Eine rüstige alte Dame hört an Ostern Weihnachtslieder und Stimmen
- Dr. med. Thomas Kron
- Patienten-Fall
Kernbotschaften
Klagt ein Patient oder eine Patientin darüber, seit einiger Zeit unerklärliche Geräusche, Stimmen oder Musik zu hören, kann sich eine Untersuchung des Hörorgans lohnen. Daran erinnert die Krankengeschichte einer älteren Dame, die Nadia Bieler und ihre Kollegen der LMU-München schildern.
Die Patientin und ihre Geschichte
Eine 92 Jahre alte Patientin stellte sich wegen seit ca. fünf Monaten anhaltenden, vorwiegend musikalischen Halluzinationen vor. So habe sie seit einem Sturz rund um Ostern vor allem nachts zunehmend Lieder (Weihnachtslieder, zum Teil auch nationalsozialistische Lieder) und Musik gehört und die Polizei rufen müssen, da „die Nachbarn mit der Musik nicht aufhörten“. Außerdem habe die Patientin berichtet, Geräusche (etwa einer Waschmaschine) sowie Stimmen gehört. Die insgesamt rüstig wirkende Frau habe zudem angegeben, seit mehreren Jahren beidseits Hörgeräte zu tragen.
Die Befunde
- Wache und voll orientierte Patientin; Aufmerksamkeit, Konzentration und Mnestik intakt
- Keine Hinweise auf eine wahnhafte Störung, keine inhaltlichen Denkstörungen, keine Ich-Störungen
- Klinisch-neurologisch kein Hinweis auf eine demenzielle Entwicklung (Montreal Cognitive Assessment 27/30 Punkte), kein Hinweis auf eine bradykinetische Gangstörung, Muskeleigenreflexe seitengleich regelrecht auslösbar.
- HNO-ärztliche Spiegeluntersuchung: beide Gehörgänge mit Zerumen verlegt; initial sei die Entfernung nur links gelungen (Trommelfell reizlos); rechts habe sich sich putrides und fötides Sekret entleert.
- Nach topischer Antibiotika-Therapie zwei Tage später Entfernung eines mehr als 3 cm langen Pfrop- fens aus Zerumen und Wolle; ohrmikroskopisch habe sich eine entzündete Radikalhöhle gezeigt. Dabei handelt es sich Nadia Bieler und ihren Kollegen zufolge „um einen bei größeren, chronischen Mittelohrentzündungen durchgeführten Eingriff, bei dem die hintere Gehörgangswand entfernt und zum Mastoid hin eine größere Höhle geschaffen wird“.
- Felsenbein-CT: links unauffällig, rechts Zustand nach Radikalhöhlenanlage und Tympanoplastik
- Audiometrie: erhebliche Schwerhörigkeit, rechts mehr als links
Diagnose und Therapie
Die neu aufgetretenen auditorischen Halluzinationen bei einer zuvor psychisch gesunden 92-jährigen Patientin deuteten laut Bieler und ihren Kollegen auf eine organische Genese hin. Nach Ausschluss weiterer Differenzialdiagnosen (wahnhafter Störung, demenzieller Ent- wicklung, struktureller Hirnläsionen u. a.) und Sichtung aller Befunde sei schließlich die Diagnose eines auditorischen, also nicht klassischen Charles-Bonnet-Syndroms gestellt worden (klassisches Charles-Bonnet-Syndrom: visuelle Halluzinationen bei psychopathologisch unauffälligen Personen ohne zerebrale Läsion mit neu erworbener Visusminderung).
Therapie und Verlauf
Entfernung des Fremdkörpers und Antibiotika-Therapie (rechter Gehörgang), außerdem ein niederpotentes Neuroleptikum (Pipamperon mit 40mg zur Nacht. Bei Entlassung ca. 6 Wochen später habe die Patientin eine deutliche Reduktion der Intensität der auditorischen Halluzinationen angegeben. Sechs Monate nach Entlassung habe eine Nachfrage ergeben, dass beschwerdefrei sei.
Diskussionen
Musikalische Halluzinationen seien ein häufiges Phänomen bei Menschen höheren Alters, erklären die Autoren. Risikofaktoren für ein auditorisches Charles-Bonnet-Syndrom seien weibliches Geschlecht, Schwerhörigkeit, Alter über 60 Jahre und soziale Iso- lation. Soziale Vereinsamung, in diesem Fall exazerbiert durch die Corona-Pandemie, habe im Falle der Patientin möglicherweise die Halluzinationen noch gefördert könne als weiterer Risikofaktor für die Entwicklung von auditorischen Halluzinationen angesehen werden.
Häufig sind auditorische Halluzinationen bei einer psychotischen Störung anzutreffen, wie Nadia Bieler und ihre Kollegen zudem erklären. Weitere differenzialdiagnostische Überlegungen seien unter anderen dissoziative Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, posttraumatische Belastungsstörung oder Störungen organischer Genese, etwa Parkinson- und Lewy-Body-Demenz sowie Hirnläsionen oder auch Presbyakusis. Relativ hoch sei die Inzidenz auditorischer Halluzinationen bei Schwerhörigkeit; in einer Studie mit 829 Probanden habe sie 16 Prozent betragen und mit dem Grad der Schwerhörigkeit korreliert. Für die Therapie gebe es mehrere Optionen; wenn möglich sollte jedoch eine kausale Behandlung erfolgen. In der Gruppe der Hyp- bzw. Presbyakusis-Patienten könnten eine Aufklärung zur Ätiologie der Krankheit, eine Optimierung der Hörgeräteversorgung sowie der Einsatz externer auditorischer Stimuli die Symptome lindern.
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