Einmal „Psycho“, immer „Psycho“?


  • Dr. med. Thomas Kron
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Können Menschen mit psychischen Erkrankungen, etwa einer Depression, geheilt werden? Selbstverständlich sei dies möglich, sagt der Kölner Psychiater und Theologe Professor Manfred Lütz. Allerdings scheinen das manche seiner Kollegen nicht für möglich zu halten, kritisiert Lütz in einem aktuellen Kommentar. Denn „die Aufgabe des Heilungsbegriffs durch uns Psychiater stigmatisiert psychisch Kranke“!

Erwartung an Psychiater: mehr als nur Heilung

Neulich sei er in zwei Fernsehtalkrunden als Experte geladen worden und habe schockiert feststellen müssen, dass alle da vorgestellten Patienten von ihren Psychiatern gelernt hätten, unter einer Krankheit zu leiden, die „nicht heilbar“ oder sogar „unheilbar“, aber „gut behandelbar“ sei, erzählt Lütz. Angehörige depressiver Patienten hätten ihn häufig gefragt: Ist das heilbar? Er habe darauf immer ohne Zögern mit „Ja“ geantwortet. Dann hätten die Angehörigen oft nachgefragt: „Heißt das, dass er nie mehr depressiv wird?“ Er habe immer zurückgefragt: „Wenn Sie eine Grippe haben und das Fieber ist vorbei, dann sind sie doch gesund, die Grippe ist geheilt, oder?“ Das bedeute aber nicht, dass man dann im Leben nie mehr eine Grippe bekommen könne. Offenbar erwarten Lütz zufolge viele von Psychiatern nicht bloß Heilung, „sondern so etwas wie das ewige Heil". Das hätten Psychiater aber ebensowenig im Angebot wie andere Ärzte. 

Fahrlässiger Wortgebrauch

Die Aufgabe des Heilungsbegriffs durch Psychiater stigmatisiere psychisch Kranke, betont Lütz weiter! Das Vorurteil laute: Einmal „Psycho“, immer „Psycho“! Und Psychiater bestätigten das, wenn sie nur deswegen, weil manche Patienten im Intervall noch Medikamente oder Psychotherapie benötigten, „den kostbaren Heilungs- begriff ohne Not in den Wind schlagen“. Das sei ein verbaler Rückfall sogar hinter das Wording des 19. Jahrhunderts, das immerhin „Heil- und Pflegeanstalten“ gekannt habe. Auch wenn es hier nur um das Wording gehe, wirksame Entstigmatisierung setze voraus, dass Psychiater sich systematisch „klarmachen, welch verheerende direkte oder indirekte Wirkungen ein fahrlässiger Wortgebrauch hat“, so Lütz weiter. Aus seiner Sicht müsse die Botschaft daher unter anderem lauten:

  • Psychische Krankheiten sind heilbar, aber nicht alle und nicht immer – wie in anderen medizinischen Disziplinen auch. 
  • Antidepressiva und Neuroleptika sind nicht zum ‚Ruhigstellen‘ da, sondern es sind Heilmittel, mit denen man schwere Depressionen und Schizophrenien heilen kann, nicht alle, nicht immer, wie bei anderen Medikamenten auch.

Lancet-Kommission fordert Ende der Stigmatisierung  

Darauf, dass psychisch Kranke noch immer stigmatisiert werden, hat kürzlich auch eine Lancet-Kommission hingewiesen und mehr Anstrengungen gegen die weltweite Stigmatisierung und Diskriminierung dieser Menschen gefordert. Ihren Aufruf haben die Mitglieder der „Lancet Commission on Ending Stigma and Discrimination in Mental Health“ vor wenigen Tagen im Fachmagazin „The Lancet Neurology“ veröffentlicht.

Laut dem neuesten „World Mental Health Report” der WHO habe weltweit etwa jeder achte Mensch eine psychische Erkrankung.Trotz dieser hohen Prävalenz seien Stigmatisierung und Diskriminierung im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit noch immer sehr weit verbreitet, heißt es in einer Mitteilung. Betroffene würden oft sozial ausgegrenzt, was zu Problemen beim Zugang zu medizinischer Versorgung, Herausforderungen im beruflichen Umfeld und einer erhöhten Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Komplikationen führen könne. 

Die Lancet-Kommission (LCS) ist das Ergebnis der Arbeit von über 50 Mitwirkenden aus der ganzen Welt, darunter Professor Dr. Nicolas Rüsch, von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg. „Der ausführliche Bericht der LCS befasst sich mit den Folgen von Stigmatisierung und Diskriminierung ebenso wie mit Interventionen sowie wichtigen Teilaspekten, wie beispielsweise mit der Rolle der Medien und interkulturellen Aspekten“, erklärt Nicolas Rüsch in der Mitteilung. 

Die Kommission fordert, evidenzbasierte Strategien zu implementieren, um die Stigmatisierung und Diskriminierung im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen zu beseitigen. Die wesentliche Strategie, um Vorurteile in der Öffentlichkeit abzubauen, besteht im Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Erfahrung psychischer Erkrankung. Die Empfehlungen der LCS richten sich dabei an einen breiten Querschnitt von Interessengruppen – darunter Regierungen, internationale Organisationen, Schulen, öffentliche und private Arbeitgeber sowie Beschäftigte im Gesundheitswesen und ihre Organisationen. Für jede Gruppe wurden spezifische Empfehlungen festgelegt:

  • Für Regierungen und internationale Organisationen empfiehlt die Kommission, Richtlinien herauszugeben und umzusetzen, die darauf zielen, Stigmatisierung und Diskriminierung zu reduzieren und zu beenden. Insbesondere wird empfohlen, dass alle Länder Maßnahmen ergreifen, um Suizid zu entkriminalisieren und so das mit Suizidalität verbundene Stigma zu verringern.
  • Arbeitgeber sollten evidenzbasierte Maßnahmen ergreifen, um den uneingeschränkten Zugang zu Bildungsmöglichkeiten, Arbeitsbeteiligung und Programmen zur Rückkehr an den Arbeitsplatz für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu fördern. 
  • Gesundheits- und Sozialdienstleister sollten ihren Mitarbeitern obligatorische Schulungen zu den Bedürfnissen und Rechten von psychisch Kranken anbieten. Die Schulungen sollten gemeinsam mit Betroffenen durchgeführt werden. 
  • Lehrpläne in Schulen sollten Unterrichtseinheiten für Schüler zu evidenzbasierten Interventionen enthalten, um das Verständnis psychischer Erkrankungen zu verbessern.
  • Medienorganisationen sollten systematisch stigmatisierende Inhalte von ihren Plattformen entfernen sowie Grundsatzerklärungen und Aktionspläne herausgeben, wie sie die psychische Gesundheit aktiv fördern und konsequent zur Verringerung von Stigmatisierung und Diskriminierung beitragen können.