Franz Kafka, sein Vater und die Gedächtnisforschung - Teil II

  • Dr. Angela Speth
  • Medizinische Nachrichten
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Heiraten als Bewährungsprobe

Kafka hielt Sexualität zwar für schmutzig, die Ehe allerdings für ein hehres Ideal, den entscheidenden Prüfstein für Lebenstüchtigkeit. Doch fand er keinen Weg zwischen Bindungs-Begehren und Bindungs-Angst. Einerseits schwärmte er: „Heiraten, eine Familie gründen, alle Kinder, welche kommen, hinnehmen ... ist meiner Überzeugung nach das Äußerste, das einem Menschen überhaupt gelingen kann.“ Andererseits sah er die Ehe als „bisher größten Schrecken meines Lebens“. Er bangte um seine stets gefährdete Ich-Stabilität und seine Kreativität, wo ihm doch das Schreiben ein Tor zur Selbständigkeit und zur Flucht vor dem Vater eröffnete.

Ein weiterer Hinderungsgrund: Die Ehe war väterliches Terrain. „So wie wir aber sind, ist mir das Heiraten dadurch verschlossen, daß es gerade Dein eigenstes Gebiet ist. Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen. Und das sind entsprechend der Vorstellung, die ich von Deiner Größe habe, nicht viele und nicht sehr trostreiche Gegenden und besonders die Ehe ist nicht darunter.“

Sowieso wäre der Vater in puncto Harmonie überlegen: „Ich hatte in Eurer Ehe eine in vielem mustergültige Ehe vor mir, mustergültig in Treue, gegenseitiger Hilfe, Kinderzahl, und selbst als dann die Kinder groß wurden und immer mehr den Frieden störten, blieb die Ehe als solche davon unberührt.“

Viel Schweinerei unter Galanteriewaren

Über seine eigene Misere hinaus zeichnete Kafka das Porträt eines Haustyrannen, der auch die übrige Familie und das Personal schikanierte: „Nenne mir einen in der Kinderzeit irgendwie für mich bedeutenden Menschen, den Du nicht wenigstens einmal bis in den Grund hinunterkritisiert hättest“, forderte er ihn auf.

Er erwähnte des Vaters „ständige Redensart hinsichtlich eines lungenkranken Kommis: ,Er soll krepieren, der kranke Hund.“ Die Angestellten verteufelte der Wäscheladendespot als „bezahlte Feinde“. Das Verhältnis zu seiner verstorbenen Nichte, die ihm aufopferungsvoll gedient hatte, fasste er „in einem für uns klassisch gewordenen, fast gotteslästerlichen ... Satz zusammen: ,Die Gottselige hat mir viel Schweinerei hinterlassen.‘“

Haarsträubende Zitate illustrieren das väterliche Regiment:

„Und hätte ich, die unbedeutende Person, ihnen [den Angestellten] unten die Füße geleckt, es wäre noch immer kein Ausgleich dafür gewesen, wie Du, der Herr, oben auf sie loshacktest.“

„ … zu Hause und besonders im Geschäft [flogen] die Schimpfwörter rings um mich in solchen Mengen auf andere nieder, daß ich als kleiner Junge manchmal davon fast betäubt war.“

Eklatant außerdem, dass der Vater sich nicht an die Vorschriften hielt, die er anderen machte. Kafka kritisierte: „Über die Güte des Essens durfte nicht gesprochen werden – Du aber fandest das Essen oft ungenießbar; nanntest es ,das Fressen‘; das ,Vieh‘ (die Köchin) hatte es verdorben ... Knochen durfte man nicht zerbeißen, Du ja. Essig durfte man nicht schlürfen, Du ja. Die Hauptsache war, daß man das Brot gerade schnitt; daß Du das aber mit einem von Sauce triefenden Messer tatest, war gleichgültig. Man mußte Acht geben, daß keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag schließlich am meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen, Du aber putztest und schnittest Dir die Nägel, spitzest Bleistifte, reinigtest mit dem Zahnstocher die Ohren.“

Kafka verteidigte die vom Vater gehasste Ottla

Zudem hatte der Vater eine Vorliebe für Zoten und fiel der Tischrunde mit dem Lamento über seine harte Kindheit auf die Nerven: „Schon mit sieben Jahren mußte ich mit dem Karren durch die Dörfer fahren.“ „Jahrelang hatte ich wegen ungenügender Winterkleidung offene Wunden an den Beinen.“ „Von zuhause bekam ich gar nichts ... ich schickte noch Geld nachhause.“ Leistungen seiner Kinder tat er ironisch ab, seine jüngste Tochter - Kafkas Lieblingsschwester Ottla - verfolgte er regelrecht mit Hass.

