Funktionelle Störungen – Folge 3: Wenn das Herz scheinbar grundlos verrückt spielt
- Dr. med. Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Von Dr. Angela Speth
„Ihr Herz ist kerngesund“ – mit diesem Bescheid könnten Ärzte jene Patienten verabschieden, für deren Beschwerden wie Brustschmerzen oder Herzrasen sie keine organische Ursache finden. Doch ist gerade bei solchen funktionellen Beschwerden eine gute Kommunikation wichtig, Stichworte: ernst nehmen, erklären, unterstützen. Und nachfragen: nach weiteren körperlichen und psychischen Symptomen, die häufig begleitend auftreten. Zur Behandlung gibt es bewährte Methoden, spezielle Übungsprogramme, Verhaltens- und Hypnotherapie.
Hausärzte, Kardiologen und Notfallmediziner kennen das Phänomen: Patienten suchen Hilfe wegen plötzlicher Brust- und Armschmerzen, Herzstolpern und Luftnot, Schwindel und Schwächeanfällen. Dennoch ergeben selbst ausführliche Untersuchungen weder ein akutes Koronarsyndrom, noch Rhythmusstörungen oder andere Herzerkrankungen.
Als Auslöser werden daher ungünstige Wechselwirkungen zwischen Psyche und Herz vermutet. Um sie geht es - nach einem Übersichtsartikel und einem Beitrag zu Reizdarm/Dyspepsie – in der 3. Folge einer Serie zu funktionellen Beschwerden.[1] Zwei Direktoren am Münchner Klinikum rechts der Isar bringen darin ihren jeweiligen Blickwinkel ein: Prof. Dr. Peter Henningsen als Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychosomatische Medizin, Prof. Dr. Karl-Ludwig Laugwitz als Kardiologe.
Wie häufig das Herz nicht still seine Arbeit tut, belegen sie mit der Gutenberg-Studie: 31% der Frauen und 17% der Männer berichten über Herzrasen in den vorangegangenen vier Wochen, 17% und 15% über Brustschmerzen. In einer Chest-Pain-Unit waren bei mehr als 60% von rund 1200 Patienten weder ein akutes Koronarsyndrom noch sonst ein kardialer Befund festzustellen. Bei knapp der Hälfte fand sich ein anderer Grund, etwa Reflux, der große Rest blieb unerklärlich.
Früher „soldier's heart“, heute posttraumatische Belastungsstörung
Funktionelle Herzbeschwerden rückten im 19. Jahrhundert ins Bewusstsein: Neben „irritable heart“ und „neurocirculatory asthenia“ sprachen die Mediziner von „soldier's heart“, weil viele Soldaten im amerikanischen Bürgerkrieg, später im 1. Weltkrieg daran litten. Heute würden sie wohl eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostizieren.
Im deutschen Sprachraum waren psychologisch ausgerichtete Begriffe verbreitet, die aus heutiger Sicht eine Panikstörung nahelegen, wie „Herzneurose“, „Herzphobie“ oder „Herzhypochondrie“. Sigmund Freud sprach von „Angstneurose“.
Die psychischen Aspekte von Herzstörungen gewinnen zunehmend an Bedeutung, erläutern Henningsen und Laugwitz. So habe die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie eine Arbeitsgruppe für psychosoziale Kardiologie gegründet. Und die American Heart Association hat kürzlich ein Statement publiziert, das psychosoziale Faktoren bei allen Herz-Kreislauf-Erkrankungen beleuchtet. Das heißt, selbst bei KHK werden den klassischen Risikofaktoren - etwa Bluthochdruck - psychische Einflüsse wie Depressionen an die Seite gestellt. Weitere Beispiele sind die Tako-Tsubo-Kardiomyopathie, die durch Stress ausgelöst wird, oder die Implantation von Defibrillatoren, die eine posttraumatische Belastungsstörung zur Folge haben kann.
Die Autoren teilen die Symptome funktioneller Herzbeschwerden in 4 Gruppen:
1. Unmittelbare Herzsymptome: Sie manifestieren sich als Herzstolpern und -rasen, Brustschmerz, Beklemmungsgefühle, meist linksthorakal und sogar in Ruhe, oft anhaltend, in leichter Form auch ständig.
2. Vegetative Begleitsymptome: Besonders bei Herzattacken sind Luftnot, Schweißausbrüche, Zittern und Schwindel typisch.
3. Andere Symptome: Sowohl gleichzeitig als auch unabhängig von den Herzbeschwerden treten Erschöpfung, Schwäche, Schmerzen unterschiedlicher Lokalisation, Verdauungs- und Gefühlsstörungen auf.
4. Psychische Symptome: Funktionelle Herzbeschwerden gehen noch mehr als organische gehäuft mit Krankheitsängsten, Sorgen, Nervosität, Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit einher. Dieses Distress-Syndrom beeinträchtigt Beruf und Privatleben, da die Menschen wenig leistungsfähig sind, Aktivitäten und die Gesellschaft anderer meiden.
Patienten mit funktionellen Herzbeschwerden suchen erfahrungsgemäß nicht zuerst einen Psychotherapeuten auf, sondern den Hausarzt oder Kardiologen. Ihnen raten die Autoren, einen funktionellen Hintergrund frühzeitig zu erwägen und die Anamnese entsprechend zu gestalten.
