Intensive Medizin oder: Entscheidungen in der Grauzone des noch Sinnvollem und schon Sinnlosem

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Im Diskurs
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„Wir müssen das Thema Tod zurück in den Mittelpunkt der Gesellschaft holen, das wurde in den letzten zehn, zwanzig Jahren völlig an den Rand gedrückt“, sagte der Intensivmediziner Prof. Dr. Uwe Janssens, Chefarzt am St.-Antonius-Hospital Eschweiler, bei einer Pressekonferenz während der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. Offenbar ist der Intensivmediziner der Ansicht, dass der Tod nicht mehr im Mittelpunkt der Gesellschaft ist. Womit er recht hat. Zumindest dürfte unstrittig sein, dass sich in den letzten Jahrhunderten im Umgang mit dem Sterben und dem Tod viel geändert hat.

Der Tod: eine ungehörige Angelegenheit?

Der Tod sei aus der der Öffentlichkeit verschwunden, schrieb schon vor fast 50 Jahren der französische Mediävist und Historiker Philippe Ariès in seinem Buch zur „Geschichte des Todes“. Der Tod, klagte Ariès, sei längst nicht mehr das, was er mal war: Die westliche Zivilisation, erleuchtet von Rationalität, verwöhnt von immer höherer Lebenserwartung, programmiert auf die „Verpflichtung zum kollektiven Glück“, habe Bruder Hein während der letzten Jahrzehnte zu einer ungehörigen Angelegenheit degradiert, die schamhaft vertuscht und regelrecht totgeschwiegen werde.

Wohl wahr! Wer beschäftigt sich heute noch mit den großen Fragen zum Tod, etwa der Frage, ob es ein Leben nach dem Tode gibt? Oder welchen Sinn Sterben und Tod haben. Die großen Weltreligionen, die sich traditionell um Antworten bemüht haben, spielen in den wohlhabenden westlichen Industriestaaten schon lange keine besonders große Rolle mehr; die Funktion und die Aufgaben des Priesters und der Kirche haben längst der Hausarzt und das Wartezimmer übernommen. Auch Philosophen haben zwar viel zum Thema Sterben und Tod zu sagen und gesagt; aber wer außer ein paar Intellektuellen kennt wirklich bedeutende Philosophen? Wahrscheinlich assoziieren viele Menschen in Deutschland mit dem Begriff Philosoph einen smarten TV-Promi, dessen Plattitüden interessierten Zuschauern als tiefere Weisheiten verkauft werden.

Bruder Hein: unbeliebt und alles andere als très chic

Wundern kann es eigentlich nicht, dass der Tod aus der Öffentlichkeit verschwunden ist, dass er oft mit nur spitzen Fingern angefasst wird. Er hat nunmal kein gutes Image; er ist sogar ausgesprochen unbeliebt, denn er ist unangenehm und schmutzig; très chic kommt Bruder Hein wahrlich selten daher. Wie schmutzig der Tod selbst in Friedenszeiten ist oder sein kann, hat zum Beispiel der französische Romancier Gustave Flaubert am Beispiel des Sterbens der Madame Bovary drastisch geschildert. Flaubert erspare dem Leser keinen Blutauswurf und keinen Brechreiz seiner entstellten Todgeweihten, schreibt Philippe Ariès.

Weil der Tod nicht gerade chic ist und es fast als unschicklich gilt, ihn in der Öffentlichkeit auszubreiten, aber vor allem auch aufgrund des medizinischen Fortschritts findet der Tod in wohlhabenden Ländern meist und fast heimlich im Krankenhaus statt. Als natürliches und notwendiges Phänomen hat er aufgehört zu existieren, ist eher ein Fehlschlag, ein Zeichen des Versagens, eine peinliche Niederlage.

Grenzentscheidungen in einer Grauzone

Es kann daher auch kaum überraschen, dass gerade dort, wo heute oft gestorben wird, auf den Intensivstationen, intensiv um das Leben der Patienten gekämpft wird - und dabei auch immer wieder die schwammige Grenze vom vielleicht noch Sinnvollen zum wahrscheinlich schon Sinnlosen überschritten wird. Gründe für solche Grenzüberschreitungen sind Intensivmedizinern bestens vertraut: Die Möglichkeiten der modernen Apparatemedizin sind enorm, faszinierend und auch ökonomisch nicht ohne Reiz. 

