Franz Kafkas Brief an den Vater und die Gedächtnisforschung - Teil 1

  • Dr. Angela Speth
  • Medizinische Nachricht
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Kernbotschaften

In scheinbarer Sohnesliebe beginnt Franz Kafkas Brief an seinen Vater mit der Formel „Liebster Vater“ und kulminiert psychoanalytisch gesprochen in nichts weniger als einem symbolischen Vatermord: Kafkas Brief an den Vater. Dieses Zeugnis von weltliterarischem Rang für die Erinnerung an eine traumatische Kindheit, zugleich eine zentrale Quelle für das Verständnis von Kafkas Leben und Werk ist auch neurowissenschaftlich aufschlussreich. Aus dieser Sicht analysieren zwei Experten den Brief als außergewöhnliches Beispiel dafür, wie subjektiv und fiktional das autobiografische Gedächtnis arbeitet, wie Menschen sich eine Geschichte über ihr Leben erschaffen und an ihr Selbstbild anpassen. Kafka etwa erklärt sich seine Unfähigkeit zur Ehe, seine Schuldgefühle und Ängste mit der Unterdrückung durch den tyrannischen Vater.

„Kafkas Brief an den Vater genießt einen ebenso dauerhaften wie zwiespältigen Ruhm: als Basistext der literarischen Moderne, als manipulativer Text, der danach verlangt, durchschaut und moralisch kommentiert zu werden“, schreibt der Literaturwissenschaftler Dr. Rainer Stach in seiner Kafka-Biografie. Dieses Psychogramm einer bürgerlichen Familie beleuchte eindringlich die Wurzeln von Macht und Abhängigkeit. In seiner Anschaulichkeit, seiner klaren Gedankenführung und im intuitiven Erfassen des Exemplarischen führe der Erkenntniswert weit über das individuelle Schicksal hinaus.

Auch für die Gedächtnis- und Entwicklungspsychologie bedeutet der Brief eine Bereicherung, da er authentisches Material zum komplexen Zusammenhang zwischen Wahrnehmen, Erinnern, Selbstverständnis und Künstlertum liefert, erläutern die Neurowissenschaftler Prof. Dr. Elisabete Castelon Konkiewitz von der Universität Dourados in Brasilien und Prof. Dr. Edward B. Ziff von der New York University School of Medicine.

Sie hinterfragen die Verlässlichkeit der autobiografischen Erinnerungen: Ist der Vater wirklich schuld, dass Kafka sich als Versager empfindet? War das Kind tatsächlich Opfer von Missbrauch? Ist der Brief vielleicht eher eine Erzählung? Dass Skepsis durchaus angebracht ist, thematisiert auch Stach: Der Brief habe bei seinen Lesern vielfaches Unbehagen erregt. Und: „Es gibt kaum einen Kommentator, der diesem Dokument nicht ein großes ,Ja, aber …‘ entgegenhielt.“

Machtstrukturen in der Familie werden entlarvt

Nun diskutieren Konkiewitz und Ziff von ihrer Warte aus, was diese Botschaft über den Schriftsteller aussagt, der Literatur und Denken bis heute prägt. Denn er liefert einen Schlüssel zu jenen Zirkeln der Ausweglosigkeit, die derart typisch für die Moderne sind, dass dafür – analog zu „grotesk“ - eigens ein Adjektiv gebildet wurde: kafkaesk. Es steht für rätselvoll und alptraumhaft Bedrohliches, diffus Angsteinflößendes, die Allgegenwart anonymer bürokratischer Mächte. Isoliert durchstreifen die Figuren eine beklemmende Welt flüchtiger Beziehungen, verstrickt in Rituale unpersönlicher Grausamkeit und Strafe ohne Verteidigung. Das Reale und das Bizarre vermischen sich, Ursachen und Wirkungen sind nicht logisch verknüpft, ständig tauchen Personen und Umstände auf, die alles Bisherige über den Haufen werfen.

Wer war Franz Kafka?

Franz Kafka wurde 1883 im Prag des österreichisch-ungarischen Kaiserreichs geboren, wo er den größten Teil seines Lebens verbrachte. Dort studierte er Jura, O-Ton im Brief: „Das bedeutete, daß ich mich in den paar Monaten vor den Prüfungen unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig förmlich von Holzmehl nährte, das mir überdies schon von tausenden Mäulern vorgekaut war.“ Jedoch, er promovierte und arbeitete ab 1908 als Beamter in der Arbeiter-Unfallversicherungs-Anstalt.

