Ein bemerkenswerter Fortschritt für einen Querschnittgelähmten
- Dr. med.Thomas Kron
- Medizinische Nachrichten
Kernbotschaften
Forschern aus Lausanne ist es mit einer implantierten Gehirn-Rückenmarks-Schnittstelle (Brain-Spine Interface, BSI) gelungen, bei einem 38-jährigen Mann mit inkompletter hoher Querschnittlähmung („Tetra“) die gestörte Kommunikation zwischen „Zentrale“ und „Peripherie“ in Echtzeit wiederherzustellen. Nach Angaben der Forscher hat der Niederländer wieder ein „natürliches“ Gefühl der Kontrolle über die Bewegungen seiner Beine gewonnen. Mit Gehhilfen kann er nun eingeschränkt, aber eigenständig laufen, in ein Auto ein- und aussteigen, Treppen steigen und sogar unebenes Gelände durchqueren. Diese neue Schnittstelle zwischen Gehirn und Rückenmark scheint auch die Genesung zu fördern. Die Ergebnisse des Forscherteams sind im Fachjournal „Nature“ erschienen.
Auf einmal ist alles infrage gestellt
„Eine Querschnittlähmung - mag die Schädigung des Rückenmarks nun durch eine Erkrankung oder durch einen Unfall erfolgen - trifft die leidende Person bis ins Mark. Mit einem Schlag ist alles anders, die persönliche Integrität, das körperliche Wohlbefinden, die Integration in Familie, Beruf und Gesellschaft, sogar die Selbstständigkeit, alles ist infrage gestellt. In dieser Situation sind umfassendes Denken und ganzheitliches Handeln Voraussetzungen für das Wiedererlangen der vollen Teilhabe an unserer Gesellschaft und für die Chancengleichheit von Mitmenschen im Rollstuhl.“ So beschreibt Guido A. Zäch, Gründer und ehemaliger Chefarzt des Schweizer Paraplegiker-Zentrums Nottwil, die meist plötzlich eintretende neue Lebenswirklichkeit von querschnittgelähmten Menschen und zugleich die Ziele der medizinischen Versorgung und Rehabilitation dieser oft jungen Menschen.
Ein uralter Traum und eine Vision
Seit der 1944 von Sir Ludwig Guttmann gegründeten „Spinal Unit“ im Stoke Mandeville Hospital sind in der Akuttherapie und in der Langzeit Versorgung von Patienten mit Querschnittlähmung große Fortschritte gemacht worden, etwa durch die Gründung von Spezialkliniken oder spezialisierten Klinikabteilungen mit Teams aus Orthopäden, Unfall- und Neurochirurgen, Urologen, Physio - und Ergotherapeuten und spezialisierten Pflegekräften. Der uralte Traum, einen komplett Gelähmten, einen Para- oder Tetraplegiker, durch einen medizinischen Eingriff Unabhängigkeit von einem Rollstuhl zu verschaffen, ist aber auch heute noch mehr eine Vision als eine nahende Realität. Weder mit speziellen Wachstumsfaktoren noch mit Stammzellen haben Wissenschaftler bislang Ergebnisse erzielt, die den Patienten einen wirklich relevanten Nutzen in ihrem täglichen Leben gebracht haben.
Aus technischer Sicht eine „Meisterleistung“
Rückenmarkstimulation und Gehirnschnittstellen wurden bereits in der Vergangenheit eingesetzt, aber „sie wurden noch nie auf diese Weise kombiniert", sagt Dr. Keith Tansey, Neurologe am Methodist Rehabilitation Center in Flowood (Mississippi). „Aus der Sicht der Biomedizintechnik ist das eine echte Meisterleistung". Er und andere, darunter auch die Studienautoren, betonen jedoch, dass es sich bei der Studie um einen Proof of Concept mit einem einzigen Teilnehmer handelt. Ob andere Menschen mit Rückenmarksverletzungen die gleichen Ergebnisse erzielen werden, ist noch nicht klar.
