Hochstapler-Syndrom: Ein Risiko für jüngere und ältere medizinische Fachkräfte
- Paolo Spriano
- Medizinische Nachricht
COVID-19 hat Fachleute und Gesundheitssysteme vor unvorhergesehene Herausforderungen gestellt und sie dazu gezwungen, ärztliche Berufsstände, die Beziehung zwischen Arzt und Patient sowie die Erwartungen an ihre Rollen neu zu definieren. Dies erzeugt sowohl bei erfahrenen als auch bei jungen Ärzten ein hohes Maß an Frustration und Unbehagen. Weiter verstärkt wird dieses Gefühl, das bei Ärzten und Patienten gleichermaßen vorhanden ist, durch einen Generationenwechsel im Berufsfeld, der durch das Virus beschleunigt und von den Entscheidungsträgern nur schlecht gehandhabt wurde.
In der Folge leiden immer mehr Ärzte unter einem Hochstapler-Syndrom, das sich durch die hartnäckige Überzeugung auszeichnet, dass der eigene Erfolg unverdient und nicht auf Einsatz, Fachkompetenz und persönliche Fähigkeiten zurückzuführen ist. Eine Reihe neuer Studien trägt zu unserem Verständnis des Umfangs des Hochstapler-Syndroms, seiner charakteristischen Elemente und möglicher Gegenmaßnahmen bei.1
Ärzte und Burn-out
Körperliche Erschöpfung ist ein Faktor, der zum Hochstapler-Syndrom beiträgt. Ein Burn-out wird hauptsächlich auf Probleme im Arbeitsumfeld und nicht auf neue Vorschriften oder berufliche Rollen und Aspekte der rasanten Entwicklungen in der Medizin zurückgeführt.
Diese Probleme sind bereits ausführlich beschrieben. Dazu gehören Klischeevorstellungen, dass Ärzte problemlos über die normalen menschlichen Leistungsgrenzen hinausgehen können und der Arbeit immer Vorrang einräumen sollten, sowie die Auffassung, dass es ein Zeichen von Schwäche ist, um Hilfe zu bitten. Dies führt dazu, dass sich viele Ärzte überanstrengen und der Arbeit eine höhere Priorität beimessen als der persönlichen Gesundheit. Infolgedessen kommt es bei ihnen zu Angstgefühlen, wenn sie ihren Patienten nicht wie gewünscht helfen können.1
Das Hochstapler-Phänomen
Als Hochstapler-Phänomen wird ein psychologisches Phänomen von intellektuellen und professionellen Selbstzweifeln beschrieben. Eine davon betroffene Person glaubt, dass andere ihre Fähigkeiten überschätzen, und hat Angst davor, als Betrüger entlarvt zu werden – trotz anhaltender Erfolge, die ihre Fähigkeiten beweisen. Eine solche Person weist Lob zurück, ist extrem selbstkritisch und schreibt ihre Erfolge äußerlichen Faktoren wie Glück, Fleiß oder zwischenmenschlichen Beziehungen zu und nicht ihren eigenen Fähigkeiten, Kenntnissen und Kompetenzen.
Das Hochstapler-Phänomen tritt bei Männern und Frauen auf, doch in einigen Studien wird auf eine höhere Prävalenz unter Frauen verwiesen. Es kann sich als echtes Syndrom manifestieren, das sowohl mit persönlichen Konsequenzen wie schlechtem emotionalem Wohlbefinden, Problemen bei der Integration von Beruf und Privatleben, Angst, Depression und Suizid als auch mit beruflichen Konsequenzen wie beeinträchtigter Arbeitsleistung und beruflichem Burn-out verbunden ist.2 Medizinstudent*innen scheinen anfälliger für das Hochstapler-Syndrom zu sein, das bei mehr als einem Viertel der Studierenden nachgewiesen werden kann, und wer darunter leidet, weist auch ein höheres Burn-out-Risiko auf.3
Das Hochstapler-Syndrom
Das Hochstapler-Syndrom zeichnet sich durch Gefühle von Unsicherheit, Unzulänglichkeit und Zweifel an den eigenen Leistungen trotz gegenteiliger Beweise aus. Es handelt sich nicht um eine formelle psychiatrische Diagnose, aber das Syndrom kann in fünf Subtypen eingeteilt werden:4
- Perfektionisten leiden aufgrund von selbst auferlegten und unerreichbaren Zielen an Unsicherheit.
- Experten fühlen sich mangels ausreichender Kenntnisse unzulänglich.
