ESC 2023: Aktuelle Studiendaten sprechen gegen Antikoagulation bei Vorstufe von Vorhofflimmern
- Dr. med. Thomas Kron
- Konferenzberichte
Kernbotschaften
Eine orale Antikoagulation schadet Patienten mit atrialen Hochfrequenzepisoden (AHRE), aber ohne im EKG dokumentiertes Vorhofflimmern, offenbar mehr, als dass sie ihnen nützt. Dies zeigt eine weitere Analyse des Kompetenznetzes Vorhofflimmern e.V. (AFNET). Die Ergebnisse der klinischen Studie NOAH – AFNET 6, aktuell beim Jahreskongress der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) in Amsterdam vorgestellt und im „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht, zeigen: Bei diesen Patienten führt eine orale Antikoagulation erwartungsgemäß zu mehr Blutungen als ein Placebo, verhindert aber keine Schlaganfälle.
Eine seltene Arrhythmie
Atriale Hochfrequenzepisoden sind kurze und seltene Rhythmusstörungen, die durch implantierte Herzschrittmacher, Defibrillatoren oder Ereignisrekorder nachgewiesen werden. Bei 10 bis 30 Prozent aller Patienten mit implantierten Geräten werden AHRE gefunden. AHRE ähneln Vorhofflimmern. AHRE-Patienten haben zwar ein höheres Schlaganfallrisiko als die Allgemeinbevölkerung, aber das Risiko ist geringer als das von Patienten mit Vorhofflimmern. Gleichwohl wird Patienten mit AHRE häufig eine Antikoagulation angeboten, auch ohne im EKG dokumentiertes Vorhofflimmern.
Kontrollierte Studie mit klinischen Endpunkten
Die Wirksamkeit und Sicherheit der Antikoagulation bei Menschen mit AHRE wurde allerdings bisher noch nie geprüft Die NOAH – AFNET 6 (Non-vitamin K antagonist Oral anticoagulants in patients with Atrial High rate episodes) Studie hat deswegen untersucht, ob bei Menschen mit AHRE eine gerinnungshemmende Behandlung Schlaganfälle, kardiovaskuläre Todesfälle und Embolien verhindert. In der internationalen Studie wurde bei Menschen ab 65 Jahren, die AHRE mit einer Dauer von mindestens sechs Minuten und mindestens einen zusätzlichen Schlaganfallrisikofaktor (Herzinsuffizienz, Bluthochdruck, Diabetes, vorheriger Schlaganfall oder transitorische ischämische Attacke, Gefäßerkrankung oder Alter ab 75 Jahre) hatten, der oral applizierte Gerinnungshemmer Edoxaban mit einem Placebo (Scheinmedikament) verglichen. Dies liegt außerhalb der zugelassenen Indikation für Edoxaban.
Zwischen 2016 und 2022 wurden 2536 Patienten in 206 Studienzentren in 18 Europäischen Ländern im Rahmen der NOAH – AFNET 6 Studie untersucht und behandelt. Die Teilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip einer von zwei gleich großen Gruppen zugeordnet, wobei eine Gruppe Gerinnungshemmer erhielt, die andere nicht. Die Teilnehmer der Gerinnungshemmer-Gruppe erhielten Edoxaban in der für die Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern zugelassenen Dosis (60 mg einmal täglich bzw. 30 mg einmal täglich entsprechend den für eine Dosisreduktion bei Vorhofflimmern anerkannten Kriterien). Die Teilenhmer der anderen Gruppe bekamen ein Placebo. Dieses enthielt keinen Wirkstoff bei Patienten, die kein ASS benötigen, oder ASS (100 mg täglich), wenn eine Indikation zur Blutplättchenhemmung bestand. Analysiert wurden die Daten von insgesamt 2536 Patienten im durchschnittlichen Alter von 78 Jahren. 37 Prozent der Teilnehmer waren Frauen. Die Patienten hatten zusätzliche Schlaganfallrisikofaktoren (Median CHA2DS2-VASc score 4,0±1,3) und AHRE mit einer medianen Dauer von 2,8 Stunden. Alle Teilnehmer wurden bis zum Ende der Studie nachbeobachtet.
Vorzeitiges Ende der Studie
Nachdem die erforderliche Zahl von Patienten in die Studie eingeschlossen war, zeigten sich ein Trend zur Unwirksamkeit und erwartete Sicherheitsbedenken, insbesondere Blutungsereignisse, in der Antikoagulationsgruppe. Daraufhin wurde im September 2022 der Entschluss gefasst, die Studie unter kontrollierten Bedingungen vorzeitig zu beenden.
