Ein chronisches Leiden: Mängel bei Leichenschau und Todesbescheinigung
- Dr. med. Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Kernbotschaften
Eine Analyse von Münchner Todesbescheinigungen hat in den meisten Fällen die Angabe der korrekten Todesart bei unbekannter Todesursache ergeben; allerdings ist zugleich bei vier Prozent fälschlicherweise eine natürliche Todesart attestiert worden. Dies habe weitreichende, insbesondere strafprozessuale Konsequenzen, erklären Dr. Maike Krause (Charité, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie) und ihre Kollegen, die die Bescheinigungen analysiert haben. Denn bei Angabe einer natürlichen Todesart gebe es keine Benachrichtigung der Ermittlungsbehörden mit dem Ziel, die genauen Todesumstände zu klären. Es bestehe demnach das Risiko einer „Erfassungslücke“ nicht natürlicher Todesfälle. Anders formuliert: Es besteht das Risiko, Tötungsdelikte zu übersehen.
Seit Jahren in der Kritik: die Qualität von Leichenschau und Todesbescheinigung
Die ärztliche Leichenschau ist eine Aufgabe mit weitreichenden Folgen: Sie dient der sicheren Feststellung des Todes, der Aufdeckung möglicher strafbarer Handlungen, gesundheitspolitischen Zwecken und epidemiologischen Fragestellungen. Zudem ist sie die Grundlage der amtlichen Todesursachenstatistik. Trotz der großen Bedeutung wird seit Jahren die Qualität der ärztlichen Leichenschau (LS) und der Todesbescheinigungen (TB) diskutiert und oft als unzureichend kritisiert. So wies zum Beispiel bereits vor über 20 Jahren die Hamburger Journalistin Sabine Rückert in ihrem Buch „Tote haben keine Lobby“ auf das Problem nicht erkannter Morde hin: Höchstens die Hälfte aller Tötungsdelikte, so schätzten Rechtsmediziner, würden erkannt. Gründe dafür seien etwa die unzureichende Qualifikation leichenschauender Mediziner und die viel zu seltenen Obduktionen selbst bei ungeklärter Todesursache.
Auswertung von fast 3300 Todesbescheinigungen
Die Autoren der aktuellen Analyse sind den Fragen nachgegangen, welche Todesart bei einer unbekannten oder ungenau bezeichneten Todesursache durch den Leichenschauer attestiert wurde, und wie häufig bei diesen Fällen eine Obduktion am Institut für Rechtsmedizin (IRM) durchgeführt wurde. Ausgewertet wurden alle TB des 2. Quartals 2013 der Stadt München.
Insgesamt wurden im Studienzeitraum 3228 Todesbescheinigungen (100 %) ge- sichtet. Das Geschlechterverhältnis war fast ausgeglichen; das durchschnittliche Sterbealter lag bei rund 75 Jahren.
- Nach Angaben der Autoren wurde bei 900 Fällen (27,9 %) unter Ia (Kausalkette) bzw. bei 462 Fällen (14,3 %) unter Ic (Kausalkette) eine unbekannte oder ungenau bezeichnete Todesursache attestiert.
- Trotz unbekannter Todesursache wurde zugleich bei vier Prozent der Fälle eine natürliche Todesart bescheinigt.
- Bei 17,9% der Gestorbenen wurde vom Leichenschauer eine Obduktion angestrebt; obduziert wurde jeder 10. Tote.
- Eine Obduktion wurde bei Sterbefällen mit unbekannter Todesursache um ein Vielfaches häufiger durchgeführt
- (Ia: 52,0 % und Ic: 52,1 %) als bei Fällen mit ungenau bezeichneter Todesursache(Ia: 5,2 % und Ic: 7,5 %).
Den Autoren zufolge ergab die Analyse der Münchner Todesbescheinigungen zum Teil gravierende Mängel bei der Dokumentation. Die fehlerhafte gleichzeitige Angabe einer unbekannten Todesursache und einer natürlichen Todesart, selbst bei Vorliegen von Hinweisen für eine nicht natürliche Todesart, sei kein Einzelfall gewesen. Diese Tatsache zeige, dass es sich um ein grundsätzliches Problem zu handeln scheine. Auch sei in diesem Zusammenhang viel zu selten durch den Leichenschauer angegeben worden, dass eine Obduktion angestrebt sei; dies unterstreiche wiederum die Gefahr, dass nicht natürliche Todesfälle als solche nicht erkannt würden. Die Angabe des leichenschauenden Arztes, dass eine Obduktion angestrebt sei, garantierte nicht, dass eine Obduktion des Gestorbenen tatsächlich vorgenommen werde. Bei einer ungeklärten bzw. nicht natürlichen Todesart entscheide das die Staatsanwaltschaft.