Die Diagnostik ermöglicht eine sichere Zuordnung, ob eine Angina pectoris oder funktionelle Herzbeschwerden vorliegen. Dennoch ist differenzialdiagnostisch einiges zu bedenken:
- Eine organische Herzerkrankung in der Vorgeschichte, etwa KHK, verminderte linksventrikuläre Funktion oder Klappenfehler
Dann liegt es einerseits nahe, dass erneute Symptome ebenfalls organisch bedingt sind, andererseits können sich organische als funktionelle Beschwerden verselbständigt haben. Studien zufolge hat ungefähr ein Drittel der Patienten mit nicht-kardialem Brustschmerz eine KHK und umgekehrt etwa ein Zehntel der Patienten nach Beseitigung einer Koronarstenose funktionelle Herzbeschwerden.
- Das kardiale Syndrom X
Weil das Koronarangiogramm unauffällig ist, wird es als mikrovaskuläre Angina pectoris gedeutet, doch sind wegen der benignen Prognose und den häufigen psychischen Komorbiditäten vermutlich auch funktionelle Anteile im Spiel.
- Panikstörungen
Ein Viertel der Patienten hat bei Attacken Herzklopfen, ebenso viele spüren Schmerzen in der Brust. Insofern vermuten sie meist einen Herzinfarkt oder Schlaganfall und erleben die Angst nicht als Ursache, sondern als Folge der bedrohlichen Situation. Kompliziert wird es dadurch, dass KHK-Patienten bis zu 15-mal häufiger an Panikstörungen leiden als die Normalbevölkerung.
- Generalisierte Angststörung
Die ständigen Befürchtungen, von Schicksalsschlägen getroffen zu werden, gehen mit Herzklopfen, Luftnot, Zittern, Schwitzen, Schwindel einher, hinzu kommen Muskelverspannungen, Spannungskopfschmerzen und Unruhe.
- Posttraumatische Belastungsstörung
Flashbacks, die ein Erlebnis mit Todesangst oder dem Gefühl absoluter Ohnmacht in Erinnerung rufen, sind häufig von Herzbeschwerden begleitet. Deren Auslöser können aber gleichfalls die erhöhte Labilität nach einem Trauma sein.
- Hypochondrische Störung
Hier stehen weniger die Beschwerden selbst im Vordergrund, sondern die Angst, herzkrank zu sein.
- Depressionen
Funktionelle kardiovaskuläre Beschwerden sind häufig Teil einer depressiven Störung, sie gehen dann ebenso wie Ängste in der psychiatrischen Diagnose auf.
Für die ICD-11-Einordnung funktioneller Herzbeschwerden, die nicht mit psychischen Störungen assoziiert sind, schlagen Henningsen und Laugwitz zwei Möglichkeiten vor:
1. Chronic primary chest pain (MG30.00) aus dem neutralen Kapitel 21 zu „andernorts nicht klassifizierten Symptomen und Befunden“. Diese biopsychosoziale Kategorie berücksichtigt emotionalen Distress und Funktionseinschränkungen.
2. Bodily distress disorder (6C20) aus dem Kapitel 6 „Psychische, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen“. Dieser Code für eine somatische Belastungsstörung eignet sich, wenn neben dem Brustschmerz weitere Symptome wie Herzstolpern, Luftnot, Erschöpfung vorliegen und die Aufmerksamkeit exzessiv darauf gerichtet wird.
Für die Kommunikation ist zentral, diese Patienten genauso ernstzunehmen wie jene mit nachweislich organischer Erkrankung und ihnen den Befund wertschätzend mitzuteilen. Weiterhin könnten Ärzte erläutern, dass die Beschwerden häufig, aber ungefährlich sind und Theorien zufolge auf einer Wahrnehmungsstörung beruhen, und zwar auf Fehlschlüssen zwischen unbewussten Erwartungen und Signalen aus dem Körper. Illustrieren lässt sich das mit dem Teufelskreis der Entstehung: Man glaubt Herzstolpern zu bemerken, bekommt Angst, an Arrhythmien zu leiden, das autonome Nervensystem wird aktiviert, was dann über Stresshormone den Puls noch mehr hochtreibt.
Die Therapie: „biopsychosoziale Selbsthilfe“, kognitive Verhaltenstherapie, Medikamente
Zur Behandlung empfehlen die Autoren einige Sitzungen einer „biopsychosozialen Selbsthilfe“: Eine Fachkraft unterweist die Patienten in Atemübungen, progressiver Muskelentspannung, körperlicher Aktivierung und einem anderen Umgang mit negativen Gedanken über Herzbeschwerden. In Fallserien gingen damit Brustschmerzen, Depressivität und Angst zurück.
Bleibt eine Besserung aus, ist eine kognitive Verhaltenstherapie indiziert, deren signifikante und nachhaltige Wirksamkeit ein Cochrane-Review zu 17 Studien belegt. Auch ein Internet-Programm mit Elementen dieser Methode sowie eine Hypnotherapie erwiesen sich als effektiv.
Darüber hinaus können Medikamente zur Symptomlinderung beitragen. So schlagen Henningsen und Laugwitz die Möglichkeit vor, Protonenpumpenblocker versuchsweise auch dann einzusetzen, wenn klare Hinweise auf Reflux fehlen. Antidepressiva werden bei funktionellen Störungen oft eingesetzt, doch ist eine Symptomlinderung speziell bei Herzbeschwerden nicht nachgewiesen.
Entscheidend für eine Besserung ist, dass sich die Patienten von der katastrophisierenden Annahme einer schweren Erkrankung lösen – ganz in dem Sinn, wie es Prof. Dr. Martin Middeke vom Hypertoniezentrum München in seinem Editorial formuliert „Man ist geneigt zu sagen: Gott sei Dank spüren Sie Ihr Herz.“
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