Kernbotschaften
Gegen Ende des vergangenen Jahres hat ein Ärzteteam der Charité die Krankheitsgeschichte eines Mannes im renommierten Fachmagazin "The Lancet" veröffentlicht, die weltweit für großes Aufsehen und vor allem erhebliche diplomatische Dissonanzen zwischen Deutschland und Russland gesorgt hat. Bei dem Mann handelte es sich um den russischen Putin-Kritiker Alexej Nawalny.
Der Patient und seine Geschichte
Am 20. August 2020 wurde der zuvor gesunde 44-jähriger Mann während eines Inlandfluges in Russland plötzlich verwirrt und begann ungefähr zehn Minuten nach dem Abflug stark zu schwitzen. Er schrie vor Schmerzen, erbrach sich, kollabierte und verlor das Bewusstsein. Nach einer Notlandung wurde er in die toxikologische Abteilung eines örtlichen Krankenhauses in Omsk eingeliefert. Dortige Befunde und Diagnose laut Entlassungsbericht: komatöser Patient mit vermehrtem Speichelfluss, Ateminsuffizienz, Myoklonien, gestörtem Kohlenhydratstoffwechsel und Elektrolytstörungen. Diagnose: metabolische Enzephalopathie.
Weitere Befunde und endgültige Diagnose
Am 22. August 2020 wurde der schwerkranke Patient auf Wunsch seiner Familie nach Berlin geflogen, um in der Charité behandelt zu werden. Etwa 31 Stunden nach Symptombeginn hatte ein Arzt der deutschen Flugambulanz vorübergehend Zugang zu dem Patienten, wie die Autoren berichten.
Befunde des Arztes der Flugambulanz: komatöser und beatmeter Patient, Bradykardie (44 Schläge pro Minute), Unterkühlung (34,4 ° C), weite Pupillen, die nicht auf Licht reagierten, intermittierender Myoklonus unter Sedierung mit Propofol
Befunde bei Ankunft in der Charité (ungefähr 55 Stunden nach Auftreten der Symptome): tief komatöser Patient, Bradykardie (51, anschließend abnehmend auf 33), Hypersalivation, Unterkühlung (33,5 ° C), verstärktes Schwitzen, enge, nicht auf Licht reagierende Pupillen, verminderte Hirnstammreflexe, hyperaktive tiefe Sehnenreflexe und positive Pyramidenzeichen.
Labor-Befunde: im Plasma deutlich verringerte Butyrylcholinesterase-Spiegel (Pseudocholinesterase) und erhöhte Amylase-, Lipase-, hochempfindliche Troponin-T- und Natriumspiegel im Plasma.
Diagnose: ausgeprägte Cholinesterase-Hemmung
Therapie u.a.: Atropin und Obidoxim, worunter sich die Symptome innerhalb von einer Stunde nach Beginn dieser Antidottherapie normalisierten
Tests auf Cholinesterasestatus in einem spezialisierten externen Labor zeigten eine vollständige Hemmung der Acetylcholinesterase in roten Blutkörperchen, wodurch die Exposition gegenüber einem Cholinesterase-Hemmer bestätigt wurde.
Elektrophysiologische Untersuchungen zeigten die spezifische Art der Dysfunktion der neuromuskulären Übertragung, die für die Cholinesterase-Hemmung typisch ist.
Weiterer Verlauf in Kürze
Am 12. Tag begann der Patient spontan zu atmen und konnte am 24. Tag vollständig von der mechanischen Beatmung entwöhnt werden. Am 26. Tag wurde er auf eine reguläre Krankenstation verlegt.
Bei der Entlassung von Nawalny aus der Klinik am Tag 33 zeigte eine neurologische Untersuchung einen verstärkten physiologischen Tremor und hyperaktive tiefe Sehnenreflexe, jedoch weder Pyramidenbahnzeichen noch Hinweise auf eine Polyneuropathie.
Neuropsychologische Tests in der Muttersprache des Patienten ergaben subtile Beeinträchtigungen der Verarbeitungsgeschwindigkeit und der Sprachkompetenz, die drei Wochen später vollständig abgeklungen waren.
Bei der letzten Nachuntersuchung am Tag 55 fanden Berliner Ärzte „eine nahezu vollständige Wiederherstellung der neurologischen, neuropsychologischen und neurophysiologischen Befunde ohne Anzeichen einer Polyneuropathie“.
Diskussion und zusätzliche Informationen
Nach Angaben der Berliner Ärzte war die lebensbedrohliche Erkrankung von Nawalny Folge einer Vergiftung mit einer Nowitschok-Verbindung. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Nervenwirkstoffen (Organophosphorverbindungen), die in den 1980er Jahren in der ehemaligen Sowjetunion entwickelt wurden. In Großbritannien wurden kürzlich fünf Fälle von Nowitschok-Vergiftungen gemeldet, darunter ein tödlicher. Bisher wurden jedoch keine klinischen Details veröffentlicht.
Auch laut Medien-Recherchen wurde Alexej Nawalny in der Nacht vom 19. auf den 20. August mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok vergiftet. Die Tat sei offensichtlich im Rahmen einer seit Jahren laufenden Operation des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB erfolgt, heißt es im Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Neue Recherchedetails weisen laut dem Magazin-Beitrag außerdem darauf hin, "dass die Entscheidung, Nawalny zu vergiften, auf höchster Ebene des russischen Staats gefallen sein dürfte“.
Am 2. September 2020 teilte die Bundesregierung dann auch mit, dass eine durch die Charité veranlasste Untersuchung in einem Labor der Bundeswehr den Nachweis des Nervengiftes Nowitschok erbracht hatte. Dieser Befund wurde von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) bestätigt.
Wie Nawalny weiteren Medien-Berichten zufolge selbst herausgefunden habe, soll der Täter, ein Mitarbeiter des russischen Geheimdienstes, die Unterhose des Putin-Kritikers mit der toxischen Organophosphorverbindung präpariert haben.
Die Identifizierung einer einzelnen Organophosphorverbindung ist, wie die Berliner Autoren erläutern, ein komplexer und zeitaufwändiger Prozess. Tatsächlich sei die Beteiligung einer Nowitschok-Verbindung und ihrer Biotransformationsprodukte in diesem Fall erst einige Tage nach der Diagnose einer Vergiftung mit einem Cholinesterase-Hemmer festgestellt worden; dies habe jedoch keinen Einfluss auf therapeutische Entscheidungen gehabt.
Organophosphor-Nervenwirkstoffe üben den gleichen Wirkmechanismus aus wie Organophosphor-Pestizide (Hemmung der Acetylcholinesterase); das klinische Management basiert weitgehend auf Erfahrungen mit Vergiftungen mit Organophosphor-Pestiziden, die in Südostasien immer noch eine große Gesundheitsbelastung darstellen (über 100 000 Todesfälle pro Jahr).
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