Goethe - Folge 2: Schon im mittleren Alter „hinkt es bald hier, bald dort“
- Dr. Angela Speth
- Medizinische Nachrichten
Schon zu Goethes Lebzeiten kam das Wort vom „Olympier“ auf. Bis heute verehrt man ihn als den weltberühmten Dichterfürsten, den strahlenden Leitstern, zu dem Gelehrte und Künstler nach Weimar pilgern. Zwei Publikationen holen ihn von seinem Sockel herunter und legen ihn krank zu Bett: Auch in seinen mittleren und späten Jahren kommt es zu gefährlichen Krisen wie Erysipel, Blutsturz als Folge einer alkoholischen Leberzirrhose und Herzinfarkten. Zugleich mehren sich chronische Probleme wie Depressionen, Übergewicht oder Zahneiterungen.
Obwohl die damalige Medizin von all dem meist keinen Begriff, geschweige denn eine Therapie hatte, erreichte Goethe ein beträchtliches Alter - wie zur Bestätigung seiner Erkenntnis, dass „die menschliche Natur eine eigene Zähigkeit besitzt“. Goethe Rückkehr nach Weimar 1788 von seiner Auszeit in Italien markiert die Schwelle einer neuen Phase, wie der Medizinhistoriker Prof. Dr. Eduard Seidler, ehemals Universität Freiburg, erläutert. [1] Er bricht mit Frau von Stein und beginnt eine Freundschaft mit Friedrich Schiller, für beide ein künstlerischer Aufschwung, die sprichwörtliche „Weimarer Klassik“. Und er lernt die 23-jährige Christiane Vulpius kennen, die nun seine Lebensgefährtin wird. In der Römischen Elegie verschmelzen die heißen Liebesnächte im Süden mit der nicht gerade kalten Erotik im Norden. Hochzeit allerdings feiert er mit seinem „Bett- und Küchenschatz“ erst 18 Jahre später, gerührt von Dankbarkeit, dass sie ihn aus höchster Bedrängnis vor den marodierenden Soldaten Napoleons gerettet hat.[3]
Dünkel in der Hautevolee
Als „Geheimrätin von Goethe“ steigt ihre Salonfähigkeit in den ehrenwerten Häusern, wo man die Nase rümpft über diese Liaison. Ein Skandal: der Staatsminister aus reicher Patrizierfamilie, 1782 mit dem Adelsdiplom ausgezeichnet, und eine ordinäre, vergnügungssüchtige Putzmacherin aus der Unterschicht! Ist ein Vertreter dieser Herrenkaste zu Gast im Goetheschen Haus, Schiller zum Beispiel, darf sie sich nicht blicken lassen, dessen Frau entwürdigt sie zum „runden Nichts“ oder zu Goethes „dickeren Hälfte“, Frau von Stein zum „Kreatürchen“.[4]
Zwischen 1790 und 1802 bringt Christiane fünf Kinder zur Welt, von denen nur der älteste Sohn August überlebt, während die anderen kurz nach der Geburt sterben, wahrscheinlich wegen einer Rhesus-Unverträglichkeit – auch für den Vater jedes Mal ein herber Verlust.
Fitnesstraining mit Wandern, Bergsteigen, Reiten
Bis 1792 macht Goethe den Eindruck eines schlanken, stattlichen und gesunden Mannes, der - abgesehen von seinen gelblichen, schiefen Zähnen - als schön gelten könne, so Prof. Dr. Hans-Dieter Göring, ehemals Städtisches Klinikum Dessau.[4] Zu seiner vorteilhaften Statur hat sicher beigetragen, dass er regelrecht sportlich ist. Schon früh erhält er den Beinamen „der Wanderer“ - siehe Wandrers Sturmlied. Als Student in Straßburg unternimmt er Ritte bis zu 400 Kilometer durch Elsass-Lothringen, mit Carl August durchstreift er zu Pferd und zu Fuß Thüringen. Er besteigt den Brocken, den Schweizer Berg Rigi und den St. Gotthard. Er läuft Schlittschuh, liebt das Tanzen, das Kalt- und Nacktbaden. Noch als 70-Jähriger geht er täglich spazieren, manchmal mehrere Stunden, zumal Hufeland ihn gelehrt hat, „Bewegung [ist] die beste Arzney“.

