Immunologische Prägung bei SARS-CoV-2 und Influenza

  • Dr. Petra Kittner
  • Medizinische Nachrichten
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Das Phänomen der sogenannten immunologischen Prägung wurde vor über 60 Jahren erstmals als „antigene Erbsünde“ beschrieben. Es bezieht sich auf die Prägung des Immunsystems beim Erstkontakt mit einem viralen Erreger. Das Immunsystem bildet ein gegen diesen spezifischen Erreger gerichtetes immunologisches Gedächtnis aus. Das immunologische Gedächtnis besteht aus verschiedenen Komponenten. Unter anderem bilden sich Gedächtnis-B-Zellen, die bei einem erneuten Kontakt mit den Viren aktiviert werden und Antikörper gegen spezifische Epitope des Virus freisetzen. Doch Viren können mutieren und neue Varianten bilden, deren Epitope sich möglicherweise von den Epitopen der ursprünglichen Variante unterscheiden. Wenn der Körper jedoch mit einer neuen Variante des ursprünglichen Virusstamms in Kontakt tritt, neigt das Immunsystem dazu, die neue Variante nur mit Antikörpern gegen die Epitope der ersten Variante zu bekämpfen. Neue variantenspezifische Epitope werden nicht berücksichtigt, auch wenn sie eine hohe Immunogenität aufweisen. Eine Reaktion und Reifung naiver B-Zellen, die eine Spezifität für die neuen Epitope haben, bleibt aus oder findet nur in sehr geringem Ausmaß statt.

Immunologische Prägung bei SARS-CoV-2

Die immunologische Prägung spielt besonders bei Viren mit hohen Mutationsraten und zahlreichen verschiedenen Varianten eine wichtige Rolle. Darunter fällt zum Beispiel das SARS-CoV-2-Virus, das nach seinem erstmaligen Auftreten im Dezember 2019 mehrfach mutierte. Durch die Mutationen entwickelten sich unter anderem die Alpha-, die Delta- und zuletzt die Omikron-Variante. Die immunologische Prägung könnte negative Auswirkungen auf die Immunität gegenüber den aktuell zirkulierenden Omikron-Varianten haben, da eine durch Impfung oder frühere Infektion entstandene Immunität die neuen Omikron-Antigene nur unzureichend bekämpft.

Das für die Immunantwort entscheidende Antigen beim SARS-CoV-2-Virus ist das Spike-Protein. Dieses unterliegt jedoch einer hohen Mutationsrate und auch viele der Omikron-Spike-Proteine unterscheiden sich erheblich vom Spike-Protein der ursprünglichen Variante. Je nach Ausmaß der Mutation eignen sich die Antikörper der beim Erstkontakt aufgebauten Immunität schlechter bis gar nicht für die Bekämpfung dieser neuen Varianten. Man spricht deshalb auch von einer „Immunflucht“ der Viren. Zudem beeinträchtigt die immunologische Prägung möglicherweise auch die Wirkung angepasster Impfungen: das durch den Wildtyp „geprägte“ Immunsystem könnte auf eine Impfung mit neuen, angepassten Impfstoffen ebenfalls mit einer Aktivierung von Gedächtnis-B-Zellen reagieren statt mit der Bildung von neuen und passenderen Antikörpern.

Mit dem Ziel einer angepassten und erweiterten Immunität wurden die gängigen Wildtyp-mRNA-Impfstoffe Ende 2022 um die genetischen Informationen für die Spike-Proteine der Omikron-Sublinien BA.4/BA.5 erweitert. Diese bivalenten Impfungen induzierten zwar – wie die monovalenten Booster-Impfungen – eine hohe Neutralisierungsaktivität und erhöhten die Neutralisierungsbreite, doch die Immunität richtete sich nach wie vor hauptsächlich gegen die ursprüngliche Virusvariante. Es zeigte sich nur eine geringe spezifische Neutralisierungsaktivität gegenüber stark immunflüchtigen Omikron-Sublinien wie z.B. BQ.1.1.

Wie ist zukünftig eine angepasste Immunität zu gewährleisten?

Möglicherweise sind die Mechanismen der immunologischen Prägung für die eher enttäuschenden Ergebnisse der bivalenten Impfungen im Hinblick auf eine Omikron-spezifische Immunität verantwortlich. Das Phänomen könnte dann auch zukünftige Erfolge mit neuen angepassten Impfstoffen deutlich erschweren. Die Bedeutung der immunologischen Prägung für die Immunantwort gegen SARS-CoV-2-Viren ist jedoch noch nicht abschließend geklärt. Die meisten Studien zu diesem Thema beziehen sich ausschließlich oder hauptsächlich auf die B-Zell-Immunantwort. Diese ist aber nicht allein für die Abwehr von Krankheitserregern verantwortlich. Die T-Zell-Antwort spielt ebenfalls eine wichtige Rolle und könnte flexibler und weniger stark vom Erstkontakt beeinflusst sein als die B-Zell-Antwort. Sie kann durch Impfungen induziert werden.

