Schon wenige Monate nach dem offiziellen Beginn der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass die Infektions-Erkrankung bei manchen Menschen kommt und geht und nicht verschwindet.So berichtete 2020 die italienische Archäologin Dr. Elisa Perego über wochenlang wiederkehrendes Fieber, Husten, Atemnot, Herzrasen und kognitive Einschränkungen. „Beschwerden, die ich nach der Akutinfektion gehabt hatte, meldeten sich zurück, neue Symptome, unter anderem Thrombosen, kamen hinzu“, wird sie im Magazin der „Neuen Zürcher Zeitung“ von der Journalistin Theres Lüthi zitiert.
Charakteristisch: Zunahme der Symptome nach Belastung
Bei 10–20 Prozent aller Menschen, die sich mit SARS-CoV-2 infizierten, blieben auch Wochen danach Beschwerden zurück; meist klagten sie über Fatigue, Dyspnoe, Anosmie und Ageusie, zudem über Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Husten, kognitive Einschränkungen und Schlafstörungen, berichteten kürzlich auch Dr. Isabell Pink und Professor Tobias Welte von der Medizinischen Hochschule Hannover.
Die Neurologin Dr. Lara Diem, verantwortlich für die Long-COVID-Sprechstunde am Inselspital in Bern, behandelt laut Theres Lüthi inzwischen rund 600 Patientinnen und Patienten, die Monate nach einem milden Verlauf noch immer nicht gesund seien. Die Mehrheit, die zu ihr in die Sprechstunde komme, sei zwischen 20 und 50 Jahre alt, und es seien mehr Frauen als Männer und auffallend viele Akademiker, etwa Ärzte, Anwältinnen, Informatiker, Lehrerinnen. Im Durchschnitt dauere es bei ihren Patienten sechs bis neun Monate, bis sie wieder die alten seien. Bei etwa zwei Prozent verschwinde die Fatigue aber auch nach mehr als zwölf Monaten nicht, wird die Neurologin zitiert.
Dr. Michael Stingl, Neurologe in Wien, behandelt in seiner Praxis ebenfalls mehrere COVID-19-Patienten, denen es selbst nach einem Jahr noch nicht besser geht. Typisch für diese Patienten seien außer der extremen Fatigue die Verschlechterungen des Zustands nach Anstrengungen. Betroffen seien vor allem junge Leute zwischen 20 und 50. Stingl: „Dieses Krankheitsbild ist auch für Ärzte oft schwer zu begreifen. Die Leute kommen in die Praxis und sehen auf den ersten Blick gesund aus“. Man sehe aber nicht, dass sie nach dem Arztbesuch tagelang im Bett liegen müssten.
Fatigue: häufig, aber unspezifisch
Möglicherweise entwickeln zehn bis 20 Prozent der Long-COVID-Patienten ein chronisches Fatigue-Syndrom, berichten Dr. Herbert Renz-Polster (Vogt in Deutschland) und Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen vom Fatigue Centrum der Charité. COVID 19 ist bekanntlich nicht die einzige Erkrankung, die mit Fatigue einhergeht. Fatigue ist, wie sie erinnern, ein häufiges, aber unspezifisches Symptom; es trete bei einer Vielzahl von insbesondere internistischen und neurologischen Erkrankungen auf, etwa bei chronischen Organerkrankungen, Autoimmunerkrankungen, Schlafstörungen oder Tumoren. Besonders häufig und für die Differenzialdiagnose relevant sei die oft „hartnäckige, aber meist selbstlimitierend verlaufende postinfektiöse Fatigue“, etwa nach einem Pfeiffer-Drüsenfieber oder eben nach COVID 19.
Differenzialdiagnostisch wichtig: die pathologische Reaktion auf Belastung
Charakteristisch für das chronische Fatigue-Syndrom nach COVID 19 ist laut Scheibenbogen und Renz-Polster außer der „mindestens 6 Monate anhaltenden Fatigue eine ausgeprägte Belastungsintoleranz mit Symptomverschlechterung nach alltäglichen Anstrengungen (PEM: ‚post-exertional malaise‘). Die Zunahme der Beschwerden setze meist erst nach mehreren Stunden oder am Folgetag ein, sei mindestens 14 Stunden nach der Belastung noch spürbar und halte oft mehrere Tage (bis Wochen) an. Auslöser könnten körperliche, kognitive wie auch emotionale oder sensorische Belastungen sein. Diese Belastungsintoleranz ist differenzialdiagnostisch wichtig: Sie grenze nach Angaben der beiden Autoren die Myalgische Enzephalomyelitis bzw. das chronische Fatigue-Syndrom gegen die anderen Erkrankungen mit chronischer Fatigue ab.
Ausgeprägte Fatigue und Belastungsintoleranz sind die Kernsymptome der Patienten mit ME/CFS, aber oft nicht die einzigen Symptome. Zur komplexen und variablen Symptomatik von ME/CFS zählen laut den Fatigue-Experten auch:
- Neurokognitive bzw. „enzephalopathische“ Beschwerden: Typisch seien der oft als „brain fog“ bezeichnete Komplex („klebriges“ Denken, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Wortfindungs- und Artikulationsstörungen) sowie die oft starke Reizüberempfindlichkeit (vor allem gegen Licht und Geräusche, aber auch gegen Gerüche und in schweren Fällen gegen Berührungen).