Vom Brief an den Vater laufen Fäden zu zwei Erzählungen, die Kafkas eigene Konflikte widerspiegeln, wie Konkiewitz und Ziff vermuten. Gerechtfertigt wird ihre These durch Kafkas Bekenntnis: „Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte.“ In beiden Texten tötet der Vater den Sohn. Die eine ist Die Verwandlung: Der Vater bewirft den als Ungeziefer erwachten Gregor mit Äpfeln und verletzt ihn dabei tödlich. Die andere ist Das Urteil: Der Vater befiehlt dem Sohn Georg Bendemann den „Tod des Ertrinkens“ – und dieser springt gehorsam von einer Brücke in den Fluss.

Umgekehrt fiel auch Kafkas Urteil über den Vater vernichtend aus: „ ... einem Menschen Deiner Art hättest Du durch Erziehung gewiß nützen können ... Für mich als Kind war aber alles, was Du mir zuriefst, geradezu Himmelsgebot ... und da versagtest Du vollständig.“

Der Brief habe eingeschlagen wie eine Bombe

Stach: „Undenkbar dass irgendein Vater diesen Brief anders hätte auffassen können denn als frontale Belehrung und zugleich als Anklageschrift, als ungeheuerliche Anhäufung moralischen Beweismaterials – auch wenn der Ankläger noch so häufig beteuerte, dass es ihm nicht um die Frage der Schuld gehe.“ Und weiter: „Sein Brief ist kontaminiert von Hass … Hier war kein einziger Posten verjährt, es war eine Abrechnung mit Zins und Zinseszinz, wie sie wohl noch kein Vater je empfangen hatte.“

Wie Max Brod schrieb, war der Brief durchaus „dazu bestimmt, dem Vater wirklich übergeben zu werden (und zwar durch die Mutter) … Die Mutter hat […] den Brief nicht weitergeleitet, sondern, wohl mit einigen begütigenden Worten, Franz zurückgestellt.“ Und Stach kommentiert: „So sorgte Kafka selbst dafür, dass der Familie der so mühevoll vorbereitete showdown erspart blieb.“ Denn hätte er die Übergabe durchgesetzt, hätte er wohl die „Wirkung einer Bombe“ erzielt. Doch offenbar begnügte er sich nach einigem Zögern mit der kathartischen Wirkung – Schreiben als Selbsttherapie.

Hatte Kafka tatsächlich eine traumatische Kindheit?

Was war passiert? Kafka war ja nicht Opfer von sexuellem Missbrauch, Prügel, Katastrophen oder Entbehrungen geworden, sondern saß komfortabel im Kreis der Familie. Wahrscheinlich empfand sogar der Vater durchaus so etwas wie Zuneigung, wie Kafka zugestand: „So hast Du mir zum Beispiel vor kurzem gesagt: ,ich habe Dich immer gern gehabt‘“. Auch versuchte der Vater wohl sein Bestes, denn Kafka räumte ein: „Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie Du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn und in diesem Fall schien Dir das auch noch überdies deshalb sehr gut geeignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufziehen wolltest.“

Den Angelpunkt des Briefs bildet aus psychoanalytischer Sicht das sogenannte Pawlatschen-Erlebnis (Pawlatsche, tschechisch Balkon). Es erklärt sein Leben und Werk als Wiederholung von unerklärlicher Schuld, Demütigung, Willkür - zentralen Elementen des Kafkaesken also: „Ich winselte einmal in der Nacht immerfort um Wasser, gewiß nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich unterhalten. Nachdem einige starke Drohungen nicht geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche und ließest mich dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn.“

Die Pawlatsche – Sinnbild einer autoritären Erziehung

Kafka fuhr fort: „Ich will nicht sagen, daß das unrichtig war ... aber ich hatte einen inneren Schaden davon. Das für mich Selbstverständliche des sinnlosen Um-Wasser-Bittens und das außerordentlich Schreckliche des Herausgetragenwerdens konnte ich meiner Natur nach niemals in die richtige Verbindung bringen. Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, daß der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und daß ich also ein Nichts für ihn war.“

Trauma, so definieren Konkiewitz und Ziff, ist eine Erfahrung, die das Opfer nicht bewältigen kann. Maßgeblich besonders für ein psychisches Trauma ist die individuelle Interpretation. So steckte vermutlich hinter der Maßnahme des Vaters keine böse Absicht. Stach dazu: „Aber für das Gefühl tiefer Nichtigkeit, das dieser Schock bei seinem Sohn ausgelöst hatte, konnte doch der alte Kafka nichts, er hatte es nicht so gemeint, und andere Väter stellten mit ihren Kindern noch ganz andere Dinge an.“

Dennoch dürfe man Kafka keinesfalls absprechen, dass er seinem Empfinden nach Vernachlässigung und emotionalem Missbrauch ausgesetzt war, betonen Konkiewitz und Ziff. Maßgeblich ist die innere Wahrheit.