- Superhelden überladen sich mit Arbeit, um sich von ihren Kollegen geschätzt zu fühlen.
- Naturgenies schämen sich, wenn sie sich anstrengen müssen, um eine Fertigkeit zu erlernen.
- Solisten glauben, dass es ein Zeichen von Schwäche ist, andere um Hilfe zu bitten.
Risikofaktoren
Studien deuten auf die Prävalenz des Hochstapler-Syndroms in den frühen Jahren des Medizinstudiums hin, doch über die Prävalenz in der klinischen Praxis gibt es nur begrenzte Informationen.
Häufig wechselnde Aufgabenbereiche sind ein Risikofaktor für das Hochstapler-Syndrom, zu dessen Prävalenz in diesen Fällen das Gefühl beiträgt, ein „ständiger Anfänger“ zu sein.1 Negative berufliche Erfahrungen in der klinischen Praxis spielen ebenfalls eine Rolle, wie z. B. ungünstige Ergebnisse für Patienten oder Beschwerden, abgelehnte Bewerbungen oder Manuskripte, schlechte Bewertungen in Ausbildungsprogrammen oder Bewertungen der Patientenzufriedenheit.
Auswirkungen des Hochstapler-Syndroms auf Ärztinnen und Ärzte
Die Clance Impostor Phenomenon Scale ist eine Möglichkeit, die Auswirkungen des Hochstapler-Syndroms zu beurteilen. Dabei handelt es sich um einen Fragebogen mit 20 Elementen, in dem die Teilnehmer gebeten werden, auf einer 5-Punkte-Skala anzugeben, inwieweit jedes Element ihren Erfahrungen entspricht – von „überhaupt nicht“ bis „sehr zutreffend“. Mit der Summe der Antworten wird ein aggregierter Score erstellt (IP-Score). Je höher der Score, desto häufiger und maßgeblicher beeinträchtigt das Hochstapler-Phänomen das Leben der befragten Person.5
In einer Analyse von 3237 Ärztinnen und Ärzten aus den USA wurde eine vereinfachte Version dieses IP-Scores herangezogen, um die Zusammenhänge zwischen dem Hochstapler-Syndrom und Burn-outs zu untersuchen und den Anteil der Betroffenen mit anderen Berufsrichtungen zu vergleichen1. Die durchschnittlichen Scores waren bei Ärztinnen höher als bei Ärzten (Mittelwert: 10,91 gegenüber 9,12; p < 0,001). Die Scores nahmen mit zunehmendem Alter ab und waren auch unter verheirateten oder verwitweten Personen niedriger.
Höher waren die IP-Scores bei mit einer Universität verbundenen Ärzten oder bei denjenigen, die im Gesundheitssystem der Veterans Health Administration arbeiteten, nahmen aber mit zunehmender Berufserfahrung ab. Unter Kinder- und Notärzten gab es höhere Scores, während die niedrigsten Scores bei Augenärzten, Radiologen und orthopädischen Chirurgen vorlagen. Letztlich war das Hochstapler-Syndrom auch unabhängig mit dem Risiko eines Burn-outs und mit geringer beruflicher Erfüllung assoziiert.
Mögliche Strategien zur Abschwächung
In einem redaktionellen Kommentar zur Studie wird auf mehrere praktische Strategien für Ärztinnen und Ärzte hingewiesen, die sich im Berufsleben vom Hochstapler-Syndrom betroffen fühlen:4
- die entscheidenden Momente, die zur eigenen beruflichen Rolle geführt haben, begutachten und neu einschätzen;
- Bedenken gegenüber vertrauenswürdigen Kollegen ansprechen, welche die eigenen Leistungen validieren, die Gefühle normalisieren und die Probleme mit dem Hochstapler-Syndrom bescheinigen können;
- dem Perfektionismus entgegenwirken, indem man die eigene Kompetenz als ausreichend akzeptiert, wenn man sich den Herausforderungen eines anspruchsvollen Berufsfelds wie der Medizin stellt;
- Selbstmitgefühl ausbilden, anstatt sich auf externe Faktoren zu verlassen, um das Selbstwertgefühl zu steigern;
- und sich bewusst machen, dass das Hochstapler-Syndrom besonders in Übergangsphasen des Lebens weit verbreitet ist, wie etwa beim Eintritt in eine medizinische Hochschule, bei der beruflichen Weiterbildung und bei der Annahme neuer beruflicher Herausforderungen.
Dieser Artikel erschien ursprünglich bei Univadis Italy.
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