Durch seine deutsch-jüdische Herkunft gehörte er in dieser tschechisch-christlichen Umgebung in doppelter Hinsicht einer Minderheit an. Sein Vater besaß nur eine geringe Bildung, war aber als Händler vom Armut seiner Jugend zu Wohlstand gelangt, während die Mutter aus dem wohlhabenden Bildungsbürgertum stammte.

Kafka verbrachte seine Kindheit einsam, da die Eltern durch ihr Geschäft für Galanteriewaren voll in Anspruch genommen waren. Er wurde von Dienstmägden aufgezogen, die schnell wechselten, so dass keine Vertrautheit entstehen konnte. Ältere Brüder starben, und die nächste seine drei jüngeren Schwester kam erst zur Welt, als er sieben Jahre alt war. So wuchs der Junge wie ein Waise auf, mit viel Zeit, den Ideen eines „kalt phantastischen Kindes“ nachzuhängen.

Familienbande - Geborgenheit und Fessel

Das Verhältnis Kafkas zu seinen Eltern war ambivalent. Zwar wohnte er fast lebenslang mit ihnen zusammen, fühlte sich aber im „heimatlichen Rudel“ oft wie ein Fremder und war des Aufeinanderhockens überdrüssig. Dennoch vermochte er nicht, sich daraus zu lösen. Diese Zerrissenheit vergleicht er mit dem „Kinderspiel, wo einer die Hand des anderen hält und sogar preßt und dabei ruft: ,Ach geh doch, geh doch, warum gehst Du nicht?‘“ Obwohl er den Vater als Feind fürchtete, bewunderte er an ihm eine nicht eben kurze Liste von Qualitäten: „Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis und Großzügigkeit“.

Ein ebenfalls gespaltenes Verhältnis hatte Kafka zu Frauen. Zwar gingen drei Verlobungen in die Brüche, trotzdem lebte er nicht wie ein asketischer Junggeselle, sondern besuchte Bordelle und hatte intensive Liebesaffären.

Vielen steht das Bild eines Einzelgängers vor Augen, doch pflegte er zum Beispiel mit drei Studienfreunden, darunter Max Brod, langjährige enge Beziehungen. Bei wöchentlichen Treffen lasen sie sich aus ihren Manuskripten vor, wobei vor allem Max Brod Kafkas Genie erkannte und ihn zum Schreiben ermutigte. Zweimal rettete er dessen Originalmanuskripte: das erste Mal, indem er sich entgegen dem Wunsch des Autors weigerte, sie zu vernichten. Das zweite Mal bei der Besetzung Prags durch die Nazis 1939, indem er sie auf seiner Flucht nach Tel Aviv mitnahm. Das ermöglichte nach dem Krieg die Veröffentlichung von Schriften wie Das Schloss, Der Prozess und auch des Briefs an den Vater.

Ein Tod mit 41 Jahren

Im Jahr 1917 wurde bei Kafka eine Lungentuberkulose diagnostiziert, die 1922 seine Pensionierung unvermeidlich machte. Während eines Aufenthalts an der Ostsee im Juli 1923 lernte er die junge Jüdin Dora Diamant kennen und zog mit ihr nach Berlin – kurz konnte er doch noch mit einer Frau zusammenleben, fern von den Eltern und ohne die Bürde einer offiziellen Ehe. Trotz Krankheit und Geldmangel hatte Kafka eine relativ glückliche Phase, er träumte sogar von einem Neubeginn in Israel.

Doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide bis zur Kehlkopftuberkulose, er wurde in ein Sanatorium nahe Wien aufgenommen, wo er unter großen Schmerzen im Juni 1924 im Beisein von Dora starb. Auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Prag ist er bestattet.

Kafka lebte unter dem Einfluss dreier Kulturen – deutsch, tschechisch, jüdisch – und in einer Epoche starker Turbulenzen und Umbrüche: Untergang der Donau-Monarchie, Antisemitismus und tschechischer Nationalismus, erster Weltkrieg und seine katastrophalen Folgen, wie Lebensmittel- und Kohleknappheit sowie die Spanische Grippe, an der er ebenfalls erkrankte.