Fat blaming: Familie von Stein entsetzt sich
Doch ab etwa 1790 legt er deutlich an Gewicht zu. 1795 informiert Carl von Stein seinen Bruder Fritz: „Wen die Zeit aber von Seiten des Körpers unkenntlich gemacht hat, ist Goethe. Sein Gang ist überaus langsam, sein Bauch nach unten zu hervortretend wie der einer hochschwangeren Frau, sein Kinn ganz an den Hals herangezogen ... seine Backen dick“. Und in einem Brief 1796 an denselben Fritz ereifert sich Mutter Charlotte, selbst klein und mager: „Ich hatte ihn seit ein paar Monaten nicht gesehen; er war entsetzlich dick, mit kurzen Armen, die er ganz gestreckt in beide Hosentaschen hielt.“Andere lästern, er gleiche einem Frankfurter Weinhändler.
Tatsächlich: Auf einem Bildnis, das der Direktor der Weimarer Zeichenschule um dieselbe Zeit anfertigt, sieht er griesgrämig und korpulent aus, die Mantelknöpfe über dem Bauch geöffnet. 15 Jahre später zeigt eine Zeichnung seiner Figur im Profil, dass er immer noch ein Embonpoint sein eigen nennt.
Ausgiebig huldigt er den Gaumenfreuden
Von nichts kommt nichts: Genüsslich zitieren Biografen eine Beobachtung Jean Pauls, der ihn 1796 besucht: „Auch frisset er entsetzlich.“ Und zwar fetten Braten, Wild, Geflügel, Pasteten, Fisch, Krebse, Kuchen, Schokolade und bereits zum Frühstück Knackwürste. Als er 1810 in Jena weilt, bittet er Christiane, ihm an jedem Botentag erlesene Fleischspeisen zu schicken, „einen Schöpsenbraten, einen Kapaun, ja einen Truthahn, es mag kosten, was es will“. Solche Fleischrationen könnten die Bildung der Nierensteine begünstigt haben, die ihm seit 1805 zusetzen, fettreiche Ernährung eine Koronarsklerose, an der er schließlich sterben wird. Im höheren Alter nimmt Goethe allerdings wieder ab.
Untertan von König Alkohol
Nicht zuletzt untergräbt der Alkohol seine Gesundheit. Wein begleitet Goethe vom ersten bis fast zum letzten Atemzug. So erzählt seine Mutter, ohne Wein sei er gleich gar nicht am Leben geblieben, denn nur „ein Bad heißen Weins“ habe dem Neugeborenen das Leben gerettet. Noch am Tag vor seinem Tod verlangt er ein Glas Wein, „das er in drei Zügen leer trank“.[5]
Wein liegt in der Familie: Goethes Großvater hat als Gastwirt und Weinhändler ein stattliches Vermögen angehäuft, das seinem Sohn, Goethes Vater, ein Leben als Privatier samt Bestückung eines großen Weinkellers mit den edelsten Tropfen ermöglicht, den Goethe als Siebenjähriger bestaunt. Wen wundert´s also, dass er diesem Getränk seit früher Jugend regelmäßig zuspricht.
Trotz Kur ein Schweinfurter Eimer
Nach Karlsbad bestellt er sich einmal einen „Schweinfurter Eimer“, das sind etwa 60 Liter eines fränkischen Tischweins, veranschlagt also seinen Tagesverbrauch trotz Kur auf zwei Liter. In seinen mittleren Jahren konsumiert er Zeitgenossen zufolge pro Mahlzeit - angefangen mit dem Frühstück - eine Bouteille, also einen Dreiviertelliter, wobei er nach eigenem Bekunden starke Weine wie Malaga oder Madeira bevorzugt. Allerdings ist er kein Kostverächter, denn eine Tischgenossin staunt: „Von unserm guten Rheinwein konnte er ganz fürchterlich viel trinken.“ Sehr zum Ärger seiner Schwiegertochter serviert er als Großvater auch seinen Enkeln gern ein Gläschen, um sich anschließend über deren possierliche Späße zu amüsieren.
