G-BA: Digitalisierung als Himmel und Hölle

  • Presseagentur Gesundheit (pag)
  • Im Diskurs
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Der Status quo ist ernüchternd, der Ausblick immerhin verheißungsvoller. In seinem Rechtssymposium beschäftigen sich der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) am 16. Juni mit dem derzeitigen Stand und der Zukunft eines digitalisierten Gesundheitswesens sowie mit dem Datenschutz. Einen ihrer ersten öffentlichen Auftritte in neuer Funktion hat dabei Dr. Susanne Ozegowski, frischgebackene Leiterin der Abteilung 5 „Digitalisierung und Innovation“ im Bundesgesundheitsministerium (BMG).

 

„Die Eisenbahn kommt aus der Hölle, und jeder der mit ihr fährt, kommt geradezu in die Hölle hinein“, wetterte der Pfarrer von Schwabach damals 1835, als die erste Dampflok von Nürnberg nach Fürth ratterte. Dieses Zitat nutzt der unparteiische Vorsitzende des G-BA, Prof. Josef Hecken, in abgewandelter Form. Er tauscht „Eisenbahn“ mit „Digitalisierung“ und setzt noch das wichtige Wort „nicht“ nach jedem „kommt“.

Klar, dass diese Worte keines Widerspruchs bedürfen. Doch wenn die Digitalisierung des Gesundheitswesens eine Eisenbahn ist, dampft sie im Schneckentempo voran und hat noch nicht einmal den ersten Bahnhof erreicht. Höchste Eisenbahn also. Das sieht auch Referent Prof. Ferdinand Gerlach so und benutzt einen Vergleich aus der Welt des Sports: In diversen europäischen Digitalisierungs-Rankings rangiere Deutschland stets auf einem „Abstiegsplatz“, konstatiert der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit). Sein Appell: „Warten ist keine Option!“ Denn: „Wir haben schon sehr viel Zeit verloren.“ Das Gute daran: „Wir können aus den Fehlern der anderen lernen.“

 

ePA als Herzstück

Als Schlüssel-Anwendung sieht Gerlach die elektronische Patientenakte (ePA). Er präferiert eine diagnoseunterstützende Variante. Diese wäre bei „charakteristischen Symptom- und Befundkonstellationen extrem hilfreich“. Er warnt vor der mittlerweile sprichwörtlichen digitalen „Aldi-Tüte“, in welcher der Patient seine Informationen, teilweise unbrauchbar für Behandler, unstrukturiert und lückenhaft gesammelt hat. Auch Referent Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverbands, spricht sich mit den Worten „Garbage in, Garbage out“ gegen eine solche Nutzung aus. Liege in der ePA Unbrauchbares, komme auch wieder Unbrauchbares raus.

Doch zum jetzigen Zeitpunkt dürfte sich nicht besonders viel „Garbage“ angehäuft haben, verfügten derzeit doch nur 500.000 Bürger über eine ePA, führt Ozegowski aus. Sie weiß auch einen Grund dafür. „Es ist ziemlich schmerzhaft, sich eine ePA anzulegen“, spricht sie den Registrierungs- und Anmeldeprozess an. Das habe zu einer Art Teufelskreis geführt. „Kein Patient bittet heutzutage seinen Arzt, Daten einzustellen. Und selbst die Ärzte, die die ePA schon bedienen können, fragen ihre Patienten nicht, ob sie Daten einstellen können, weil sie erleben, dass die meisten Patienten keine ePA haben.“ Dabei könne die Nutzung sogar Spaß machen. Ozegowski: „Ich zumindest habe Freude an meiner ePA und sie bringt mir heute schon etwas.“

 

Pro und Contra Opt-out

Die BMG-Abteilungsleiterin setzt ihre Hoffnungen in die digitale Akte. Sie müsse als übergreifendes Tool alle anderen Anwendungen inkludieren: Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), E-Rezept oder Telemedizin. Die Ampelfraktionen haben das Opt-out-Verfahren in den Koalitionsvertrag geschrieben: Jeder Patient, der nicht widerspricht, bekommt eine ePA. Dafür machen sich Ozegowski und Gerlach stark. Doch das Opt-out-Verfahren sieht der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI), Prof. Ulrich Kelber, sehr kritisch. Auf dem Rechtssymposium wird er durch Susanne Möhring, stellvertretende Leiterin des BfDI-Referats „Sozial- und Gesundheitswesen“, vertreten. „Teilnahme an medizinischer Forschung muss freiwillig sein“, bezieht sie sich auf die Deklaration von Helsinki aus dem Jahre 1964. Bevor man sich auf dieses Verfahren einlasse, bedürfe es einer Erprobung. Ihr Plädoyer: „Erst sollte man die Potenziale der ePA in der Anwendung ausloten und ausschöpfen, bevor ein neues, angreifbares ePA-Konzept auf Opt-out-Basis gefordert wird.“ Sie weist generell die Kritik an einer mangelnden Modernität des Datenschutzes zurück. Sie sieht eher einen Mangel an modernen Methoden zur Anonymisierung und einen Mangel an einem modernen Berechtigungsmanagement.

