Long-COVID: Die Zukunft ist vermutlich nicht gerade rosig
- Dr. med. Thomas Kron
- Konferenzberichte by Medscape
Von Ute Eppinger
Genesen ist nicht gleich gesund. 6 Monate nach der COVID-19-Infektion berichten 40% der Genesenen über mindestens ein Symptom, das auf Long-COVID hindeutet. Dies sind Ergebnisse der Mainzer Gutenberg-COVID-19-Studie.
Das Auftreten von Symptomen, die über 6 Monate nach der Infektion anhalten, steht dabei in eindeutigem Zusammenhang mit der Zahl an Symptomen in der akuten Erkrankungsphase, berichtete Prof. Dr. Philipp Wild, Leiter Klinische Epidemiologie der Universitätsmedizin Mainz und Leiter der Gutenberg COVID-19 Studie, auf einem Press Briefing des Science Media Centers (SMC).
Long-COVID-Symptome wie Abgeschlagenheit/Müdigkeit, Geruchs- und Geschmacksstörungen, Gedächtnisstörungen, Atemnot/Kurzatmigkeit und Schlafstörungen traten dabei unabhängig davon auf, ob die Betroffenen ihre akute Infektion bemerkt hatten oder nicht. Insgesamt waren Frauen häufiger betroffen als Männer: 45,8% versus 34,6%. Zur Verwirrung trägt bei, dass auch viele Menschen, die gar nicht mit SARS-CoV-2 infiziert waren, während der Pandemie unter ähnlichen Symptomen litten.
Für Wild ein Hinweis darauf, „dass selbstberichtete Symptome nicht primär belegend für Long-COVID“ sind und dass die Bevölkerung allgemein „Distress“ in der Pandemie erlebt. Eine „komplett falsche Schlussfolgerung“ sei aber, aufgrund dieser Beobachtungen infrage zu stellen, dass es Long-COVID überhaupt gebe, betonte Wild.
Weil eben auch Nicht-Infizierte von ähnlichen Symptomen berichten, lasse sich derzeit „noch nicht klar sagen“, wie häufig Long-COVID ist und welche Symptome charakteristisch sind, erklärte Wild.
Grundsätzlich entwickle man Long-COVID eher, wenn die Erkrankung selbst schwerwiegender verlaufen ist. „Aber dadurch, dass so viele Menschen ihre Infektion zuhause durchgemacht haben, viele davon wenig symptomatisch bis kaum symptomatisch, tritt es seltener, aber relativ gesehen dann eben doch bei einem Anteil an Menschen auf.“ Kinder wiesen zwar deutlich mildere Verläufe als Erwachsene auf, ausgeschlossen sei Long-COVID aber auch bei ihnen nicht.
Seiner Einschätzung nach reichen berichtete Beschwerden von Betroffenen nicht aus, um Long-COVID zu erfassen: „Wir brauchen komplexere Signaturen. Das können Immunglobulin-Signaturen oder Protein-Signaturen sein, aber vielleicht auch spezifische klinische Veränderungen. Wir wissen, dass es Patientengruppen gibt, die sehr schwer betroffen sind und daher massive Einschränkungen ihrer Lebensqualität in ihrem Alltag haben.“
Notwendig sei eine klinische Untersuchung zur weiteren Eingrenzung, dann müsse eine Definition festgelegt werden. „Das dauert naturgemäß seine Zeit, und dann können wir das genau sagen.“
Begünstigt SARS-CoV-2 neurodegenerative Erkrankungen?
Welche Pathomechanismen liegen Long-COVID zugrunde? Wie Prof. Dr. Paul Lingor, Oberarzt der Klinik für Neurologie und Leiter der Spezialambulanz für Motoneuronerkrankungen an der TU München berichtet, wird der Einfluss des Virus auf das zentrale Nervensystem aktuell untersucht. Der Verlust des Geschmacks- und Geruchssinns, der schon früh in der Pandemie beschrieben wurde, lässt darauf schließen, dass SARS-CoV-2 womöglich über die Mund- und Nasenschleimhäute ins Gehirn gelangt. Einen eindeutigen Nachweis dafür gibt es bislang aber nicht.
Während in einer Studie im Gehirn von 19 Infizierten ohne neurologische Symptome kein Nachweis von SARS-CoV-2 gefunden wurde, wurde in einer Arbeit mit 33 Patienten mit neurologischen Symptomen in wenigen Fällen virale RNA im Kleinhirn entdeckt. Dass SARS-CoV-2 grundsätzlich in der Lage ist, über die Blut-Hirn-Schranke ins Gehirn vorzudringen, konnten deutsche Forscher jüngst in einem Zellmodell zeigen.