Die wichtigsten Ergebnisse
Die Analyse der vollständigen Daten bestätigt nun: Schlaganfall, systemische Embolie oder kardiovaskulärer Tod trat bei 83 Personen der Antikoagulations-Gruppe und bei 101 Personen der Gruppe ohne Antikoagulation auf (Schlaganfall: 0,9 versus 1,1 Prozent pro Jahr, systemische Embolie: 0,5 versus 1,1 Prozent pro Jahr, kardiovaskulärer Tod: 2,0 versur 2,2 Prozent pro Jahr). Das bedeutet, dass kein Unterschied zwischen beiden Behandlungsgruppen nachweisbar ist (HR 0,81 [0,6;1,08], p=0,15).
Ein schweres Blutungsereignis oder der Tod ereignete sich bei 149 Teilnehmer der Antikoagulations-Gruppe (5,9 Prozent/Jahr) und bei 114 der Gruppe ohne Antikoagulation (4,5 Prozent/Jahr, HR 1,3 [1,02;1,67], p=0,03). Schwere Blutungen traten in der Antikoagulationsgruppe doppelt so häufig auf wie ohne Gerinnungshemmung (2,1 versus 1,0 Prozent pro Jahr).
Der wissenschaftliche Leiter Studie Prof. Paulus Kirchhof vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) kommentiert: „Wie erwartet, führt die Gerinnungshemmung mit Edoxaban zu mehr Blutungen. Die niedrige Schlaganfallquote mit und ohne Gerinnungshemmung war unerwartet. Die Ergebnisse der NOAH – AFNET 6 Studie sprechen klar dafür, Vorhofflimmern zuerst im EKG zu bestätigen, bevor eine blutverdünnende Behandlung eingeleitet wird. Auch Smartwatches können seltene Rhythmusstörungen, die dem Vorhofflimmern ähnlich sind, feststellen. Um beurteilen zu können, ob in diesen Fällen eine Blutverdünnung nötig ist, bedarf es weiterer Studien.“
Prof. Andreas Götte, St. Vincenz-Krankenhaus Paderborn, aus dem Leitungsgremium der NOAH – AFNET 6 Studie sagte abschließend: „Unsere Ergebnisse untermauern Daten aus anderen Studien, die bereits vermuten ließen, dass Gerinnungshemmer bei Patienten mit AHRE möglicherweise weniger wirksam Schlaganfälle verhindern als bisher angenommen. Weitere Forschung ist nötig, um herauszufinden, welche Patienten mit AHRE ein hohes Schlaganfallrisiko haben und wie sie am besten behandelt werden sollten.“
Einschränkungen der Studie
Die Studie weise jedoch einige Einschränkungen auf, sagte Dr. Elena Arbelo (Universität von Barcelona). So sei die statistische Aussagekraft aufgrund der nach unten angepassten Stichprobengröße und der niedriger als erwarteten Schlaganfallraten verringert worden. Darüber hinaus seien die EKGs nur alle sechs Monate durchgeführt worden, was laut Arbelo möglicherweise nicht häufig genug war, um alle Patienten zu erfassen, die während der Studie Vorhofflimmern entwickelten. Daher reichten die Ergebnisse möglicherweise nicht aus, um die Praxisleitlinien zu ändern. In den Vorhofflimmern-Leitlinien der ESC
wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass nicht klar ist, ob AHRE und subklinisches Vorhofflimmern genauso behandelt werden sollten wie klinisches Vorhofflimmern; es wird empfohlen, eine vollständige kardiovaskuläre Untersuchung durchzuführen, die auch ein EKG umfasst, und die Patienten weiterhin auf ein Fortschreiten zu klinischem Vorhofflimmern zu überwachen. Die Autoren der Leitlinie empfehlen: „Der Einsatz einer oralen Antikoagulation kann bei ausgewählten Patienten mit längerer Dauer von AHRE/subklinischem Vorhofflimmern (≥ 24 h) und einem geschätzten hohen individuellen Schlaganfallrisiko unter Berücksichtigung des zu erwartenden klinischen Nettonutzens und der Präferenzen des informierten Patienten in Betracht gezogen werden."
NOAH – AFNET 6 erhielt finanzielle Unterstützung von Daiichi Sankyo Europe und dem Deutschen Zentrum für Herz- Kreislauf-Forschung (DZHK). Sponsor der Wissenschafts-initiierten Studie ist das AFNET.
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