Der 18-Jährige prahlt zwar noch in einem Brief, „dass er besoffen wie eine Bestie gewesen sei“, später aber ist er offenbar so daran gewöhnt, dass man ihn nie betrunken, höchstens angeheitert sieht. Im Wein vermutet er „produktivmachende Kräfte sehr bedeutender Art“, Zitate: „Andere schlafen ihren Rausch aus, bei mir steht er auf dem Papier!“ Oder: „Gestern Abend habe ich eine Flasche Champagner ausgetrunken und der Literatur aufgeholfen.“ Verordnen ihm die Ärzte Abstinenz, hält er - wie auch bei Diäten - nur wenige Tage durch.
Eine Familie, ein Laster
Über Jahre hinweg bestimmt der Wein den Alltag im Hause Goethe, denn unglücklicherweise ist Christiane ebenfalls abhängig, so dass Charlotte von Stein giftet, die „Demoiselle“ sei täglich betrunken und werde dick und fett. Auch August verfällt der Sucht, die wohl zu seinem plötzlichen Tod mit erst 40 Jahren in Rom beigetragen hat. Noch während Goethe diesen Schicksalsschlag zu verkraften versucht, erleidet er zum zweiten Mal einen Blutsturz, auch das nach retrospektiver Diagnose möglicherweise eine Folge übermäßigen Zechens, das heißt: einer Alkohol-induzierten Leberzirrhose. Denn Ursache könnte das Einreißen der damit oft einhergehenden Krampfadern in der Speiseröhre gewesen sein.
Dunkelkur für die entzündeten kurzsichtigen Augen
Weiterhin lohnt ein Blick auf Goethes Augenprobleme, ist er doch Verfasser der Farbenlehre, die er höher einschätzt als sein gesamtes literarisches Schaffen. Mit seiner Kritik an Newtons Physik fällt er zwar weit hinter den Kenntnisstand seiner Zeit zurück, gibt aber wichtige Anstöße für die Wahrnehmungspsychologie.[6] Seit seiner Jugend ist Goethe kurzsichtig und wird im Alter weitsichtig, trägt aber aus Eitelkeit keine Brille, sondern benutzt Lorgnetten und Lupen, die noch erhalten sind. Immer wieder leidet er an Entzündungen der Augen und schützt sie mit einem grünseidnen Schirm gegen Tages- oder Lampenlicht. Sein Hausarzt deutet die Beschwerden als Überbeanspruchung und verordnet eine „Dunkelkur“ von vier bis sechs Wochen. Goethe: „Verdunkelung des Augenlichts – wir haben ja mit gutem Grunde das Auge sonnenhaft genannt – ist vor allem das empfindlichste für mich, da ich dadurch an mancher mir lieben Gewohnheit und Beschäftigung verhindert werde.“
Neid beim Anblick intakter Zähne
Hinzu kommen Zahneiterungen, wodurch er nach und nach sämtliche Zähne verliert, bis er schließlich eine der damals üblichen Porzellanprothesen ohne Kaufunktion erhält, die er widerwillig nur bei offiziellen Anlässen aus kosmetischen Gründen trägt. In den Zahmen Xenien bekennt er: „Ich neide nichts, ich lass es gehen, und kann mich immer manchem gleich erhalten, Zahnreihen aber, junge, neidlos anzusehen, das ist die größte Prüfung mein, des Alten.“
Im rauen Klima des Nordens haben längst die alten Übel wieder zugeschlagen. „Da ich mich einmal entschlossen habe krank zu sein, so übt auch der Medikus ... sein despotisches Recht aus“, bedauert er im März 1800.