 

Im Datenschutz-Behördendschungel

Apropos Datenschutz, Regulation und Aufsicht. Da legt Prof. Christian Dierks den Finger in die Wunde. Wie der Gründer und geschäftsführende Gesellschafter des Beratungsunternehmens Dierks + Company ausführt, gilt in Deutschland neben der Datenschutzgrundverordnung das Bundesdatenschutzgesetz. Hinzu kommen 16 Landesdatenschutzgesetze, 17 Landesdatenschutzbeauftragte (Bayern leistet sich zwei) sowie 13 Landeskrankenhausgesetze, die Vorgaben für das Verarbeiten von Daten in Krankenhäusern in öffentlicher oder privater Trägerschaft enthalten. Für Kliniken in frei-gemeinnütziger Trägerschaft gelte dagegen das Recht der jeweiligen Kirche. In Deutschland gibt es 27 Diözesen und damit auch 27 Diözesan-Datenschutzbeauftragte. Hinzu kommen die 45 Ethikkommissionen, die bei klinischen Studien die Zulässigkeit auf Datenschutz prüfen. Folge dieser mannigfaltigen Aufsichten und Regulierungen sei, dass die Daten, die bei den jährlich 16,4 Millionen Krankenhausbehandlungen und den 553 Millionen ambulanten Behandlungen erzeugt werden, kaum genutzt würden. „Und diesen Zustand sollten wir ändern“, fordert der Jurist und Mediziner Dierks.

 

G-BA will Digitalisierung vorantreiben

Dem G-BA schreibt er einige Aufgaben ins Heftchen. Das Gremium solle die Rolle eines Think Tanks übernehmen, der digitale Strukturen aufbaut und vordenkt, der Prozesse und Interoperabilität mitstrukturiert und innovative Konzepte von sich aus nach vorne trägt – ohne dabei der gematik in die Quere zu kommen. Der unabhängiger G-BA-Chef Hecken will in der Tat mit seinem Gremium Digitalisierung nutzen und voranbringen. Das Gremium wolle in Musterverfahren der Qualitätssicherung praktisch erproben, wie Indikatoren vereinfacht und vereinheitlicht werden können. Das Ziel dabei: Dokumentationen vereinfachen, sektorenübergreifende Qualitätssicherung leichter ermöglichen und Routinedaten und Daten aus Patientenbefragungen stärker in Bewertungen einfließen lassen. Außerdem soll das Arztinformationssystem (AIS) weiter ausgebaut werden, zum Beispiel durch die Fortschreibung maschinenlesbarer Fassungen. Ferner sollen weiterhin Digitalisierungs-Projekte durch Innovationsfonds gefördert werden. Außerdem arbeite der G-BA an einem Finanzierungssystem, um die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften bei der Digitalisierung der Leitlinien zu unterstützen.

 

Ozegowskis Pläne

Ozegowski blickt gespannt auf den 1. September, wenn das E-Rezept sukzessive in Schleswig-Holstein und Westfalen-Lippe ausgerollt werden soll. Optimistisch stimmt sie, dass die 30.000-Marke eingelöster digitaler Arzneimittelverordnungen geknackt ist. Auf ihrer Agenda steht außerdem die Weiterentwicklung der DiGA. Diese dürften keinen eigenen Quasi-Sektor bilden. Ozegowski forciert die „Integration in die Versorgungsabläufe“. Derzeit laufe zudem die Umsetzung des Krankenhauszukunftsgesetzes, das geplante Gesundheitsdatennutzungsgesetz befinde sich in Vorbereitung.

Auch die von ihrem Chef, Gesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach (SPD),  angekündigte Digitalisierungsstrategie spricht sie an. Als Zeithorizont nennt sie 2028 bis 2030 und kündigt eine „Parallelisierung“ mit laufenden Prozessen an. Der Startschuss soll im Spätsommer fallen. Es gehe darum, wie die einzelnen Puzzleteile ineinanderwirken sollen und welche Institutionen und Akteure an welcher Stelle gebraucht werden. „Wo brauche ich Wettbewerb oder den einen Standard?“, sei dabei eine Frage. Auch die Zukunft der gematik als Digitalagentur, die Telematikinfrastruktur als Plattform (TI 2.0) und Interoperabilität seien Themen. Sie betont: „Wir wollen die Strategie nicht im stillen Kämmerlein ausarbeiten.“ Sie will einen „partizipativen Prozess“. Das Wissen der Akteure müsse eingebunden werden. Das dürfte Leistungserbringer beruhigen, die den Stil von Lauterbachs Vorgänger Jens Spahn (CDU) als Digitalisierung von oben empfunden haben. So will auch ein KBV-Vertreter wissen, wie sich die ehemalige Geschäftsbereichsleiterin Unternehmensentwicklung der Techniker Krankenkasse zu Sanktionen positioniert. Sie stehe für einen komparativen Ansatz, betont Ozegowski, „mit den Beteiligten, nicht gegen sie“.