Außerdem: Es ist eine große Belastung, nichts mehr bewirken zu können; es kostet Überwindung, es erfordert Mut, nichts mehr zu tun. Bei einer demenz-kranken 95-Jährigen mag das Beenden der therapeutischen Maßnahmen noch relativ leicht fallen. Aber was ist mit dem 12-jährigen Mädchen, dessen Hirntumor inoperabel ist und unweigerlich zum Tod führt? Auch Ärzte neigen in solchen Situationen manchmal dazu, nach dem letzten Strohhalm zu greifen, und sei es, um sich selbst später keine Vorwürfe zu machen. Wer ihnen leichtfertig „Übertherapie“ vorwirft, hat noch nie Eltern mitteilen müssen, dass ihr Kind sterben wird, dass man seinen Tod auch mit den teuersten Apparaten und den modernsten Therapien nicht mehr verhindern kann. 

Gleichwohl ist es selbstverständlich notwendig, in der Grauzone des vielleicht noch Sinnvollen und wahrscheinlich schon Sinnlosen, richtige Entscheidung zutreffen - richtig im Sinne der Patienten. Eine Voraussetzung dafür ist das, was der Intensivmediziner Janssens zu Recht als „ganz wichtige Botschaft“ bezeichnet hat: „Wir müssen den Tod zurück in das Leben holen!“ Dies bedeutet zum Beispiel: Die Menschen müssten, wenn sie auf die Intensivstationen kommen, wissen, was auf sie zukommt. Sie müssten vorbereitet sein.

Ein Irrtum: es könne nichts mehr getan werden

„Den Tod zurückzuholen" ist sicher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, etwa für Medien, Theologen, Philosophen, Künstler und Politiker. Doch gefordert sind für diese Vorbereitung vor allem Hausärztinnen und Hausärzte. Denn wer ist besser geeignet, mit einzelnen Menschen im direkten Gespräch darüber zu reden, was Sterben ist und wie die Medizin helfen kann? Sie sollten daher frühzeitig das Gespräch mit ihren, ihnen oft lange vertrauten Patienten suchen. Sie sollten dabei insbesondere darüber aufklären, dass Ärztinnen und Ärzte auch dann noch helfen können, wenn das Leben unweigerlich zu Ende geht. Die Rede muss also sein von den Möglichkeiten der Palliativmedizin. Die, salopp formuliert, mehr kann als Händchen zu halten. Es ist daher überaus begrüßenswert, dass die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin eine öffentliche Informations- und Aufklärungskampagne gestartet hat, die Kampagne „das ist palliativ“!

„Der Begriff palliativ ist oft angstbesetzt, dabei kann die Palliativversorgung die Lebensqualität steigern mit ihrem klaren Fokus auf die Bedürfnisse der Betroffenen“, erläutert in einer Mitteilung Prof. Dr. Claudia Bausewein, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.

Gespräche über Sterben und Tod: auch mit einer Prise Humor

Antworten auf die Frage, wie wir sterben wollen, liefere die Kampagne nicht „top-down“; sie lasse stattdessen Menschen zu Wort kommen, die mit Engagement und Leidenschaft haupt- und ehrenamtlich in der Palliativversorgung tätig seien, heißt es weiter. Die Kampagne richtet sich vorrangig an das fachfremde Publikum, an Betroffene, Angehörige und Freunde schwerkranker Menschen – und letztlich an jeden von uns. Dabei nähere sie sich dem Thema Sterben mit einer ungewohnten Selbstverständlichkeit - auch mit einer Prise Humor - und rücke den Begriff der Würde der Patienten den Mittelpunkt.

„Mehr zuhören als sprechen. Stille aushalten. Trauer aushalten. Aber auch gemeinsam lachen und Freude teilen.“ Für Dr. Sebastian Schiel, Chefarzt für Palliativmedizin am Klinikum Fulda, bedeutet palliativ: „Begegnung zwischen Menschen – auf Augenhöhe, mit Raum für die Geschichte(n) des Gegenübers. Ich begleite Menschen auf einem Abschnitt ihrer Reise. Manchmal ist es der letzte Abschnitt.“