Die psychische Misshandlung lässt sich leicht belegen:

„Deine äußerst wirkungsvollen, wenigstens mir gegenüber niemals versagenden rednerischen Mittel bei der Erziehung waren: Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und – merkwürdigerweise – Selbstbeklagung.“

Drohungen ersetzten sehr wirkungsvoll die Prügel

„Es ist auch wahr, daß Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne, war für mich fast ärger. Es ist, wie wenn einer gehängt werden soll. Wird er wirklich gehenkt, dann ist er tot und es ist alles vorüber. Wenn er aber alle Vorbereitungen zum Gehenktwerden miterleben muß und erst wenn ihm die Schlinge vor dem Gesicht hängt, von seiner Begnadigung erfährt, so kann er sein Leben lang daran zu leiden haben.“

Über „die kleinen Unternehmen der Kinderzeit“: „Man mußte nur über irgendeine Sache glücklich sein, von ihr erfüllt sein, nach Hause kommen und es aussprechen und die Antwort war ein ironisches Seufzen, ein Kopfschütteln, ein Fingerklopfen auf den Tisch: ;Hab auch schon etwas Schöneres gesehn‘ …“

„Schrecklich war mir zum Beispiel dieses: ,ich zerreiße Dich wie einen Fisch‘, trotzdem ich ja wußte, daß dem nichts Schlimmeres nachfolgte (als kleines Kind wußte ich das allerdings nicht) ...“

Und er registrierte, wie der Vater den kleinen Enkel Felix mit demselben Kompliment bedachte wie ihn als Kind: „Du bist ein großes Schwein.“

Stotterndes, stolperndes Sprechen

„Aufreizend waren auch jene Zurechtweisungen, wo man als dritte Person behandelt, also nicht einmal des bösen Ansprechens gewürdigt wurde; wo Du also etwa formell zur Mutter sprachst, aber eigentlich zu mir, der dabei saß, zum Beispiel: ,Das kann man vom Herrn Sohn natürlich nicht haben.‘“

„Ich verlernte das Reden. Ich wäre ja wohl auch sonst kein großer Redner geworden, aber die gewöhnlich fließende menschliche Sprache hätte ich doch beherrscht. Du hast mir aber schon früh das Wort verboten. Deine Drohung: ,kein Wort der Widerrede!‘ und die dazu erhobene Hand begleiten mich schon seit jeher.“

Kein Wunder, dass er in einem Brief an seine Geliebte Milena Jesenská von der „totenaugenhaften Ernsthaftigkeit“ seiner Kindheit sprach, was die frühen Fotos bestätigen.

Krass dabei ist, dass dem Vater offenbar jegliches Gespür fehlte, was er anrichtete: „Unverständlich war mir immer Deine vollständige Empfindungslosigkeit dafür, was für Leid und Schande Du mit Deinen Worten und Urteilen mir zufügen konntest, es war, als hättest Du keine Ahnung von Deiner Macht. ... Du schlugst mit Deinen Worten ohneweiters los, niemand tat Dir leid, nicht währenddessen, nicht nachher, man war gegen Dich vollständig wehrlos.“

In seiner Blindheit war der Vater auch überzeugt, dass es dem Sohn stets „übertrieben gut“ gegangen wäre, dass er „in Saus und Braus“ und „dank Deiner Arbeit ohne alle Entbehrungen in Ruhe, Wärme, Fülle“ gelebt hätte. Paradox: Gerade dieses Wohlleben verübelte er seinen Kindern.

Die Mutter versuchte stets, ihren Mann zu schonen

Die Mutter erhob nicht die Stimme gegen ihren polternden, taktlosen Mann, sondern „hatte unbewußt die Rolle eines Treibers in der Jagd“. Kafka befand über sie: „Zu sehr liebte sie Dich und war Dir zu sehr treu ergeben, als daß sie in dem Kampf des Kindes eine selbständige geistige Macht für die Dauer hätte sein können.“ Stattdessen übernahm sie des Vaters „Urteile und Verurteilungen hinsichtlich der Kinder blindlings“.

Kafka zog eine direkte Linie zwischen Ursache und Wirkung, dehnte die Qualen seiner Kindheit auf den erwachsenen Mann aus, als besäße er immer noch keine Möglichkeiten der Selbstbestimmung: „So wie ich jetzt bin, bin ich (natürlich abgesehen von den Grundlagen und dem Einfluss des Lebens selbst) das Ergebnis deiner Erziehung und meines Gehorsams.“

Die Entwicklungspsychologie stützt diese These, denn nach ihrem Konzept kann ein Kind nur schwer ein Selbstwertgefühl entwickeln, wenn es in den ersten fünf Lebensjahren keine sichere Bindung aufbauen kann, sondern die Beschimpfungen strafender Eltern verinnerlichen muss.

 

Die dritte und letzte Folge des Beitrags zu Franz Kafka erscheint am Freitag dieser Woche.