Eine Gesichtsrose mit Langzeitfolgen
Lebensbedrohlich wird es wieder einmal Anfang Januar 1801: Goethe erkrankt an einem Erysipel, wie das Fachwort schon damals lautet. Unter hohem Fieber mit zeitweiliger Bewusstlosigkeit schwillt eine Gesichtshälfte an, rötet sich, bildet Blasen. Die heftige Entzündung der Haut und Lymphwege greift auf das Auge und den Rachen über, so dass ihn Krampfhusten und Erstickungsanfälle schütteln. Zwei Tage kann er nicht im Bett liegen bleiben, weil er sonst keine Luft bekommen hätte.
Die Rekonvaleszenz zieht sich unter Aderlässen und Senfbädern bis zum Jahresende hin. Noch Monate später –im Herbst - bedauert Schiller: „Er hat aber leider seit seiner Krankheit gar nichts mehr gearbeitet und macht auch keine Anstalten dazu ... Er ist zuwenig Herr über seine Stimmung, seine Schwerfälligkeit macht ihn unschlüssig ... Beinahe verzweifle ich daran, daß er seinen Faust noch vollenden wird.“
Depressionen: kein Antrieb aufzustehen
Die „Gesichtsrose“ bildet den Auftakt für Goethes längsten seelischen Notstand. In den folgenden Jahren nennt er sein Befinden immer bloß „leidlich“, fühlt sich vor allem im Winter unpässlich und verlässt kaum das Haus. Christiane seufzt im Januar 1803: „Wegen dem Geheimen Rat lebe ich sehr in Sorge, er ist manchmal ganz hypochonder, und ich stehe oft viel aus ... “
Sein Freund Friedrich Riemer berichtet in einem Brief vom Januar 1804: „Sie wissen doch, daß Goethe unpaß ist, krank mag ich nicht sagen, ob er gleich meist zu Bett liegt; es ... scheint weiter nichts auf sich zu haben, als daß er nun nicht ausgehen kann und manchmal nicht guten Humors ist.“ Zudem setzen dem Geheimen Rat zwischen 1802 und 1805 vor allem wochenlange Erkältungen derart zu, dass er sich von einigen Ämtern entbinden lässt. Im Januar 1805 schreibt er an Schiller: „ ... bey mir hinkt es bald hier, bald dort.“
Ein Himmelreich für gesunde Nieren
Beim bloßen Hinken bleibt es leider nicht, denn im Februar 1805 erkrankt Goethe erneut ernstlich, und zwar an Nierenkoliken, begleitet von Fieberschüben, erheblichen Schmerzen, blutigem Urin - wahrscheinlich Nierensteine. Sie quälen ihn noch jahrelang. Er lässt sich von Christiane mit scharfem Spiritus einreiben, trinkt sein Karlsbader Wasser, nimmt pflanzliche Hausmittel wie Gundelrebe, Brennnessel und Bärentraube, dazu Opium und Bilsenkraut gegen die Schmerzen. Außerdem reitet er, um den Abgang der Steine zu fördern. Nach Napoleons Sieg über die Zaren-Armee soll er sich gewünscht haben: „Wenn mir doch der liebe Gott eine von den Russennieren schenken wollte, die zu Austerlitz gefallen sind!“
Die Schrecken von Tod und Vergänglichkeit
Verschlimmert wird alles noch dadurch, dass sich Schiller aufs Sterbebett legt. Allerdings hält Goethe sich von ihm fern - sein Verhaltensmuster beim Siechtum nahestehender Menschen. So fährt er nach den Schlaganfällen seines Vaters nicht mehr nach Frankfurt. Zehn Jahre lang macht er keinerlei Anstalten, die alternde Mutter zu besuchen, nach ihrem Tod im September 1808 schickt er seine Frau zur Regelung der Erbangelegenheiten. 1816, während sie acht Tage unter solchen Qualen stirbt, dass die Mägde davonlaufen, bleibt er in seinen hinteren Zimmern, arbeitet, experimentiert und diktiert Post. Als Ottilie, Augusts Frau, in seinem Hause eine Niederkunft erwartet, zieht er sich nach Jena zurück und taucht erst zur Taufe wieder auf. Ebensowenig geht zu einer Beerdigung, nicht zu den Eltern, nicht zu seiner Schwester, seiner Frau und dem Herzog, nicht zu Herder, Wieland, Schiller und Charlotte von Stein.