Für einen möglichst breiten und wirksamen Schutz vor den dominierenden Varianten könnten in der Zukunft neue Impf-Strategien erforderlich werden. Das Impfberatungs-Gremium der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sprach vor wenigen Tagen eine Empfehlung aus, bei zukünftigen Impfstoffen auf das Ursprungs-Virus zu verzichten. Die WHO begründet ihre Empfehlung mit der untergeordneten Rolle, die das Wildtyp-Virus im aktuellen Infektionsgeschehen spielt. Zudem bieten die bisherigen Impfstoffe zwar Schutz vor schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen, schützen aber nicht ausreichend vor symptomatischen Krankheitsverläufen durch die zirkulierenden Omikron-Varianten.

Immunologische Prägung und Long Covid

Ein besserer Schutz vor einer Ansteckung mit dem SARS-CoV-2-Virus ist auch im Hinblick auf die potenziellen Langzeitfolgen der Infektion wünschenswert. Bis zu 20% aller Infizierten entwickeln Long Covid und leiden nach der Infektion unter andauernden Beschwerden. Die Ursachen und die pathophysiologischen Mechanismen von Long Covid sind noch nicht ausreichend erforscht und verstanden. Eine Hypothese besagt jedoch, dass die immunologische Prägung für Immunantworten auf andere Corona-Viren für das Syndrom verantwortlich ist.

In einer Studie untersuchten Wissenschaftler Serumproben von Patienten nach Covid-19-Infektionen, von denen ein Teil Long Covid entwickelt hatte. In den Antikörperprofilen fand man bei den Long Covid-Patienten im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich höhere Werte für Antikörper gegen das Erkältungs-Coronavirus OC43. Die SARS-CoV-2-Spike-spezifischen IgG2- und IgM-Antworten waren dagegen bei den Long Covid-Patienten signifikant niedriger. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das Immunsystem der betroffenen Patienten aufgrund einer immunologischen Prägung eine OC43-spezifische Reaktion auf die SARS-CoV-2-Infektion reagiert hat, statt neue SARS-CoV-3-spezifische Antikörper zu bilden.

Immunologische Prägung bei Influenza-Viren

Ein weiteres Virus, das wie das SARS-CoV-2-Virus einer hohen Mutationsrate und somit dem Phänomen der immunologischen Prägung unterliegt, ist das Influenza-Virus. Beim Influenza-Virus ist das Oberflächen-Hämagglutinin (HA) das entscheidende Protein für die Immunantwort. Es enthält zahlreiche Epitope, die als Angriffspunkte für Antikörper dienen. Je nach Zusammensetzung der Epitope lassen sich die HA-Proteine zunächst in 2 Hauptgruppen klassifizieren. Die verschiedenen Influenza-Subtypen einer Hauptgruppe weisen eine starke Ähnlichkeit in den sogenannten konservierten Regionen des HA-Proteins auf, während andere Bereiche des HA oft mutieren und sich auch innerhalb der beiden Gruppen unterscheiden.

Die HA-Hauptgruppe, mit der man in der Kindheit als erstes in Kontakt kommt, beeinflusst die Immunantwort auf spätere Expositionen gegenüber der gleichen oder der anderen HA-Hauptgruppe. So besteht im späteren Leben ein 75%-iger Schutz vor schweren Infektionen und ein 80%-iger Schutz vor Todesfällen bei Ansteckung mit einer neuen Variante der gleichen HA-Hauptgruppe, die das kindliche Immunsystem geprägt hat. Dieses Phänomen erklärt, warum bestimmte Altersgruppen bei einigen Influenza-Wellen stärker betroffen sind als andere und warum die eigentlich vulnerablere ältere Bevölkerung in bestimmten Fällen besser vor schweren Krankheitsverläufen geschützt sind als jüngere Menschen.

Hier zeigt sich also ein positiver Aspekt der oft eher negativ behafteten immunologischen Prägung: sie ermöglicht dem Immunsystem eine schnelle und effiziente Reaktion auf neue Viren-Subtypen, die Ähnlichkeit zu anderen, aus der Kindheit bekannten Viren, haben.