Schnell, präzise und in Echtzeit
Der Schlüsselaspekt sei seiner Auffassung nach, dass das Ganze in Echtzeit funktioniere, erklärt Privatdozent Dr. Rainer Abel, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Querschnittsgelähmte am Klinikum Bayreuth, der vom Science Media Center um eine Einordnung gebeten wurde.
Bisher mussten Probanden laut Abel intensiv an irgendetwas denken, beispielsweise an eine bestimmte Farbe, und sich darauf konzentrieren. Dieses Signal in Form eines herausragenden Gedankenereignisses habe der Computer erkannt und daraufhin ein Bewegungsprogramm gestartet. Hier, bei der aktuellen Methode, sei es anders, denn anstelle dieses Umweges werde direkt die Imagination der Bewegung am Motokortex erkannt und in Echtzeit weitergegeben. Das Auslesen der Steuerimpulse aus dem Motorkortex sei offenbar so präzise, dass die Bewegungsimagination tatsächlich zum Ansteuern einzelner Gelenke verwendet werden könne. Die Signalverarbeitung sei ausreichend schnell, so dass sie für die komplexen Bewegungen beim Laufen verwendet werden könne.
Übertragbarkeit auf andere Patienten unklar
Abel weiter: „Es ist erstmal ein großer Fortschritt für diese Technologie. Inwieweit sie auf andere Patienten, zum Beispiel mit kompletter Lähmung, übertragen werden können bleibt abzuwarten. Der hier behandelte Patient ist inkomplett, das heißt, er verfügt zumindest über vorbestehende motorische Fähigkeiten, die genutzt werden können. Außerdem verfügt er vermutlich über ein gewisses Maß an Sensibilität – da das System keinerlei ‚Feedback‘ an das Gehirn geben kann, ist unklar wieweit Stehen und Gehen alltagstauglich ohne diese Rückmeldung erfolgreich ist. Außerdem ist immer noch abzuwarten, ob der Aufwand (Kraft, Vorbereitung, Ausdauer) den Rollstuhl im Alltag überflüssig macht.“
Ein offenbar ganz „besonderer“ Patient
Darüber hinaus komme es auch bei dieser Technik auf die Details an. Es sei beispielsweise schon bei vielen Brain-Computer Interfaces Narben im Elektroden-Bereich gesehen worden, wodurch die Funktionsweise beeinträchtigt werden könnte. Auch brauche es Patientinnen und Patienten, die erst einmal dazu bereit seien sich unter anderem Teile der Schädeldecke mit Implantaten ersetzen zu lassen und eine lange Zeit mit entsprechenden Trainings zuzubringen, auch wenn ein Therapieerfolg nicht garantiert werden könne. Abel: „Es handelt sich in dieser Studie um einen außergewöhnlich disziplinierten und offenbar auch risikobereiten Patienten, der bereit ist, seine Lebensführung zumindest über lange Zeiten einem Trainingsziel (Laufen) unterzuordnen. Außerdem hat er offenbar keine wesentlichen Begleiterkrankungen.“
„Ein voll implantiertes Brain-Spine Interface (BSI), welches Gehirnsignale über direkt auf die Gehirnhaut aufgebrachte Elektroden ableitet, um einen implantierten epiduralen Stimulator zu modulieren, ist in dieser Form neuartig“, erklärt gegenüber dem SMC auch Professor Dr. Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie am Universitätsklinikum Heidelberg.
