Ein älterer multimorbider Mann mit Anämie, kognitiven Schwächen und Halluzinationen

  • Dr. med. Thomas Kron
  • Patienten-Fall
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Kernbotschaften

Ältere Menschen mit Demenz-Symptomen haben zwar oft eine irreversible neurodegenerative und/oder vaskulär bedingte Hirnerkrankung. Aber da es auch reversible Demenz-Erkrankungen gibt, lohnen sich ein genauer Blick und eine sorgfältige Diagnostik, wie die Krankengeschichte eines Mannes zeigt, die US-Ärzte um Dr. Christopher Wong (Donald and Barbara Zucker School of Medicine at Hofstra/Northwell, New Hyde Park, New York) schildern. 

Der Patient und seine Geschichte

Ein 70-jähriger multimorbider Pensionär stellte sich wegen einer subakuten Abnahme der kognitiven Fähigkeiten und Halluzinationen in der Hausarztpraxis vor. Bekannte chronische Erkrankungen waren: Nierenerkrankung im Endstadium, COPD, pAVK, insulinabhängiger Diabetes und Bluthochdruck. Medikation: täglich Pantoprazol wegen einer Gastritis; kein Metformin. Ernährung: weder vegetarisch noch vegan. 

In den sechs Monaten zuvor waren seiner Ehefrau eine Persönlichkeitsveränderung und eine kontinuierliche Abnahme der kognitiven Fähigkeiten aufgefallen. Zudem habe ihr Mann behauptet, Ratten auf dem Fußboden und unbekannte Menschen in der Wohnung gesehen zu haben, schilderte die Ehefrau bei der Anamnese-Erhebung. Vier Wochen davor war der Patient wegen einer Anämie mit Belastungsdyspnoe in ein Krankenhaus eingeliefert worden.

Hier die Ergebnisse der damaligen Laboruntersuchungen:

  • Serumeisen 25 ug/dl
  • Ferritin 670 ng/ml
  • Serum-B12 247pg/ml
  • Homocystein 29,3 umol/l (Referenz <15 umol/l)
  • Methylmaloninsäure 937nmol/l (Referenz 0-378 nmol/l) und Folat von 6,7 ng/ml (Referenz>=4,7 ng/ml).

Weitere Befunde: Keine Hämolyse, in der Kolonendoskopie Nachweis eines nicht blutenden Polypen, Kontrastmittel-CT von Kopf, Brust, Bauch und Becken unauffällig.

Während des Krankenhausaufenthaltes erhielt der Mann 400 mg Eisen, Vitamin B12 und Folsäure. Der Hämoglobinwert bei Entlassung aus der stationären Behandlung betrug 80 g/l. 

Die aktuellen Befunde

  • Blutdruck 160/75 mmHg, Herzfrequenz 81 Schläge pro Minute
  • Sauerstoffsättigung bei bekannter COPD 91 Prozent 
  • Neurologisch wach, nur teilweise orientiert
  • Motorik und Sensibilität unauffällig
  • Unsicherer Gang mit kurzen Schritten
  • Aktuell keine Halluzinationen 
  • Mini-Mental-Status-Test: 25
  • Ergebnis beim Patient Health Questionnaire-2 war 0 (kein Hinweis auf eine schwere Depression)

Weitere serologische Untersuchungen ergaben: 

  • Vitamin B12: 482 pg/ml (Normalbereich: 232–1245 pg/ml)
  • Folate: 6,7 ng/ml (mindestens 4,7  ng/ml)
  • Homocystein: 29,3 umol/l (<15 umol/l)
  • Methylmaloninsäure: 460 nmol/l (0 - 378 nmol/l)

 

Weitere Befunde: unauffälliges EEG, Karotis-Duplexsonografie zeigte beidseitig eine leichte Atherosklerose, die kraniale MRT ergab einen altersgemäßen Volumenverlust und Hinweise auf mikrovaskuläre Erkrankungen.

Die Diagnose lautete: reversible Demenz bei symptomatischer makrozytäre Anämie mit niedrig-normalem Serum-B12-Wert, aber erhöhtem Serum-Methylmalonsäure- und Homocystein-Wert.

Therapie und Verlauf

Während weitere Untersuchungen einschließlich einer Fluordesoxyglucose-Positronen-Emissions-Tomographie (FDG-PET) durchgeführt wurden, um neurodegenerative Ursachen auszuschließen, erhielt der Patient weiterhin Vitamin B12.

