und Personen aus. Möglich ist, dass Alkohol die Reaktion dämpft und Koffein sie steigert.

Zum Formenkreis der Misophonie gehören - obwohl seltener - auch visuelle Trigger: Jemand kann den Anblick der Lippenbewegung anderer beim Essen nicht ertragen oder wenn das Gegenüber im Sitzen mit dem übergeschlagenen Bein schlenkert.

Auch Finger- oder Beinbewegungen sind Trigger

Der Trigger löst zunächst einen körperlichen Reflex, dann extreme Emotionen aus: Irritation, Aversion, Ekel bis hin zu Wut. Das äußert sich auch physiologisch mit Schweißausbrüchen, Atemnot oder schnellem Puls, der Blutdruck steigt, die Muskeln besonders im Hals und Nacken verspannen sich. Während Misophonikern nicht selten augenblicklich der Kragen platzt, dauert es manchmal Stunden, bis sie sich wieder beruhigen.

Die einen ertragen die Situation entweder mit Unbehagen oder Leid, die anderen probieren es mit „Fight or Flight“. Kampf heißt Aggression, die vor allem unausweichlich scheint, wenn die Möglichkeit fehlt, sich zurückzuziehen, zum Beispiel während einer Autofahrt. In einer Studie gaben 12% der Teilnehmer an, den Verursacher schon geschlagen zu haben, fast 30% hatten ihn beschimpft und 17% ihre Wut an Gegenständen ausgelassen. Hinzu kamen Gedanken wie „Ich hasse sie/ihn“, „Warum tut er/sie mir dies an“, „Er/sie sollte aufmerksamer sein“. Konflikte zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Partnern sind programmiert, denn die Misophonie spielt sich meist im Alltag einer Familie ab.

Misophonie treibt in die Einsamkeit

Flucht heißt zum Beispiel überstürztes Weglaufen vom Esstisch und langfristig der Versuch, die misophone Situation zu vermeiden. Diese Menschen schränken ihren Bewegungsradius und ihre Aktivitäten ein, brechen Freundschaften oder die Ausbildung ab, im Extremfall verlassen sie kaum noch die Wohnung, fahren nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder sind nicht oder nur begrenzt arbeitsfähig. Manche lehnen es ab, mit der Familie zu essen, oder bemühen sich, den Trigger selbst nicht zu produzieren. Vereinzelt spitzt sich das Leid zu Suizidgedanken zu.

Diese Reaktionen stehen in einem grotesken Missverhältnis zum Anlass, auch weil diese Menschen den Auslöser oft von klein auf kennen und ihn ja auch selbst fabrizieren wie das Kaugeräusch. Wird ihnen anschließend das völlig Überzogene ihres Verhaltens bewusst, bekommen sie Schuld- und Schamgefühle, zumal die Mitmenschen sie als Verrückte abstempeln, die einer bloßen Einbildung verfallen sind.

Hyperakusis und Phonophobie als Differentialdiagnosen

Die Misophonie muss abgegrenzt werden von zwei anderen Formen der Geräuschüberempfindlichkeit, die ebenfalls oft schon bei Kleinkindern beginnen:
- Menschen mit Hyperakusis reagieren drastisch auf Geräusche schon normaler Lautstärke, also unterhalb von 70 oder 80 Dezibel. Die unmittelbaren psychischen und physiologischen Symptome ähneln denen der Misophonie.
- Bei der Phonophobie handelt es sich um eine allgemeine Angst vor Geräuschen, auch wenn diese aktuell gar nicht vorhanden sind.
Wie Schwemmle und Arens berichten, fällt im Internet beim Stichwort „misophonia“ eine eklatante Diskrepanz auf: zwischen den Einträgen in wissenschaftlichen Datenbanken und gängigen Suchmaschinen: Bei PubMed finde man 65, bei Google dagegen 554.000. Damit erklären sie auch, warum Misophonie-Foren so präsent sind: Das Bedürfnis nach Austausch sei immer dann groß, wenn die Medizin kaum einen Beitrag leistet und Therapie-Angebote rar sind.

Eine gewisse Verwandtschaft zum Tinnitus

Den Begriff „Misophonie“ statt „Hass auf Geräusche“ haben Neurowissenschaftler im Jahr 2001 geprägt. Schon einige Jahre vorher allerdings hat eine Audiologin das „selective sound sensitivity syndrome“ erstmals beschrieben, und bald wurde das Modell des Tinnitus als Phantomphänomen darauf übertragen. Das Interesse der Wissenschaftler ist seitdem gewachsen. Die Publikationen reichen von Fallbeschreibungen bis Reviews, darunter die bisher größte Studie, in der bei knapp 600 Teilnehmern die psychiatrischen, somatischen und psychologischen Charakteristika bestimmt wurden.

