HIV-Übertragungsrisiko ist bei niedriger, aber noch nachweisbarer Viruslast praktisch null

  • Nicola Siegmund-Schultze
  • Studien – kurz & knapp
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Kernbotschaften

HIV-seropositive Personen infizieren seronegative Sexualpartnerinnen oder -partner extrem selten, wenn die Viruslast stabil bei unter 1.000 HIV-Kopien pro Milliliter liegt. Das ergeben Daten von mehr als 7.700 serodiskordanten Paaren. Im Verlauf mehrerer Jahre gab es lediglich zwei HIV-Übertragungen bei einer Viruslast von unter 1.000 HIV-Kopien pro Milliliter und keine Transmission bei < 600 Kopien/mL (Lancet; https://doi.org/10.1016/S0140-6736(23)00877-2). Damit ist der Level der Virämie, ab dem ein nennenswertes Risiko für eine horizontale HIV-Übertragung besteht, höher als bislang vermutet. Bisher galten 200 HIV-Kopien pro Milliliter als Schwellenwert, unter dem es kein Risiko für eine sexuelle Übertragung gibt. Dennoch bleibe es das Ziel, bei HIV-infizierten Patienten die Viruslast durch antiretrovirale Therapie (ART) unter die Nachweisgrenze zu senken, um Resistenzbildungen zu verhindern und Lebensqualität und Lebenserwartung zu normalisieren, so die Autorinnen und Autoren der Studie.

Hintergrund

Bei der Therapie der HIV-Infektion gilt eine HIV-RNA von dauerhaft unter 50 Kopien/ml als virologisches Behandlungsziel (1), bei einer HIV-RNA oberhalb von 200 Kopien/ml wird ein Therapieversagen wahrscheinlich. Das Risiko einer horizontalen Transmission von HIV auf einen seronegativen Partner oder eine Partnerin ist aber schon bei einer Plasmavirämie < 200 Kopien/mL null (2). Ein Forscherteam unter Beteiligung von Experten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in internationalen, medizinischen Datenbanken nach Studien gesucht unter der Fragestellung, ob sexuelle Übertragungen von HIV mit der Viruskonzentration des seropositiven Partners assoziiert sind (3).

Design

  • Studienform: systematischer Review der internationalen Literatur (Januar 2010 bis November 2022)
  • Eingeschlossene Studien: von 244 identifizierten Studien wurden 8 Studien mit 7.762 serodiskordanten Paaren aus 25 Ländern eingeschlossen: 4 Kohortenstudien, 3 randomisierte kontrollierte Studien und eine große sektorenübergreifende Untersuchung
  • Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Paare verschiedenen Geschlechts und gleichgeschlechtliche, männliche Paare

Hauptergebnisse

  • Das Risiko für eine Selektionsbias war in den ausgewählten 8 Studien gering, die Evidenzsicherheit wird als moderat beschrieben.
  • 3 Studien bestätigten, dass bei einer Plasmavirämie von < 200 RNA-Kopien/mL keine sexuelle Transmission stattfindet.
  • In 4 prospektiven Studien gab es insgesamt 323 sexuelle HIV-Übertragungen, darunter keine bei einer kontinuierlichen Virussuppression durch ART.
  • Es gab 2 HIV-Transmissionen von HIV-positiven Patienten mit einer Viruslast < 1000 Kopien/mL.
  • Bei mindestens 80 % der HIV-Transmissionen hatte der seropositive Partner eine Viruslast > 10.000 Kopien/mL.

Klinische Bedeutung 

Das Risiko, sich durch sexuellen Kontakt mit HIV zu infizieren, wird bei einer Viruslast des seropositiven Partners von < 1.000 RNA-Kopien/mL in einem Kommentar als "praktisch null" bewertet (4). Zugleich bestätige sich, dass bei einer Viruslast unterhalb der Nachweisgrenze, wie es das Ziel der ART sei, kein Risiko für eine sexuelle Übertragung bestehe. Das sei eine gute Nachricht für Sexualpartner und sollte dazu beitragen, HIV-Infektionen zu entstigmatisieren, aber auf der anderen Seite auch Menschen mit HIV weiterhin zur Therapieadhärenz zu motivieren. Für die Gesundheitspolitik bedeute dies, dass bei stabil niedriger Viruslast von HIV-Infizierten langfristig eine Senkung der Inzidenz erwartet werden könne.  

Allerdings werde mit den neuen Daten nichts über das Risiko einer vertikalen Übertragung von Mutter zu Kind ausgesagt. Zu dieser Fragestellung fehlen nach Angaben der Kommentatoren quantitative Untersuchungen, speziell bei stillenden HIV-infizierten Müttern unter antiretroviraler Medikation.

Auch zum parenteralen HIV-Übertragungsrisiko mache die Studie keine Aussagen.

Die Zahl der HIV-Neuninfektionen in Deutschland wird für das Jahr 2021 auf 1.800 geschätzt und liegt damit in gleicher Höhe wie 2020 (5). Derzeit leben circa 90.800 Menschen (85.300 - 96.000) in Deutschland mit HIV.

Finanzierung: Bill & Melinda Gates Stiftung