Die Trauer holt ihn trotz Verdrängung ein
Doch obwohl er so die Vergänglichkeit verdrängt, verschlimmern sich fast jedes Mal seine Malaisen, so auch als Schiller am 9. Mai 1805 im Alter von 45 Jahren stirbt, vermutlich an einer durch Tuberkulose hervorgerufenen Lungenentzündung. Goethe reagiert er mit einem schweren Rückfall seines Steinleidens. Später berichtet er: „ ... ich [war] nun von allen meinen Übeln doppelt und dreifach angefallen“. Und: „Unleidlicher Schmerz ergriff mich, und da mich körperliche Leiden von jeglicher Gesellschaft trennten, war ich in traurigster Einsamkeit befangen. Meine Tagebücher melden nichts von jener Zeit; die weißen Blätter deuten auf einen hohlen Zustand ....“ Sieben Monate bleiben sie unbeschrieben.
In ähnlicher Weise interpretieren seine Ärzte den Blutsturz, der ihn nach dem Tod Augusts niederwirft, als „Folge der ungeheuren Anstrengung, womit Goethe den bohrenden Schmerz über den vorzeitigen Verlust des einzigen Sohnes zu gewältigen strebte“ (nach moderner Ansicht waren Ösophagusvarizen die Ursache). Goethe habe geäußert: „daß die Eltern vor den Kindern sterben, ist in der Ordnung, unnatürlich aber ist, wenn der Sohn vor dem Vater abgefordert wird.“
Der Geheimrat altert: Das Spätwerk entsteht
In den Jahren nach 1805 stabilisiert sich sein Zustand zunächst auf erträglichem Niveau: „Wenn man einmal auf die Gesundheit Verzicht getan hat“, resigniert er 1807 in einem Brief an den Herzog, „so ist es eine hübsche Sache, nur leidlich krank zu sein, und sich in einer Lage zu befinden, wo man seine Übel wie ungezogene Kinder pflegen kann.“ Das gibt ihm Raum für eine erstaunliche Produktivität: 1808 erscheint der Faust und die erste Gesamtausgabe seiner Werke, 1809 die Wahlverwandtschaften, 1810 die Farbenlehre, 1811 beginnt die Publikation von Dichtung und Wahrheit.
Zum Hofmedicus Wilhelm Huschke wie auch ab 1816 zu seinem Hausarzt Wilhelm Rehbein hat er großes Vertrauen, wenngleich er sie des öfteren beschimpft und ihre Anordnungen ignoriert. Er legt jedoch Wert darauf, dass sie sich möglichst täglich nach seinem Befinden erkundigen und mit ihm über Medizin und Naturwissenschaften diskutieren.
Brustweh nach der Liebe zu einer jungen Frau
Ab etwa 1810 wird seine Umgebung gewahr, dass der Geheimrat sichtlich altert – „nicht im Geistigen“, findet Humboldt im Jahr 1812, „er ist noch ebenso munter, so rüstig, so leicht beweglich zu Scherz und Schimpf. Allein man sieht, daß er oft an seinen Körper erinnert wird. Mitten in Gesprächen ... geht [er] hinaus, ist sichtbar angegriffen.“ Auch müsse er sich nach kürzeren Wegstrecken setzen. Goethe ist da immerhin erst 63 Jahre alt.