„Nur die Tatsache, dass die Blut-Hirn-Schranke von einem Virus überwunden wird, heißt natürlich nicht, dass es notwendigerweise gleich zu einer schweren Entzündung kommt. Wir haben Kompensationsmöglichkeiten, unser Immunsystem ist genau darauf geprimt, dass wir uns immer wieder auch mit solchen viralen Infektionen auseinandersetzen“, erklärte Lingor.
Ob eine Infektion mit SARS-CoV-2 die Entstehung neurodegenerativer Erkrankungen begünstigt, lasse sich derzeit noch nicht abschließend sagen. Fest stehe, dass SARS-CoV-2 Nervenzellen befallen und in Nervenzellen eindringen könne. „Viele der Daten dazu stammen aber aus postmortalem Gewebe, also von Patienten, die an einem schweren Verlauf gestorben sind; es sind wahrscheinlich relativ wenige Fälle“, schränkte Lingor ein.
Untersuchungen auf SARS-CoV-2 im Nervenwasser zeigten, „dass es zwar Veränderungen gibt, die mit einer Art von Entzündung oder einer Störung der Blut-Hirn-Schranke einhergehen, aber einen direkten Nachweis des Virus aus dem Nervenwasser, das ist sehr, sehr selten.“ Derzeit gehe man davon aus, dass Virus das Nervensystem befallen kann, möglicherweise aber nicht direkt, sondern über die Zytokine, die beim Zytokinsturm entstehen.
Könnten langanhaltende Gedächtnisstörungen, Konzentrationsstörungen und ausgeprägte Müdigkeit Anzeichen für eine neurodegenerative Erkrankung, Richtung Demenz sein?
Gehen Nervenzellen zugrunde, wird das Molekül Neurofilament freigesetzt. Das Strukturprotein erhält die langen Zellverbindungen aufrecht. „Für Neurologen ist es ein Warnsignal, wenn wir Neurofilament finden.Und man hat tatsächlich gesehen, dass Patienten, die einen schweren Krankheitsverlauf mit SARS-CoV-2 haben, erhöhte Werte dieser Neurofilamente aufweisen. Das deutet darauf hin, dass Nervenzellen kaputt gegangen sind.“
Die Frage sei durchaus, ob es eine höhere Inzidenz von dementiellen oder neurodegenerativen Erkrankungen gebe. „Aber selbst die Tatsache, dass wir Neuofilament in schweren Verläufen sehen, bedeutet nicht, dass es notwendigerweise später über Jahre hinaus eine Neurodegeneration triggert. Unser Nervensystem hat durchaus auch regenerative Fähigkeiten. Und wie stark wir das nutzen können, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt einfach noch nicht gut beantworten“, erklärte Lingor.
Long-COVID-Risikofaktoren: Alter, Asthma und Immunglobulin-Konstellation
Welche Patienten ein hohes Risiko tragen, infolge der Infektion Long-COVID zu entwickeln, haben Prof. Dr. Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich, und Kollegen untersucht. Ihre Daten zeigen, dass bestimmte Merkmale wie höheres Alter, Asthma und die Anzahl der Beschwerden während der akuten Infektion neben einer bestimmten Konstellation von Immunglobulinen mit einem höheren Risiko korrelieren. „Menschen, die einen relativ niedrigeren Spiegel an IgM (Immunglobulin M) und/oder an IgG3 (Immunglobulin G3) haben, weisen ein höheres Risiko auf, Long-COVID zu entwickeln“, berichtete Boyman.
„Dieser Risiko-Score erlaubt uns, diejenigen Menschen zu identifizieren, die das höchste Risiko haben.“ Hier könne man präventiv ansetzen, betont Boyman: Menschen mit diesen Risikofaktoren könnten besonders dazu angehalten werden, sich impfen und bestehendes Asthma möglichst gut behandeln zu lassen. „Während einer akuten Infektion oder frühem Long-COVID könnten diejenigen, die besonders risikogefährdet sind, engmaschig überwacht und bei Beschwerden möglichst frühzeitig behandelt werden“, schlug er vor.
Hauptsymptome: Fatigue, Schmerzen und kognitive Störungen
Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Leiterin der Immundefekt-Ambulanz und des Fatigue-Centrums an der Charité, die seit Sommer 2020 Patienten mit Long-COVID behandelt, berichtete, dass schwere Fatigue, Kopf- und Muskelschmerzen, kognitive Störungen und eine ausgeprägte Belastungsintoleranz zu den Hauptbeschwerden gehörten.
