Keine „Luxus-Medizin“: der „menschliche Faktor“ in der Patienten-Versorgung

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Im Diskurs
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Fortschritte in der Medizintechnik und Arzneimittel-Entwickung haben die Medizin in den letzten Jahrzehnten unstrittig vorangebracht. Kaum ein Jahr vergeht, in dem nicht auf Kongressen, in Fach- und Publikumsmedien über vermeintlich und auch wirklich wichtige Erkenntnisse berichtet wird. Mal ist es ein weiter verfeinertes bildgebendes Verfahren, das Chirurgen ein noch präziseres Operieren ermöglicht und so eine bessere Prognose verspricht. Mal ist es ein neuer Antikörper oder Enzym-Hemmer, der auch bei Patienten wirksam sein soll, denen alle bis dahin verfügbaren Medikamente nicht geholfen haben.

Meist im Schatten: der „menschliche Faktor“

Eher selten im Scheinwerferlicht stehen dagegen das Arzt-Patienten-Verhältnis und seine Bedeutung für den Krankheitsverlauf. Dieser so genannte menschliche Faktor fristet nicht nur ein Schattendasein, er gerät sogar zunehmend unter Druck. Nur ein Beispiel dafür ist die aktuelle Diskussion um Hausbesuche. „Hausbesuche sind, auch im Vergleich zu anderen technischen Leistungen, massiv unterbewertet“, klagt - nicht zum ersten Mal - der Deutsche Hausärzteverband. Hausärztinnen und Hausärzte bekämen, so der Verband, für einen Hausbesuch aktuell knapp 22 Euro brutto – inklusive An- und Abfahrt. Es leuchte jedem ein, dass das vorne und hinten nicht reiche. „Kein Klempner würde für dieses Geld kommen.“ 

Der Wert realer persönlicher Arzt-Patienten-Kontakte scheint offenbar tatsächlich immer weniger wahrgenommen, erkannt und geschätzt zu werden. Die nicht-persönliche oder „virtuelle“ Betreuung sollte in der Medizin die Standard-Option werden, der persönliche direkte Kontakt zwischen Arzt und Patient dagegen eher die Ausnahme, meinen sogar  zwei US-amerikanische Autoren eines aktuellen Editorials im „New England Journal of Medicine“.

Eine „Frage von Leben und Tod“

Der humane Faktor ist allerdings alles andere als unwichtig. Denn Patienten, die viele Jahre von einem Arzt oder einer Ärztin betreut werden, sind vergleichweise zufriedener und folgen eher seinen oder ihren Empfehlungen, wie mehrere Untersuchungen zeigen. Das könnte man nun zwar als relative weiche Faktoren abtun, denn schließlich gehe es nicht primär darum, dass ein Patienten zufrieden und folgsam sei, sondern darum, dass er gesund wird oder länger lebt.  Aber auch zu diesem „harten“ Endpunkt gibt es Daten. Ob eine beständige ärztliche Betreuung - als Zeichen eines guten Arzt-Patienten-Verhältnisses - die Prognose eines Kranken beeinflusst, ist in den vergangenen Jahren in mehreren Studien untersucht werden.

Britische Wissenschaftler um Erstautor Sir Denis Pereira Gray (St Leonard's Practice in Exeter) und der Universitäten von Exeter und Manchester haben sich Studien aus mehreren Ländern dazu genauer angeschaut. Ausgewertet haben sie insgesamt 22 aus ihrer Sicht geeignete Studien („BMJ Open“). In 18 der insgesamt 22 Studien aus neun Ländern stellten sie eine reduzierte Mortalität bei den Patienten fest, die über einen langen Zeitraum kontinuierlich von einem Arzt (Allgemein- und andere Fachärzte, darunter etwa Psychiater und auch Chirurgen) betreut wurden. Bei 16 der 22 Studien war es die Gesamt-Mortalität, die reduziert war. Die so genannten Effektgrößen waren zwar gering, lagen aber nach Angaben der Autoren in den Größenbereichen anderer Therapien. Außerdem seien beim Parameter Gesamt-Mortalität nur relativ geringe Effekte zu erwarten. „Patients wissen schon seit Langem, dass es wichtig ist, welcher Arzt sie behandelt und wie gut sie sich mit ihm verstehen. Bisher dachte man, die persönliche und freie Wahl des Arztes sei überwiegend eine Frage von Bequemlichkeit oder Großzügigkeit; nun sei klar, dass es eine „Frage von Leben und Tod“ sei, kommentiert Sir Denis Pereira Gray die Studien-Ergebnisse.

Mögliche Gründe für den Effekt auf die Mortalität liegen nahe: Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient wird besser, Patienten haben mehr Vertrauen, sind offener, werden optimistischer und ermöglichen ein tieferes, gezielteres bzw. individualisiertes Eingehen des Arztes oder der Ärztin auf die persönliche Situation. Zufriedenheit der Patienten und ihre Therapietreue würden größer, erklärt auch Studien-Autor Professor Philip Evans (University of Exeter Medical School).

Bei den ausgewerteten Studien handelte es sich allerdings um Beobachtungsstudien, deren Aussagekraft methodisch bedingt eingenschränkt ist. Immerhin seien die meisten Studien qualitativ gut gewesen, betonen die Autoren; drei Studien seien außerdem prospektive Beobachtungsstudien gewesen. 

Sir Denis Pereira Gray und seine Kollegen ziehen daher ein positives Fazit: In den vergangenen 200 Jahren hätten insbesondere technische Entwicklungen den Fortschritt in der Medizin bestimmt, der „humane Faktor“ sei dadurch zu wenig beachtet worden, schreiben sie. Die systematische Studien-Analyse zeige nun, dass trotz vieler technischer Fortschritte die beständige Betreuung durch einen Arzt oder eine Ärztin für Patienten nicht nur äußerst wichtig sei, sondern möglicherweise sogar eine  Angelegenheit von Leben und Tod.

Chatbot statt Arzt: zum Wohle der Patienten?

Dennoch wird wahrscheinlich der aktuelle Trend kaum aufzuhalten sein, den direkten Arzt-Patienten-Kontakt durch Technik zu ersetzen oder, um es etwas positiv zu formulieren, zu ergänzen. Beispiel: Video-Konsultationen. Das Start-up-Unternehmen Babylon Health zum Beispiel arbeite daran, den Arzt durch ein Chatbot zu ersetzen, also durch ein textbasiertes technisches Dialogsystem, heißt es im US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“Allerdings sei das, was bisher geschehe, noch weit entfernt davon, was mit moderner Technik möglich sei, schreiben die beiden US-Amerikaner Sean Duffy, Gründer und Chef von Omada Health in San Francisco, und Professor Thomas H. Lee, medizinischer Direktor bei Press Ganey, einem weiteren Unternehmen, das an der Entwicklung unterschiedlicher digitaler Lösungen" für das Gesundheitswesen arbeitet. Duffy und Lee sehen daher die Entwicklung hin zum virtuellen Arzt-Patienten-Kontakt als positiv an. Patienten werden ihrer Ansicht nach auf Dauer mehr von Ärzten und Gesundheitssystemen profitieren, die in diese Richtung mitgingen und sich der Entwicklung nicht verweigerten.