2013 wurden Definitionskriterien veröffentlicht:

A. Das Hören oder die Vorahnung eines spezifischen Geräuschs, das von einem Mitmenschen hervorgerufen wird, vor allem beim Essen oder Atmen, provoziert eine impulsive körperliche Abwehrreaktion, die mit Irritation oder Ekel beginnt und sich augenblicklich in Ärger umwandelt.
B. Dieser Ärger löst ein tiefes Gefühl von Kontrollverlust aus mit seltenen, aber potentiell aggressiven Ausbrüchen.
C. Die Person erkennt, dass ihr Ärger oder Ekel übertrieben und unvernünftig sind und in krassem Missverhältnis zu den Umständen oder dem Stressor stehen.
D. Die Person versucht, das misophone Geräusch zu vermeiden, oder wenn das nicht geht, erträgt sie die Situation mit intensivem Unbehagen, Ärger oder Ekel.
E. Ärger, Ekel oder Vermeiden des Auslösers bedeuten für die Person einen erheblichen Stress oder beeinträchtigen ihren Alltag gravierend. Zum Beispiel kann es ihr unmöglich werden, im Beruf wichtige Aufgaben zu übernehmen, Freunde zu treffen, die Schule zu besuchen oder sonstwie mit anderen zu interagieren
F. Ärger, Ekel oder Vermeiden des Auslösers können nicht durch eine andere Störung erklärt werden, etwa Zwangsneurose oder posttraumatische Belastungsstörung.

Mehrere Fragebögen wurden erarbeitet

Die Diagnose wird durch Anamnese und Erhebung der Symptome gestellt. Hilfsmittel sind Interviews und bisher nicht validierte englische Fragebögen, die ins Deutsche übersetzt wurden.

- Am häufigsten verwendet und rasch beantwortet (von 0 bis 4) ist die Amsterdam-Misophonia-Scale (A-MISO-S). Beispiele für die insgesamt 7 Fragen: Wie sehr sind Sie durch diese Geräusche eingeschränkt? Wie wirken sich die Trigger auf Ihr Sozial- und Berufsleben aus? Gibt es Aktivitäten, die Sie wegen der Trigger vermeiden? Wie sehr können Sie Ihre Gedanken über die Trigger kontrollieren?
- Zum Misophonia Questionnaire MQ gehören drei Skalen. Darauf bewerten die Teilnehmer ihre Symptome von 0 bis 4, etwa beim Essen, Klopfen (mit einem Stift) oder Räuspern, ihr Verhalten (Weggehen, Vermeiden) samt Emotionen (ängstlich, traurig, aggressiv) und schließlich den Schweregrad ihrer Geräuschempfindlichkeit.
- Misophonie-Selbstbewertungsfragebogen (Misophonia Assessment Questionnaire, MAQ) mit 21 Fragen, jede mit 0 bis 3 Punkten zu bewerten.
- Die Misophonie Aktivierungsskala (Misophonia Activation Scale, MAS-1), auch auf der Internetplattform misophonia-uk.org publiziert, erlaubt die Einordnung der eigenen Reaktionen zwischen Stufe 0 und 10.

Studien zu Häufigkeit, Beginn, Geschlecht

Die Prävalenz ist unklar: Für die Allgemeinbevölkerung fand eine Studie in Deutschland eine Häufigkeit von fast 6%, in Großbritannien von 18%, in Ankara von 13%. Kleinere Studien bei Studenten, Klinikpersonal und Psychiatriepatienten sowie eine Online-Umfrage in den USA stellte bei 10% bis 20% der Teilnehmer klinisch relevante Symptome der Misophonie fest.

Auch über den Beginn herrscht wenig Einigkeit, die Bandbreite reicht von der Kindheit bis ins Alter von etwa 60 Jahren. So gibt es den anfangs erwähnten Bericht über einen Fünfjährigen, und aus einem Interview stammt die Aussage „so lange ich denken kann“. Wohl die meisten Studien datieren allerdings den Gipfel der Erstmanifestation auf die frühe Pubertät. Möglicherweise sei die Gefahr für eine Misophonie in dieser Entwicklungsphase deshalb am größten, weil das Gehirn dann besonders vulnerabel ist.

Widersprüchliche Angaben existieren weiterhin zu den Geschlechterraten. Die Autoren vermuten, dass Frauen überwiegen, denn es gibt Daten zu einem Anteil bis 80%, doch über einen Gleichstand wird ebenfalls berichtet, zum Beispiel in der deutschen Erhebung.

Ursachenforschung mit Gentests, EEG und MRT

Genetische Faktoren könnten eine Rolle spielen. Eine Analyse bei 15 Familienmitgliedern mit Misophonie beschrieb eine mögliche autosomal-dominante Vererbung. Mit kommerziellen Chromosomen-Kits ließ sich bei Patienten gehäuft eine ganz bestimmte Mutation nachweisen.
Solche Faktoren könnten bei Misophonie ähnlich wie bei Tinnitus eine abnorme neuronale Aktivität hervorrufen. So deutet eine EEG-Studie auf ein Defizit in der auditiven Verarbeitung hin. Die funktionelle Magnetresonanztomografie zeigte Veränderungen in Kortexbereichen, die für sensorische Reize zuständig sind. Über das limbische System werden sie dann mit negativen Emotionen verknüpft.