„Viele berichten auch, dass es – wenn sie alltägliche Aktivitäten versuchen – oft zu einer Zunahme aller Symptome kommt, und dass viele dadurch richtig krank und auch deutlich eingeschränkt bzw. berufsunfähig sind. Ein Teil dieser Menschen leidet am Vollbild eines ME/CFS, das wir auch schon nach anderen Infektionen kennen. Und wir sehen, dass die Patienten über diesen Zeitverlauf auch wenig Besserung zeigen“, erläuterte Scheibenbogen.
Therapeutisch könne man diesen Patienten bislang nur eine Symptombehandlung anbieten, klinische Studien, um die Krankheitsmechanismen besser zu verstehen, seien in Vorbereitung. „Ein Teil der Patienten weist anhaltend erhöhte Entzündungswerte auf, ein Teil zeigt auch Durchblutungsstörungen; die kleinen Gefäße können nicht mehr gut Blut verteilen, dadurch kommt es zu einer Sauerstoffunterversorgung des Gewebes – das kann diese Symptome auch gut erklären“, berichtete Scheibenbogen.
Das Krankheitsbild ME/CFS ähnelt dem nach COVID-19 deutlich: „Mit dem kleinen Unterschied, dass Menschen, die ME/CFS nach COVID-19 entwickelt haben, häufiger über Atembeschwerden klagen.“ Ansonsten aber, so Scheibenbogen, unterscheide sich die Ausprägung und Verteilung der Symptome nicht.
ME/CFS sei bereits vor COVID-19 ein sehr wichtiges Problem gewesen, wurde aber vielleicht weniger erkannt, erinnerte Boyman. Er hoffe, dass die Forschung zu Long-COVID zu einer besseren Diagnose und Therapie von ME/CFS führen werde.
Scheibenbogen betonte, dass eine Fatigue schwierig zu behandeln ist. Zum Tragen kommen dabei vor allem Verhaltenskonzepte, die vor Überlastung schützen sollen. „Durch Atemtechniken lässt sich eine Besserung von Fatigue und auch der kognitiven Störungen erreichen.“ Wichtig sei die Behandlung von Begleitsymptomen, die die Fatigue verstärken können – wie Schlafstörungen, Kreislaufprobleme, Schmerzen. „Aber bislang ist die Situation unbefriedigend. Viele sind jetzt anhaltend krank.“
Impfung schützt auch Kinder vor Long-COVID
Scheibenbogen stellte klar, dass Long-COVID bei Kindern und Jugendlichen zwar deutlich seltener als bei Erwachsenen auftritt, „aber dass es durchaus auch Kinder gibt, gerade Jugendliche, die auch schwerere Long-COVID-Symptome haben. Darauf müssen wir ein Augenmerk haben, gerade jetzt, wo sich so viele Kinder infizieren.“
Sollte man Kinder wegen Long-COVID impfen? Boyman erklärt, dass Kinder grundsätzlich wahrscheinlich besser mit SARS-CoV-2 umgehen könnten als Erwachsene, doch auch sie reagierten in manchen Fällen heftig auf das Virus. Etwa mit dem MIS-C-Syndrom, „das mit einer starken Entzündung nach einer eigentlich immunologisch erfolgreichen Antwort gegen SARS-CoV-2 zu Schäden führen kann. Die Impfung bei Kindern ist durchaus sinnvoll“, sagte Boyman.
„Ist es sicherer, sich mit einer natürlichen Infektion einer nicht einschätzbaren Virusdosis auszusetzen oder sich einer klar definierten Dosis eines Impfstoffes auszusetzen? Meines Erachtens ist die Risiko-Nutzen-Abwägung eine klare“, so Boyman.
Israelische Daten deuten darauf hin, dass sich eine Impfung auch positiv auf Long-COVID auswirken könnte. Danach war die Impfung mit 2 Dosen des COVID-19-Vakzins mit einem deutlichen Rückgang der häufigsten postakuten COVID-19-Symptome verbunden.
Wild sieht in Long-COVID für die Zukunft „eine beträchtliche Bürde für die Bevölkerungsgesundheit“. Scheibenbogen schlug vor, einmal durchzurechnen: „Wir haben mindestens schon 10 Millionen Infizierte in Deutschland. Wir gehen davon aus, dass nach 6 Monaten ungefähr 10% relevant krank sind. Geht man davon aus, dass davon nochmal 10% mit ME/CFS schwer krank sind, dann wären das allein schon 100.000 überwiegend junge Menschen. Menschen, die auch aus dem Berufsleben fallen – nur um mal die ökonomische Dimension zu zeigen.“
Scheibenbogen weiter: „Mit Omikron werden sicher viele weitere erkranken, insofern ist das eine Situation, die wir so noch nicht hatten und für die wir ganz dringend Konzepte brauchen.“
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Medscape.de.
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