Bisherige Studien hätten gezeigt, dass durch intensives funktionsorientiertes Training in Kombination mit epiduraler Stimulation des Rückenmarks eine limitierte Gehfähigkeit mit Hilfsmitteln (zum Beispiel Rollator) bei sehr beschränkter Gehstrecke und -geschwindigkeit befördert werden könne. Dabei müssten die Umgebungsbedingungen sehr gut kontrolliert sein, so müsste zum Beispiel die Wegstrecke möglichst eben und barrierefrei sein. Nun solle der nioederlänische Patient durch willentliche Modulierung der spinalen Stimulation über das BSI in der Lage sein, die Beweglichkeit der Beine situationsbezogen individuell anzupassen. Ein Nachteil sei natürlich, dass mit der Implantation eines Elektrodenarrays in die Schädeldecke eine weitere hochinvasive Intervention notwendig sei, so auch Weidner.
Auch in diesem Fall nur ein Patient
Das große Problem dieser wie auch früherer Studien sei, dass die Effekte des Brain-Spine Interfaces an lediglich einem einzigen Patienten gezeigt worden seien, obwohl die Studie laut Studienbeschreibung ursprünglich für zehn Patienten konzipiert gewesen sei. Weidner. „Da die Studie bereits 2016 initiiert wurde, ist es bemerkenswert, dass bisher nur ein Patient das BSI erhalten hat – die Gründe dafür gehen aus der Studie nicht hervor. Noch dazu kommt, dass der beschriebene Patient ‚besonders‘ ist, da er sich zusätzlich zur spinalen epiduralen Stimulation vor Implantation der Gehirnelektroden orthopädischen Eingriffen im Bereich der Beine (Muskelsehnen-Transfer, Sprunggelenkversteifung) unterzogen hat, die ebenfalls zu einer stabileren Geh- und Stehfunktion führen können. Zusammengefasst lässt sich also überhaupt keine verlässliche Aussage treffen, ob und inwieweit die berichteten Effekte hinsichtlich Gehfunktion auf anderen Patienten mit Querschnittlähmung übertragbar sind oder gar Patienten mit anderen neurologischen Erkrankungen.“
In Relation nur geringe Verbesserungen
Betrachte man außerdem die vorab definierten Endpunkte der Studie wie Gehfunktion oder Verbesserung der Muskelkraft, „zeigen sich vergleichsweise geringfügige Verbesserungen im Vergleich zur Situation mit epiduraler Stimulation ohne BSI“. Natürlich sei es, so Weidner, sehr gut vorstellbar, dass weitere gezielte neurorehabiliative Interventionen zumindest zum Teil zu diesen Verbesserungen beigetragen hätten, insbesondere bei einem Patienten mit einer motorisch sehr inkompletten Querschnittslähmung. Allerdings werde beschrieben, dass sich die Gehfunktion nach Abschalten des BSI wieder unmittelbar verschlechtert hätten.
„Neue Ära“: ein gewagte und riskante Aussage
Für „zu gewagt“ hält der Heidelberger Spezialist für Querschnittlähmungen die Aussage der Forscher aus Lausanne, dass von einer „neuen Ära” in der Behandlung von motorischen Defiziten aufgrund neurologischer Erkrankungen” gesprochen werden könne. Diese Aussage könnte falsche Hoffnungen bei Betroffenen wecken. Denn die Effektgröße des zusätzlichen BSI im berichteten Einzelfall sei „überschaubar“. Und der „wesentliche Nachweis der Übertragbarkeit auf andere Patienten lässt weiter auf sich warten.“
So urteilt auch Dr. Winfried Mayr, ehemals Professor am Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik an der Medizinischen Universität Wien: „Bei allem Respekt für die geleistete Arbeit sollte man mit so generellen Versprechen vorsichtig sein. Forschende in diesem Bereich haben eine besondere Verantwortung, die Betroffenen über Fortschritte und Erkenntnisse sachlich zu informieren, nicht aber falsche Hoffnungen zu wecken.“ Sein Fazit. „Neue Ära‘ nein, und schon gar nicht generell für die Behandlung von Bewegungsstörungen unterschiedlichster neurologischer Genese, aber wichtige Erkenntnisse, die zu weiteren Forschungsbemühungen anregen.“
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