Funktionelle Störungen - Folge 1: eine diagnostische und therapeutische Herausforderung

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Medizinische Nachrichten
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Von Dr. Angela Speth

Ein Fünftel der Patienten in Hausarztpraxen kommt mit Beschwerden, für die sich keine Ursache finden lässt. Sie gelten dann als funktionell, meist handelt es sich um Schmerzen, Erschöpfung oder Schwindel. Mit Blick auf die Häufigkeit empfiehlt eine Psychosomatik-Spezialistin den Ärzten, von vornherein einzukalkulieren, dass jede Störung ganz oder teilweise funktionell sein kann, um überflüssige Diagnostik oder Therapien zu vermeiden.[1] Erhärtet sich der Verdacht, besteht der erste Schritt darin, den Patienten Selbstwirksamkeit zu vermitteln und ihnen ein Training vorzuschlagen, das ihre Aufmerksamkeit von den Beschwerden weg lenkt.

Funktionelle Körperbeschwerden entstehen durch ein gestörtes Zusammenspiel von Organen untereinander, mit dem ZNS und der Umwelt, erläutert Prof. Dr. Constanze Hausteiner-Wiehle von der Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie der TU München. Ihr Bericht bildet den Auftakt einer Serie, die auch Beiträge zu funktionellen Symptomen des Magen-Darm-Trakts und des Herzens umfasst. Als wichtige Einflüsse solcher Beschwerden nennt Hausteiner-Wiehle Konstitution, Vorerkrankungen, Erfahrungen und Erwartungen wie „Ich war schon immer kränklich“. Im mittleren Alter, zumal bei Frauen, ist die Anfälligkeit erhöht.

Dabei läuft die Fehlregulation sowohl Bottom-Up als auch Top-Down: Auslöser im Körper – etwa erhöhte Schmerzempfindlichkeit – wirken sich auf die Psyche aus und umgekehrt dirigiert die mentale Einstellung Geschehnisse im Körper. So scheinen Schmerzen besonders schlimm, wenn man sie als bedrohlich bewertet (katastrophisiert), oder ein Juckreiz ist auch deshalb so quälend, weil die Aufmerksamkeit ständig darum kreist.

Funktionelle Beschwerden liegen also in einer körperlich-psychischen Grauzone und sie treten oft, aber nicht immer parallel zu beiden Krankheitsformen auf. So haben 12% der Epilepsiepatienten auch funktionelle Anfälle und umgekehrt 22% der Patienten mit funktionellen Anfällen auch epileptische. Auch leidet etwa ein Viertel der Menschen mit funktionellen somatischen Beschwerden zusätzlich an Ängsten oder Depressionen.

Auch chronische Verläufe möglich

Meist hören funktionelle Störungen von selbst wieder auf, durch Nichtbeachtung, Hausmittel, Verhaltensänderungen oder den Wegfall äußerer Belastungen. Nur wenige der Betroffenen suchen einen Arzt auf, und gut zwei Dritteln bringt das eine Besserung. Bei den übrigen allerdings werden sie chronisch und beeinträchtigen Lebensqualität und Leistungsfähigkeit.

Häufig ist dann ein Teufelskreis entstanden, der in strukturellen Schäden mündet: Wer sich zum Beispiel schont, dessen Kondition nimmt ab, so dass er sich noch mehr schont. So verfestigen sich regelrechte Befunde, etwa erniedrigte Reizschwellen, Muskelatrophie oder gedrückte Stimmung. In schweren Fällen - etwa bei Reizdarm - kann das zu Mangelernährung führen oder bei neurologischen Funktionsstörungen zu einer Art Trance. Die Neurologen kennen schon länger körperliche Kriterien wie das Hoover-Zeichen oder das Verschwinden von Tremor bei Ablenkung.

Die häufigsten funktionellen Beschwerden sind zugleich die häufigsten Anlässe für Arztbesuche:

▪ Schmerzen: in Rücken, Kopf, Gliedern, Gelenken, Bauch, Syndrome wie Fibromyalgie, Reizdarm oder kraniomandibuläre Dysfunktion.

▪ Erschöpfung und Müdigkeit: bei Neurasthenie, Chronic Fatigue Syndrom, Fibromyalgie oder multipler Chemikaliensensitivität.

▪ gastrointestinale Symptome wie Störungen der Verdauung oder neurologische Beschwerden wie Schwindel, Schwitzen, Kurzatmigkeit, Palpitationen, Überempfindlichkeiten, Lähmungen oder Zittern, Störungen der Sexualfunktion, der Kognition und des Bewusstseins bis hin zu funktionellen Anfällen.