Bei der Nachuntersuchung nach einem Monat betrug der MMST 29, Halluzinationen hatte der Mann keine. Laut seiner Frau hatten sich Stimmung und Kognition verbessert. Der Hämoglobin-Wert betrug 113 g/l. Methylmalonsäure und Homocystein blieben bei bestehender Nierenerkrankung im Endstadium (Hämodialyse) mit 580 nmol/l bzw. 25 umol/l erhöht.

Diskussion und weitere Informationen

Laut einem Übersichtsbeitrag von Dr. Robert Haußmann von der Technischen Universität Dresden und seinen Kollegen sind Vitamin B12 und Folsäure elementare, wasserlösliche Vitamine. Vitamin B12 muss  mit der Ernährung zugeführt werden. Besonders hohe Vitamin-B12-Konzentrationen finden sich nach Angaben der Autoren in Fleisch- und Molkereiprodukten und insbesondere in tierischer Leber, Eiern und Muscheln. Folsäure komme in einer Vielzahl tierischer und pflanzlicher Produkte vor, insbesondere in grünem Blattgemüse und ebenfalls in tierischer Leber. 

Homozystein und Methylmalonsäure seien Intermediärmetabolite, die bei Vitamin- B12- bzw. Folsäuremangel akkumulierten. Während die Homozysteinspiegel sowohl beim Folsäure- als auch beim Vitamin-B12-Mangel erhöht seien, stelle ein erhöhter Methylmalonsäurewert eine spezifische, ausschließlich beim Vitamin-B12-Mangel auftretende Veränderung dar, erklären Haußmann und seine Kollegen weiter.

Im Gegensatz zum Vitamin B12 seien die körpereigenen Folsäurespeicher deutlich schneller erschöpfbar, doch trotzdem trete ein Folsäuremangel außerhalb von Entwicklungsländern vergleichsweise selten auf. Der Vitamin-B12-Mangel sei hingegen auch in Deutschland insbesondere bei älteren Menschen sehr häufig.

Die typischen klinischen Manifestationsformen eines Vitamin-B12- oder Folsäuremangels seien hämatologische Veränderungen und verschiedene neuropsychiatrische Symptome. Außer unklaren makrozytären Anämien müssten auch hypersegmentierte neutrophile Granulozyten und Panzytopenien an einen möglichen Vitamin-B12- oder Folsäuremangel denken lassen. Charakteristische neurologische Symptome seien zum Beispiel symmetrische Parästhesien und Taubheitsgefühle im Bereich der Beine, periphere sensorische Defizite (Vibrationsempfinden und Lagesinn), Ataxie, extrapyramidalmotorische Symptome, auffälliger Reflexstatus, Gangstörung sowie eine mögliche Restless-legs-Symptomatik. 

Die psychiatrischen Manifestationsformen inklusive „Vergesslichkeit, Verlangsamungstendenzen und demenzieller Symptome seien mannigfaltig; dazu zählten affektive Störungen, Irritabilität, Schlafstörungen und psychotische Phänomene“. Bei bis zu 40 Prozent der Patienten träten diese Symptome unabhängig von hämatologischen Veränderungen auf.

Eine mögliche Ursache außer einem Resorptionsdefizit ist den Autoren zufolge eine unzureichende Vitamin-B12-Zufuhr, insbesondere bei einer vegetarischen bzw. veganen Ernährung; auch die Einnahme bestimmter Medikamente, beispielsweise Protonenpumpen-Hemmer oder Metformin, könnte mit einem Vitamin-B12-Mangel einhergehen. 

Vitamin-B12-Spiegel von >300 pg/ml seien normal. Bei solchen Werten sei ein Vitamin-B12-Mangel unwahrscheinlich. Bei Werten zwischen 200 und 300 pg/ml, die als grenzwertig zu betrachten seien, und bei Werten <200 pg/ml sei die Bestimmung zusätzlicher Parameter indiziert, um die Diagnose zu bestätigen. Bei der Folsäurebestimmung gälten Werte >4,1 ng/ml als normal, Werte von 2–4 ng/ml als grenzwertig. Bei Patienten mit grenzwertigen Vitamin- B12- und Folsäurewerten sollten die Intermediärmetabolite Methylmalonsäure und Homozystein bestimmt werden. Normale Methylmalonsäure- und Homozysteinkonzentrationen schließen nach Angaben der Autoren einen Vitamin-B12- und Folsäuremangel aus.