Den Autoren zufolge „wären folgende Punkte an dieser Stelle im Besonderen verbesserungswürdig:
- Keine Angabe einer natürlichen Todesart, wenn die Todesursache unbekannt ist und relevante medizinische Informationen zum Toten im Rahmen der Leichenschau nicht eingeholt werden können;
- Stärkung der Rolle der Gesundheitsämter durch ausreichend qualifiziertes Personal für die Plausibilitätsprüfung und Qualitätskontrolle der Todesbescheinigungen und bei begründeten Fällen Verständigung der Ermittlungsbehörden;
- Stärkung des Stellenwertes einer Obduktion bei Sterbefällen mit unklaren Todesursachen.
Münchner Daten zu Altenheimbewohnern liefern ebenfalls Hinweise auf Qualitäts-Mängel
Auf Defizite bei der Leichenschau und der Dokumentation haben insbesondere Rechtsmediziner schon oft hingewiesen. So haben, wie von Univadis berichtet, erst kürzlich Rechtsmediziner alle Todesbescheinigungen der Münchner Altenheimbewohner (Zielkollektiv) ausgewertet und mit den Todesbescheinigungen betagter Menschen verglichen, die nicht in einer stationären Pflegeeinrichtung lebten. Hauptergebnisse der Analyse waren:
- Das durchschnittliche Sterbealter der Alten- und Pflegeheimbewohner betrug 85,8 Jahre. Bei der Mehrheit (69,3 %) handelte es sich um Frauen.
- Das durchschnittliche Sterbealter des Kontrollkollektivs betrug 84,6 Jahre. Das Geschlechterverhältnis war fast ausgeglichen: 6332 Frauen (53,1 %) und 5588 Männer (46,8 %).
- Bei 14792 Gestorbenen wurde in beiden Kollektiven am häufigsten ein natürlicher Tod bescheinigt, allerdings häufiger beim Zielkollektiv als beim Kontrollkollektiv (96,0% versus 85,9 %).
- Niedergelassene Ärzte attestierten bei gestorbenen Altenheimbewohnern am häufigsten eine natürliche Todesart (74,5 %), Krankenhausärzte hingegen eine ungeklärte Todesart (53,7 %). Ärzte des Leichenschaudienstes bescheinigten am häufigsten eine nicht-natürliche Todesart (46,4 %).
- Beim Kontrollkollektiv attestierten Krankenhausärzte am häufigsten eine natürliche Todesart (71,4 %).
- Beim Zielkollektiv wurde eine ungeklärte Todesart in etwa gleich häufig vom Leichenschaudienst und von Krankenhausärzten bescheinigt (48,5 % bzw. 47,8 %).
- Leichenschauende Ärzte strebten im Zielkollektiv bei 133 Gestorbenen (2,8 %) eine Obduktion an, im Kontrollkollektiv hingegen bei 1515 Gestorbenen (12,7 %).
- Tatsächlich obduziert wurden 68 Gestorbene (1,4 %) des Zielkollektives und 734 (6,2 %) des Kontrollkollektives.
- Am häufigsten obduziert wurden bei beiden Kollektiven Gestorbene mit attestierter nicht-natürlicher Todesart, am zweithäufigsten Personen mit ungeklärter Todesart.
Die Studie habe in beiden Kollektiven die erstmalige Beantwortung wichtiger Fragen zu Sterbealter und -orten, Todesart und -ursache sowie zur Obduktions-Häufigkeit, erklärten Privatdozentin Dr. Sabine Gleich und Professor Matthias Graf. So sei unter anderem der Nachweis gelungen, dass die Todesursachen das Zielkollektivs von der amtlichen Todesursachenstatistik abgewichen seien. Zudem hätten sich Hinweise auf eine schlechte Qualität der Leichenschau ergeben: Das habe insbesondere niedergelassene Ärzte betroffen, die bei nahezu allen in ihrer Einrichtung gestorbenen Altenheimbewohnern eine natürliche Todesart bescheinigt und gleichzeitig bei knapp 20 % als unmittelbare Todesursache eine ungenau bezeichnete bzw. ungeklärte angegeben hätten.
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