Tagebuchnotiz: „Im Kino gewesen. Geweint.“

Kafka verehrte Flaubert und Dostojewski als seine wahren Verwandten, beobachtete interessiert die technischen Innovationen: Elektrizität, Telefon, Automobil, Fotografie und besonders das Kino. Durch seinen Beruf lernte er jedoch die Schattenseiten der industriellen Entwicklung kennen, etwa die häufigen Verstümmelungen in Fabriken. Daher teilte er den Optimismus der Zeit nicht, vielmehr sind seine Romane und Erzählungen durchzogen von den problematischen Strömungen der Moderne, wie der Informationsflut oder der Zersplitterung. Zudem gilt er als Vorbote des Terrors: Die 1914 geschriebene Erzählung Die Strafkolonie ähnelt erschreckend den Konzentrationslagern der Nazis, in denen alle seine Schwestern ermordet wurden.

Inzwischen gibt es zu Kafka, der zu Lebzeiten beinah unbekannt war, über 20.000 Bücher und Dissertationen, Tausende von Seiten im Internet, viele Filme, Dokumentationen, Museen, Denkmäler und sogar Souvenirs.

In welchem Kontext steht der Brief?

Den Brief an den Vater schrieb der 36-jährige Franz Kafka im November 1919 an den 67-jährigen Hermann Kafka. Mit (allzu) klarer Rollenverteilung antwortete er auf dessen Frage, „warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir“. Zur Begründung unternahm er eine Zeitreise ab der frühen Kindheit, die er mit einem Manuskript von über 100 Seiten abschloss. „Ein Riesenbrief“, sagte er selbst.

In einem schmerzhaften Ausbruch warf er dem Vater vor, ihn durch patriarchalische Gewalt zu dem gemacht zu haben, was er war – „ein schwächlicher, ängstlicher, zögernder, unruhiger Mensch“ voll von Minderwertigkeitskomplexen, Schuld- und Schamgefühlen. Dabei berücksichtigte er den Blickwinkel des Vaters, doch sein Bemühen um Objektivität wich einer Offenbarung tiefen Leids. Das wirkt um so eindrücklicher, da er von den seelischen Verwüstungen im selben sachlichen Stil („Man weint“) berichtete wie in seinen sonstigen Texten, wo er selbst bei schockierenden Ereignissen dem ästhetischen Prinzip einer schmucklosen, nüchternen Sprache treu blieb.

Kafka hatte sich für den Brief extra zwei Wochen Urlaub genommen und war nach Schelesen gereist, einem Dorf nördlich von Prag. Er steckte in einer Krise, weil gerade sein dritter Heiratsversuch gescheitert war. Nach zwei aufgelösten Verlöbnissen mit Felice Bauer hatte er die Ehe mit Julie Wohryzek wagen wollen, doch sein Vater mit der Doppelmoral des sozialen Aufsteigers hatte für die junge Frau aus der Unterschicht nur Verachtung übrig: Sie würde seinem Namen Schande machen.

Verführung durch aufreizende Kleidung

Im Brief gab Kafka die Tirade wieder: „Sie hat wahrscheinlich irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, wie das die Prager Jüdinnen verstehn und daraufhin hast Du Dich natürlich entschlossen sie zu heiraten. Und zwar möglichst rasch, in einer Woche, morgen, heute. Ich begreife dich nicht, du bist doch ein erwachsener Mensch, bist in der Stadt, und weisst Dir keinen anderen Rat, als gleich eine Beliebige zu heiraten. Gibt es da keine anderen Möglichkeiten? Wenn Du Dich davor fürchtest, werde ich selbst mit Dir hingehn.“

Stach führt aus: „Der Vater hatte vom Bordell gesprochen, von käuflichem Sex, und keineswegs unter vier Augen … nein, er hatte es laut und inmitten des friedlichen Kafkaschen Wohnzimmers getan, in Anwesenheit seiner Frau ... Eine Urszene, wie Kafka sofort wusste.“ Er selbst schreibt: „Tiefer gedemütigt hast du mich mit Worten wohl kaum und deutlicher mir deine Verachtung nie gezeigt.“

Die Hochzeit wurde dann abgesagt, aus dem vorgeblichen Grund, keine Wohnung zu finden. Kafka im Brief: „Das wesentliche, vom einzelnen Fall leider unabhängige Hindernis war aber, dass ich offenbar geistig unfähig bin zu heiraten. Das äussert sich darin, dass ich von dem Augenblick, wo ich mich entschliesse zu heiraten nicht mehr schlafen kann, der Kopf glüht bei Tag und Nacht, es ist kein Leben mehr, ich schwanke verzweifelt herum.“ Er glaubte sogar, „unter der übermenschlichen Anstrengung des Heiraten-Wollens [sei ihm] das Blut aus der Lunge“ gekommen.

Der zweite Teil des dreiteiligen Beitrags erscheint am kommenden Montag.