Die Gefahr: Überdiagnostik und Unterdiagnostik

Die Diagnostik ist eine Gratwanderung: Einerseits müssen natürlich gefährliche Differenzialdiagnosen wie Karzinome leitliniengerecht ausgeschlossen werden, andererseits können aufwendige Untersuchungen das Ausmaß der Beschwerden steigern (iatrogene Verstärkung). Abwägen und abwarten, heißt daher nach Hausteiner-Wiehle oft eine gute Devise.

Zentral sind Anamnese und körperliche Untersuchung mit Zuhören und Achten auf Warnsignale (Yellow Flags) für Chronifizierung: Schwere und Anzahl der Beschwerden, komorbide psychische Erkrankungen, ungünstige Einstellungen wie Katastrophisieren, Hilflosigkeit und Verhaltensweisen wie Schonung und Vermeidung, psychosoziale Belastungen wie Niedergeschlagenheit, Zukunftsängste, Einsamkeit, Über- oder Unterforderung am Arbeitsplatz.

Die Angabe des diagnostischen Codes ist eine Aufgabe für sich: Die ICD-11 stellt für Störungen ohne organische Erklärung das neue Konzept „bodily distress disorder“ (somatische Belastungsstörung) vor. Es gehört zum psychischen Kapitel, wobei es keine solche Genese voraussetzt, aber erstmals ein bestimmtes psychisch bedingtes Verhalten wie ängstliche Aufmerksamkeit auf die Beschwerden.

Außerdem wird die Kategorie „chronic primary pain“ eingeführt, und zwar weder den psychischen noch den organischen Kapiteln zugeordnet, sondern den „general symptoms“. Viele Patienten haben aber eine somatische Belastungsstörung und starke Schmerzen – was eine unbefriedigende Parallelklassifikation bedeutet. Hinzu kommt, dass mehrere funktionelle Störungen in den neurologischen oder gastroenterologischen Kapiteln erscheinen.

Wichtige Therapie-Bausteine: Aufklärung und soziale Kontakte

Wie behandeln? Wichtige Bausteine der Therapie sind nach den Worten der Autorin bereits Diagnostik und Informationen, die den Patienten ihre Befürchtungen nehmen. Fundamental ist weiterhin, ihnen zu vermitteln, dass sie selbst die besten Behandler  sind, und ihnen ein Training der Wahrnehmungssteuerung nahezulegen, um den Fokus von den Beschwerden wegzudrängen. Ablenkend und zugleich sinnstiftend wirken außerdem soziale Kontakte, Reisen oder ein Ehrenamt.

Atem- und Entspannungsübungen sowie regelmäßige Pausen eignen sich zur Stressbewältigung. Kraft, Kondition und Gleichgewichtssinn lassen sich durch Bewegung und Sport aufbauen, möglichst alltagstauglich im Sportverein oder der Volkshochschule. Tagebücher bieten eine Unterstützung, sofern sie sich nicht auf die Beschwerden selbst konzentrieren, sondern auf Emotionen, Erkenntnisse und Bewältigungsversuche.

Bei einigen Störungsbildern bieten sich spezifische Verfahren an, bei funktionellen Herzbeschwerden etwa eine „biopsychosoziale Selbsthilfe“ mit Atemübungen, progressiver Muskelentspannung, körperlicher Aktivität und Abbau negativer Gedanken über die Beschwerden. EMG-basiertes Biofeedback wird bei Spannungskopfschmerzen angewandt, Balneotherapie bei Fibromyalgie und Darmhypnose bei Reizdarm. Vorübergehend sind auch schmerzlindernde, schlaf- oder antriebsfördernde Medikamente eine Option, so profitieren manche Patienten mit Fibromyalgie und Spannungskopfschmerz von Amitriptylin. Vor opiathaltigen Analgetika jedoch warnt die Autorin, ebenso vor Vermeidungsstrategien wie Diäten oder Abschirmen der Wohnung.

Die erfolgreiche Behandlung von Komorbiditäten verringert die Belastung und damit nicht selten auch die funktionellen Beschwerden. Sind sie mild und wurden wahrscheinliche Auslöser wie Konflikte oder Fehlhaltung identifiziert, reichen meist Beratung und wenige Folgetermine aus.

Bei schweren Verläufen gelingt eine Besserung nur interdisziplinär, eventuell durch Kombination aus ambulanter und stationärer Therapie. So kann bei Dystonien oder Gangstörungen zusätzlich Physio- oder Ergotherapie ratsam sein. Bei stark ungünstigem Verhalten, das manchmal bis zur Selbstschädigung eskaliert wie direkten Manipulationen, Beharren auf Operationen, extrem einseitiger Ernährung und strikter Schonung, hilft nur Psychotherapie.

 

Dieser Beitrag ist die erste Folge einer dreiteiligen Serie zu funktionellen Störungen. In der zweiten Folge, die am kommenden Freitag erscheint, geht die Autorin Dr. Angela Speth auf funktionelle Störungen des Magen-Darm-Traktes ein.