- Schwere Schlafstörungen
- Kopf- und/oder Muskel- bzw. Gelenkschmerzen
- Zeichen einer autonomen Dysfunktion bzw. einer orthostatischen Intoleranz (OI): Tachykardie, Schwindel, Benommenheit, Atemnot bei leichter Belastung, intermittierend kalte Extremitäten mit Minderperfusion der Akren, Mundtrockenheit sowie generalisierte Ödeme. Möglich seien auch ein Reizdarm oder eine Reizblase sowie eine Gastroparese mit Refluxsymptomatik
- Neuroendokrine Störungen mit Appetitstörung oder Gewichtsveränderung
- Typische, aber nicht immer vorhandene Begleiterscheinungen seien außerdem Zeichen der Immundysregulation (Grippegefühl, druckschmerzhafte Halslymphknoten) sowie Rötung der Bindehaut und Verstopfung der Nase.
- Weitere Symptome, die häufig nur bei anstrengungsinduzierter Verschlechterung aufträten, seien emotionale Erschöpfung, Angst, eventuell auch Panikattacken. Als Folge von Unter- oder Fehlversorgung und der schwierigen Lebenssituation könnten sich depressive Reaktionen und Zukunftsängste einstellen. Häufiger berichtet würden auch akrale Parästhesien, Muskelzucken und „restless legs“.
- Sehr schwer Betroffene könnten nur intermittierend sprechen und teilweise auch ihren kalorischen Erhaltungsbedarf nicht mehr decken, so dass sie künstlich ernährt werden müssten.
Viele dauerhafte Verläufe
Bei etwa 40 Prozent der Betroffenen verbessere sich der klinische Zustand im Laufe der Jahre, berichten Scheibenbogen und ihr Kollege. Etwa 60 Prozent der Betroffenen blieben jedoch arbeitsunfähig. Eine komplette Remission sei bei Erwachsenen selten. Die wenigen Daten zur Lebenserwartung weisen nach Angaben der Autoren auf eine Einschränkung hin, insbesondere durch kardiovaskuläre Ereignisse, Krebs und Suizid. Dieser sei besonders in der Betreuung schwer Betroffener eine relevante, in der Praxis jedoch bisher nicht ausreichend berücksichtigte Realität.
Die Therapie: Schonung der eigenen Kräfte und symptomatisch
Wie können die Patienten mit ME/CFS behandelt werden? Wegen der komplexen Pathogenese und der vielen möglichen Ursachen ist die Behandlung schwierig. „Ohne genauen Ansatzpunkt für eine Therapie fischt man letztendlich im Dunkeln“, so der Wiener Neurologe Stingl.
Eine ursächliche, durch Studien auf hohem Evidenzniveau abgesicherte Therapie des ME/CFS sei bisher nicht etabliert, auch mangels angemessener finanzieller Investitionen in die klinische Forschung weltweit, erklären auch Scheibenbogen und Renz-Polster. Im Mittelpunkt des Behandlungskonzepts stehen ihren Empfehlungen zufolge die ausführliche Beratung zum präventiven Selbstmanagement sowie eine symptomorientierte Therapie und psychosoziale Unterstützung. Die Therapie beruhe auf folgenden drei Säulen:
- Vorausschauendes Energiemanagement, auch „pacing“ genannt: Aufgrund der pathologischen Reaktion auf Belastungen werden die Patienten angehalten, mit den eigenen Energieressourcen schonend umzugehen und Überlastung strikt zu vermeiden.
- Stresskontrolle (Coping) und psychosoziale Unterstützung.
- Symptomatische Linderung der begleitenden klinischen Symptome, etwa der begleitenden orthostatischen Intoleranz (OI). Dies bedeutet unter anderen, dass die Patienten bestimmte OI-Auslöser (etwa große Mahlzeiten) meiden und vermehrt trinken sollten. Bei Schlafstörungen könnten Melatonin-Präparate wirksam sein, ebenso Antihistaminika der ersten Generation, Tryptophan sowie Antidepressiva (Doxepin, Trimipramin, Mirtazapin) in niedriger Dosis. Patienten mit starken Schmerzen würden nach den Prinzipien der multimodalen Schmerztherapie behandelt, ein Versuch mit Pregabalin könne sinnvoll sein. Bei depressiver Verstimmung sei eine Psychotherapie essenziell. Ein Therapieversuch mit Antidepressiva könne gerechtfertigt sein.
Darüber hinaus sollte auf die Ernährung geachtet werden. Scheibenbogen und ihr Kollege empfehlen eine proteinreiche Kost, die ausreichend ungesättigte Fettsäuren enthält. Häufig entwickelten die Patienten Nahrungsmittelintoleranzen, bei denen auch eine autonome Regulationsstörung mit Gastroparese eine Rolle spielen könnte. Zu beachte seien eine mögliche Histaminintoleranz oder Zöliakie. Bestehe der Verdacht auf ein begleitendes Mastzellaktivierungssyndrom, sei ein medikamentöser Therapieversuch vertretbar.
Darüber hinaus gebe es mehrere experimentelle Therapien, erklärt Stingl. Die Datenlage sei aber meist noch unzureichend. Am besten sei sie noch für Immunglobuline, die bei bestimmten Betroffenen zum Einsatz kommen könnten. Niedrig dosiertes Naltrexon sei ebenfalls eine Option. Virostatika könnten bei einem Virusinfekt sinnvoll sein.
Am „allerwichtigsten" für die Betroffenen ist laut Stingl allerdings, dass die Betroffenen und ihre Krankheit ernstgenommen werden und im Umfeld eine „unterstützende Akzeptanz“ herrscht. Stress und Belastung über die oft engen körperlichen Grenzen hinaus müssten auf jeden Fall vermieden werden, um einen sogenannten „Crash“ zu verhindern.
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