Als 1815 die Liebesbeziehung mit Marianne von Willemer endet, fingen „die bisher nur drohenden Übel an, förmlich aufzubrechen“. „Es entstand“, so fährt der 66-Jährige fort, „ein Brustweh, das sich fast in Herzweh verwandelt hätte“. Doch er erholt sich wieder, denn 1820 entsteht eine Büste, die ihn nach den Worten des Bildhauers „körperlich wohl, geistig lebendig, in bewunderungswürdiger Haltung“ wiedergibt.
Meerrettich und Arnika gegen Herzinfarkt
Anfang 1823 jedoch gerät Goethe abermals in eine solche Gefahr, dass man bereits seinen Tod meldet. Rehbein berichtet von Schmerzen und Beklemmung in der Brust, Todesangst, Atemnot und Schweißausbrüchen - aus heutiger Perspektive ein Myokardinfarkt, damals kannte man diese Diagnose noch nicht. Goethe verbrachte neun Tage jammernd und klagend im Lehnstuhl, haderte, dass „uns die Götter hart halten in solchen kranken Tagen und doch auch gar nicht sonderlich in den gesunden“. Seine Ärzte verordnen Aderlässe und Blutegel, Meerrettich-Kompressen und Arnika-Tinktur. Goethe traut ihnen nicht viel zu: „Probiert nur immer“, fordert er sie auf, „der Tod steht in allen Ecken und breitet seine Arme nach mir aus, aber laßt euch nicht stören“. Mehr noch: In ihrer und seiner Hilflosigkeit beschimpft er sie als Hundsfötter und Jesuiten und wehrt sich gegen ihre Maßnahmen: „wenn ich nun doch sterben soll, so will ich auf meine eigene Weise sterben“.
Der Verehrer 74, die Angebetete 17 Jahre alt
Nach seiner Rekonvaleszenz betrachtet er die folgenden Jahre als nur „geschenkt“. Als der Frühling 1823 kommt, reist er nach Marienbad, wo er Ulrike von Levetzow wiedertrifft. So sehr er sich zunächst durch seine Verliebtheit verjüngt fühlt, so sehr strecken ihn Alter und Schwermut nieder, als sie seinen Antrag im Herbst ausschlägt. Bittere Erkenntnis: Er, der „noch erst den Göttern Liebling war“, muss nun endgültig Abschied nehmen von der Liebe. Aber wie sein Tasso hat er der schweigenden Mehrheit ja einiges voraus: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt/ Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.“ Diesmal sagt er es mit der Marienbader Elegie.
Eine weitere „Therapie“: den Kummer ertränken. Darüber berichtet Humboldt mit entschiedenem Missfallen: Der Kranke lebe nur von Bier und Semmeln; er trinke „große Gläser am Morgen aus und deliberiert mit dem Bedienten, ob er dunkel- oder hellbraunes Köstritzer oder Oberweimarisches Bier, oder wie die Greuel alle heißen, trinken solle“. Und: „ ... es war mir klar, daß es die Frucht seines Marienbader Umganges war.“
Der Lebensabend gehört allein der Arbeit
Bald folgen erneut Angina-pectoris-Anfälle und Symptome von Herzinsuffizienz. Er resigniert: „... mein Bündel ist geschnürt, und ich warte auf die Ordre zum Abmarsch.“
Die letzten Jahre verbringt Goethe zurückgezogen. Sein Gedächtnis lässt nach, er hört schlecht, wird schnell müde und schläft häufig während des Tages ein. Ins Tagebuch notiert er: „verhielt mich ruhig wegen einer Indisposition“, „verblieb den Tag im Bett“, die Nächte verlaufen öfter mal schlaflos. Heinrich Heine erschrickt 1824 „in tiefster Seele“ über das „gelbgesichtige, mumienhaften Aussehen, der zahnlose Mund in ängstlicher Bewegung, die ganze Gestalt ein Bild menschlicher Hinfälligkeit“. Eine Zeichnung aus dem Jahr 1826 zeigt deutlich den Gealterten, den Greis.
