Ein Patient mit Lähmung und ein Kind mit Tonsillitis
- Dr. med.Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Kernbotschaften
Kasuistiken haben in der evidenzbasierten Medizin nicht den selben hohen Stellenwert wie randomisierte und kontrollierte Studien. Aber einen Nutzen können sie dennoch haben. Immerhin hat einer der berühmtesten Ärzte nicht nur viele, sondern auch recht lehrreiche Kasuistiken veröffentlicht. Die Rede ist von Galenus von Pergamon. Der griechische Arzt (129– 215/216 n.Chr. oder 199 n.Chr.) hat, wie der Radiologe Professor Dr. med. Werner Golder (Avignon) berichtet, die umfangreichste medizinische Schriftensammlung der Antike verfasst; von rund 400 Werken seien die Titel bekannt, rund 150 seien erhalten. Das Corpus Galenicum enthalte 358 Fallbeschreibungen; bei 70 von ihnen handele es sich um Kasuistiken von Kindern. Ein paar Kasuistiken des griechischen Arztes hat Werner Golder kürzlich vorgestellt. Die Übersetzungen der ausgewählten Kasuistiken stammen von Golder selbst.
Ein Kind mit Lähmung der Beine und Interkostalmuskeln
In einer Fallgeschichte geht es um einen Patienten mit Lähmung nach einem Sturz. Galen habe großen Wert auf die Differenzialdiagnose zwischen zentralen und peripheren Lähmungen gelegt, erklärt Golder. Die Hoffnung auf eine Spontanheilung habe sich aber nur selten erfüllt.
Hier nun in Auszügen die Krankengeschichte des Patienten:
„Ein Junge, der aus großer Höhe gestürzt und mit dem Rücken auf den Boden geprallt war, konnte am dritten Tag nach dem Unfall nur noch ganz leise sprechen und verlor am vierten Tag die Stimme ganz. Auch die Beine waren gelähmt, die Hände allerdings vollständig intakt. Und auch die Atmung war ganz normal. Da das gesamte Rückenmark kaudal der Halsregion betroffen war, konnte der Thorax nur mit Hilfe des Zwerchfells und der sechs oberen Muskeln bewegt werden, da die entsprechenden Nerven aus dem Halsmark entspringen. Die Nerven für die Interkostalmuskeln, die bekanntlich für die Exspiration verantwortlich sind, waren auch alle betroffen.“
Da „die behandelnden Ärzte mehr oder weniger planlos aktiv werden wollten“, sei er, so Galen, eingeschritten und habe angeordnet, sich nur um die für die funktionellen Ausfälle verantwortliche Region, also das Halsmark zu kümmern. Und tatsächlich habe sich dieser Bereich erholt. Und vom achten Tag an seien bei dem Kind nach und nach sowohl die Stimme als auch die Bewegungsfähigkeit der unteren Extremitäten zurückgekehrt.
Ein prominentes Kind mit Fieber und unregelmäßigem Puls
Bei einem weiteren Patienten, dessen Krankengeschichte der griechische Arzt schildert, handelt es sich um einen recht prominenten Patienten mit einer Mandelentzündung, und zwar um Commodus (31. August 161 bis 31. Dezember 192), den Sohn von Marc Aurel und späteren römischen Kaiser (180 bis 192).
Die Grunderkrankung von Commodus war, wie Golder erklärt, relativ harmlos, die Behandlung einfach und der Verlauf unkompliziert. Die bemerkenswerteste Leistung, die Galen bei der Versorgung des jugendlichen Anwärters auf den Thron des Kaisers erbracht habe, sei der Griff an das Handgelenk gewesen.
Hier diese Fallgeschichte:
„Zur achten Stunde... bekam Commodus hohes Fieber.“ Er, so Galen, habe den Puls getastet und die Verdachtsdiagnose einer Entzündung gestellt. Daraufhin sei er gefragt worden, ob die Entzündung der Mandeln die Puls-Unregelmäßigkeit ausgelöst habe; keine andere Region des Körpers sei nämlich entzündet. Dann habe er dem Kind in den Mund geschaut. Da die Region rau und ziemlich gerötet erschien sei, die Entzündung aber nicht zu einer außergewöhnlichen Schwellung geführt hätte, habe er gefragt, „wer dem Jungen ein Mittel gegeben habe, das zu einer Schrumpfung geführt habe, die stärker ausgeprägt sei, als dem Kind gut tue“.
Wie Galen von dem Kammerdiner Peitholaos erfuhr, sei Commodus mit einer Mischung aus Honig und Rhus eingerieben worden. Er habe dann die Anweisung gegeben, „auf Honigsaft und abgekochte Rosen überzugehen und sich auf diese Mischung zu beschränken, sie aber die Nacht über, dann den ganzen nächsten Tag und auch in der folgenden Nacht jeweils mehrfach anzuwenden“. Am frühen Morgen des dritten Tages sei der Junge nahezu fieberfrei gewesen.
Vor allem praktizierender Arzt und nicht "Theoretiker"
Galen von Pergamon gelte heute vor allem als der einflussreichste Vertreter der medizinischen Lehren der Antike, erklärt die Historikerin Susan Mattern (History Department, University of Georgia, Athens). Galen sei der produktivste griechische Autor der Antike, „und seine Werke bildeten über viele Jahrhunderte die Grundlage der medizinischen Ausbildung im byzantinischen Reich und in Europa“. Galen verstand sich laut Mattern jedoch in erster Linie als praktizierender Arzt und nicht als Anatom, Theoretiker oder Forscher. Er habe viele Jahrzehnte lang - von etwa 162 n. Chr. bis zu seinem Tod Patienten im Römischen Reich und vor allem in der Stadt Rom behandelt; seine Werke geben, wie die Historikerin weiter erklärt, uns heute den unmittelbarsten Einblick in die Art und Weise, wie die Medizin von den am besten ausgebildeten Ärzten der antiken Welt praktiziert wurde.
Galens Patienten: Promis, aber auch Bauern
Zu Galens Patienten hätten einige der mächtigsten Persönlichkeiten des Reiches und ihre Familien gehört. Er habe aber auch auch ganz gewöhnliche Menschen behandelt- nicht nur die Ehefrauen, Kinder und Sklaven der Reichen, sondern auch Bauern auf dem Land Freunde von Freunden und Patienten, die in seine Klinik getragen worden seien.
Die Kasuistiken hätten oft Episoden enthalten, die nach Galens Meinung den Ausbruch der Krankheit erklärt und eine Diagnose ermöglicht hätten - zum Beispiel eine Reise, eine emotionale Störung oder eine Ernährungsumstellung. In einem Fall berichtete der Patient, er habe unreines Wasser getrunken, das ein Diener aus dem örtlichen Brunnen geholt hätte; Galen vermutete, dass der Patient einen Blutegel verschluckt hatte. Ein anderer Patient war überhitzt und dehydriert durch eine Reise, Stress wegen schlechter Nachrichten und einen Streit im Bad und verfiel in ein fast tödliches Fieber.
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