Habe nun, ach! ...- Faust hat auch Medizin studiert
Nach dem Tod Rehbeins 1825 wird der 28-jährige Carl Vogel sein Hausarzt. „Daß ich mich jetzt so gut halte“, sagt Goethe zu Eckermann, „verdanke ich Vogel; ohne ihn wäre ich längst abgefahren.“
Viel diskutiert er mit Vogel, der ihm „zum Arzt wie geboren“ scheint und „überhaupt einer der genialsten Menschen, die mir je vorgekommen sind“, über die Wechselwirkung zwischen Körper und Geist. „Es ist unglaublich“, so Goethe wiederum zu Eckermann, „wieviel der Geist zur Erhaltung des Körpers vermag. Ich leide oft an Beschwerden des Unterleibs, allein der geistige Wille und die Kräfte des oberen Teiles halten mich im Gange. Der Geist muß nur dem Körper nicht nachgeben!“ Er vertraut auf die Selbstheilungskräfte: Natura sanat, medicus curat – oder wie er Mephisto im Faust sagen lässt: „Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen, Ihr durchstudiert die groß’ und kleine Welt, um es am Ende geh’n zu lassen, wie’s Gott gefällt.“
Sanftes Ende nach dramatischem Beginn?
Diesem imaginierten Gott gefällt es, ihm die „Ordre zum Abmarsch“ am 22. März 1832 zu erteilen. Wenige Stunden zuvor äußert der 83-Jährige noch hoffnungsvoll: „... also hat der Frühling begonnen und wir können uns dann umso eher erholen“. Vogel schildert in seinem Dossier Die letzte Krankheit Goethe’s den dramatischen Verlauf: Der alte Mann wird nachts von panischer Angst und Unruhe ergriffen, heftige Brustschmerzen, kalter Schweiß und ein Rasseln auf der Brust stellen sich ein - jedoch „ungemein sanft“ sei er entschlafen, nach moderner Deutung an einem erneuten Infarkt, der Todesanzeige zufolge an „Stickfluß infolge eines nervös gewordenen Katarrhalfiebers“.
Wirklich so sanft? Seidler gibt zu bedenken, dass Vogel sich aus Verehrung für seinen Patienten zur Beschönigung genötigt fühlte, ebenso wie er auch behauptete, dass Goethe „niemals an Zahn- oder Kopfweh gelitten habe“ und sich „seine Zähne bis ins höchste Alter in gutem Zustande erhalten“ hätten. Und lauteten Goethes letzte Worte wirklich „Mehr Licht!“, wie es Vogel überliefert? Das ist ebenfalls fraglich, denn er hielt sich in jenen Minuten gar nicht im Sterbezimmer auf. Um alternative Fakten bemüht sich auch ein Zeichner, der Goethes auf dem Totenbett darstellt: Die realistische Version mit dem eingesunkenen Kiefer verwirft er, tradiert wird nur eine zweite, sozusagen photogeshoppte Fassung.
Autobiographische Schwarz- und Weißmalerei
Trotz vieler körperlicher Krankheiten und Depressionen habe Goethe nicht nur ein hohes Lebensalter erreicht, sondern auch ein anerkanntes Werk als Dichter geschaffen, dazu ein enormes Arbeitspensum als Staatsmann und Naturforscher bewältigt, resümiert Göring. Und Seidler meint, Goethes Bilanz „keine vier Wochen eigentliches Behagen“ müsse einer düsteren Stunde entsprungen sein, gebe es doch zahlreiche Belege, dass er sich etwa auf seiner Italienreise oder in Badeorten, bei der Begegnung mit interessanten und geliebten Menschen durchaus wohlgefühlt habe. Zudem sei eine Bemerkung überliefert, die der pessimistischen Sicht widerspricht, nämlich „daß ich in Anbetracht meiner Jahre alle Ursache habe, zufrieden zu sein“. Wie so oft, schlägt wohl der Zeiger an der Waage je nach Stimmung mal nach der einen, mal nach der anderen Seite aus.
Patient Goethe - Folge 1: Nach dem Blutsturz murrt der Vater über den jungen „Kränkling“
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